Verbrechen und Strafe, Recht und Ordnung

Karl Müchlers „Kriminalgeschichten“ dokumentieren literarisch den Wandel im Rechtsdenken der Spätaufklärung

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spannung und Unterhaltung sind nur zwei Aspekte der Funktions- und Wirkungsweise literarischer Erzählungen von Mord und Totschlag. Auch die Aufdeckung eines Verbrechens, samt der Überführung des Täters durch einen messerscharf kombinierenden Detektiv ist nur eine Möglichkeit, den Plot und die Erzählanlage zu strukturieren. Die nun von Alexander Košenina in einer modernen Ausgabe und mit einem instruktiven Nachwort herausgebrachten, zum ersten Mal 1792 erschienenen Kriminalgeschichten des Juristen und Dichters Karl Müchler beruhen, wie der Untertitel Aus gerichtlichen Akten gezogen verrät, auf historischen Fällen. Diese sind aber nicht nur aktenmäßig dokumentierend und stellen sich damit in die Tradition der narratio facti, sondern wurden auch erzählerisch aufbereitet. Sie verfolgen  das erzieherisch-aufklärerische Interesse, den Leser in anthropologischen und moralischen Fragen am Beispiel von Kriminalfällen zu belehren, zu unterrichten und zu bilden. Obwohl Ermittlungen oder verzwickte Handlungen überhaupt keine Rolle spielen, zeichnet die Erzählungen eine eigentümliche Spannung aus. Hauptsächlich liegt das an der Genauigkeit, mit der en passant historische, territorialgeschichtliche und soziale Kontexte der straffällig gewordenen Menschen und ihres Umfeldes mitgeteilt werden.

Das Interesse von Kriminalerzählungen und Kriminalromanen gilt bei Müchler und seinen für die Geschichte der Kriminalliteratur bedeutenden Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern wie François Gayot de Pitaval, Johann Friedrich Eisenhart, August Gottfried Meißner und Paul Johann Anselm von Feuerbach vor allem dem Zusammenhang von Verbrechen, Moral und Recht. Seit dem späten 18. Jahrhundert werden die Entwicklungen in der Rechtsphilosophie und die Reformprozesse in der Rechts- und Strafpraxis sowohl von zahlreichen Sammlungen „aktenmäßig behandelter“ Fall- und Prozessgeschichten (Newgate Calendar; Pitaval: Causes célèbres et intéressantes) als auch fiktionalen Texten begleitet. Diese basieren meist auch auf historischen Fällen . Friedrich Schiller sah in seinem Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/1792) und der erzählerischen „Leichenöffnung seines Lasters“ die Möglichkeit, den Menschen wenn nicht zu bessern, so doch zu unterrichten. Wie die ungleich berühmtere Erzählung von Schiller zeigen auch Müchlers Geschichten ein zeittypisches Interesse an der Darstellung und Reflexion anthropologischer und psychologischer Voraussetzungen des Täters sowie der sozialen und politischen Umstände, die zur Tat geführt haben. Der Herausgeber spricht in seinem Nachwort zu Recht von Müchlers Interesse an „psychophysischen Wechselwirkungen“.

Bevor die noch heute berühmten Kriminalerzählungen und Detektivgeschichten von Edgar Allan Poe, Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie Mitte beziehungsweise Ende des 19. Jahrhunderts den Markt eroberten und ihre Stellung bis heute – auch noch gegenüber den teils blutrünstigen skandinavischen, teils psychologisch-subtilen Thrillern und Verbrecher-Romanen – behaupten können, gab es das literarische Genre der Verbrechens- und Verbrecherdarstellung schon weit über hundert Jahre. Nimmt man Georg Philipp Harsdörffers Grosser Schau-Platz jaemmerlicher Mord-Geschichte von 1651 noch als Vorstufe dessen, was die Forschung als Kriminalerzählung definiert, hinzu, so blickt die Gattung bereits vor ihrem Siegeszug Ende des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage auf eine ziemlich lange Geschichte. Diese Texte markieren aber schon mit Titeln wie Nachricht von Prediger-Mördern, Räubern und Spitzbuben (1715) Erzählungen von besonderen Rechtshändeln (Eisenhart, 1769–79),Eine Sammlung berühmter und merkwürdiger Kriminalfälle (Pitaval,1734–43) oder Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle (Feuerbach, 1808–11)  und ihrer anthropologischen Ausrichtung texttypologisch ihre Herkunft aus der Tradition der medizinischen Fallerzählungen. Darauf hat vor allem der Bochumer Germanist Carsten Zelle in zahlreichen Publikationen der letzten Jahre hingewiesen. Zudem wird ihre unterhaltend-belehrende Funktion im Sinne der Aufklärung ersichtlich.

Müchlers und Meißners – später vor allem Feuerbachs – Sammlungen dokumentieren auch den Wandel in der Rechtsgeschichte vom „Tat- zum Täterstrafrecht“ (Košenina) mit seinem Interesse an der in der Rechts- und Strafpraxis an Gewicht gewinnenden Diskussion um die Zurechnung der Tat und Zurechenbarkeit des Täters. Dass die von Müchler zusammengetragenen Fälle nur den Akten entnommen, dann aber auch mit einem literarischen Anspruch – zunächst anonym oder in Herausgeberfunktion meist schon in Zeitschriften vorab – publiziert wurden, zeigt die wiederum an Schillers Erzählung erinnernde, bei weitem aber nicht in einem dort zu findenden Maße betriebene Leserlenkung durch Erzählerkommentare oder personales Erzählen. Gleichwohl wird der Verbrecher durchweg als „Unglücklicher“ bezeichnet und auch seine eigene Sicht auf die Geschehnisse wird in Form von erinnerungsartigen Protokollen dem Leser nahegebracht. So wird etwa die Vorspiegelung falscher Tatsachen bei der Anwerbung eines jungen Mannes zum Soldaten, der danach straffällig wird, in der siebten Geschichte nicht ausgespart und als Vorgeschichte einer Tat reflektiert. Auch die Schwermut, religiöse Schwärmerei und psychologische Traumata als Gründe für die Ermordung eines Kindes in der neunten Geschichte werden zum Beispiel angeführt.

Mitunter lesen sich die stets auch am Ende dokumentierten Strafen als Unterweisung in historischer Strafpraxis. Etwa wenn von dreißig Mal Gassenlaufen oder davon die Rede ist, dass ein Täter zuerst von oben herab gerädert und danach mit dem Körper aufs Rad geflochten worden sei, bis der Tod eingetreten ist. Die von der rechtshistorischen Forschung immer wieder herausgestellte Bedeutung des späten 18. Jahrhunderts – das seinerseits auf reformerische Überlegungen von Hugo Grotius und Samuel Pufendorf zurückgreift – als Zeit der Versachlichung und Verfachlichung des Rechtsdenkens und der Rechtspraxis lässt sich an den Kriminalgeschichten Müchlers exemplarisch nachvollziehen. Sie machen zudem die enge Verflechtung und gesuchte Nähe von literarischem und rechtlichem Diskurs zu dieser Zeit deutlich, die mit Dichter-Juristen wie E.T.A. Hoffmann, Adolph Müllner, Ernst Dronke oder Theodor Storm im 19. Jahrhundert seine Fortsetzung gefunden hat.

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Karl Müchler: Kriminalgeschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen.
Mit einem Nachwort und herausgegeben von Alexander Košenina.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.
214 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783865255402

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