Boheme, Avantgarde und Talmi in Berlin und Wien

Der große Stilist Erich Mühsam erinnert sich

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 6. April 1878 in Berlin als Kind jüdischer Eltern geboren, in Lübeck aufgewachsen, vor allem in Berlin und in München ansässig, am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von den Nazis ermordet: Der Publizist, Schriftsteller, Bohemian, Anarchist, politische Aktivist und Antimilitarist Erich Mühsam gehört zu denjenigen Köpfen im deutschsprachigen Raum des früheren 20. Jahrhunderts, denen man auch heute noch gut zuhören kann, gut zuhören sollte. Davon zeugt auch der jetzt vorgelegte schmale, aufwändig ausgestattete Band.

Der enthält die vier Essays Soll man Memoiren schreiben?, Boheme, Berliner Nachlese und Wiener Episode. Sie erscheinen zusammen mit 21 weiteren Essays zwischen September 1927 und April 1929 als Feuilletonserie in der bürgerlichen Vossischen Zeitung. Insgesamt bieten diese 25 Essays ein Panorama des literarischen und kulturellen Lebens in den eineinhalb Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor allem in den im Titel genannten Städten, aber auch in Ascona, Genf und Paris. Obwohl sie von einer mit dem Krieg untergegangenen Welt handeln, sind sie zugleich ein Ausdruck aktueller politisch-gesellschaftlicher Zeitgenossenschaft des ewigen Rebellen Mühsam, haben sie etwas von einem Kassiber.

Während die vier genannten Essays 1931 bei „Offizin Haag-Drugulin“ (Leipzig) als Privatdruck unter dem ironisch auf Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) anspielenden Titel Unpolitische Erinnerungen erscheinen, liegen alle Essays als Buch erst 1949 in einer von Fritz Adolf Hünich bei „Volk und Welt“ besorgten Ausgabe mit dem Titel Namen und Menschen: Unpolitische Erinnerungen vor.

Seitdem sind die Unpolitischen Erinnerungen als Ganzes oder in Teilen, zum Teil auch zusammen mit anderen Texten, in Ost und West vielfach wieder aufgelegt worden, allein seit der Jahrtausendwende sicherlich ein halbes Dutzend Mal. Von daher überraschen der Zeitpunkt und die Zusammenstellung der vorliegenden Ausgabe.

Dennoch ist diese Ausgabe zu begrüßen, kann sie doch dazu beitragen, den in seiner Art wohl einmaligen, weil eminent politischen Caféhausliteraten Erich Mühsam – Inbegriff des Caféhausliteraten war Mühsam in seinen frühen Jahren auch – weiterhin im Gespräch zu halten. In einem Gespräch wünschenswerter Weise, das nicht nur literar- und kulturhistorisch ausgerichtet ist, sondern sich ganz im Sinne Mühsams auch als Beitrag zur (Um-)Gestaltung der Entgleisung drohenden Gegenwart versteht.

Der erste Essay „Soll man Memoiren schreiben?“ ist zum einen von Interesse, weil er auf die Mühsam hier nur mögliche, eingeschränkte Art (medien-)politisch ist, auch wenn der Autor selbst präventiv von „[u]npolitischen Erinnerungen eines politischen Menschen“ spricht und mit weiteren salvierenden Aussagen operiert. Ziemlich unverstellt nämlich weist Mühsam auf die Forderung „Keine (Tages-)Politik!“ der Auftragsseite hin, unter der er die Feuilletonserie schreibt bzw. schreiben darf, und darauf, wie grundsätzlich er sich politisch von den Lesern der „Vossischen Zeitung“ unterschieden weiß.

Diese Feuilletonserie werde nicht „den bewegtesten Teil meiner Erlebnisse“ präsentieren, heißt es, womit Mühsam seinen Gefängnisaufenthalt an drei Orten von April 1919 bis Dezember 1924 und vor allem jene Ereignisse meint, „die mich hineingebracht hatten“, also seine prominente Beteiligung an der Münchner Räterepublik (1919) als Mitglied des Zentralrats. Ihn, den „Agitator, Propagandisten und auf öffentliches Wirken bedachten Menschen“, habe zudem die „Arena des politischen Kampfes […] bisher nicht freigegeben“, um bloß „erzählende[r] Schriftsteller“ zu sein. Und diese „Arena“ werde ihn auch „nie freigeben, solange nicht die Ziele erreicht sind, die nicht die Ziele der Leser dieser Bekenntnisse sind.“  

Zum anderen ist „Soll man Memoiren schreiben?“ von Interesse, weil der Essay eine einleuchtende Antwort auf die als Titel fungierende Frage gibt. Im Unterschied zur Lyrik, die der Rechenschaft vor sich selbst diene, so Mühsam, hätten Memoiren diejenigen „Erlebnisse“ zu versammeln, „die nicht meine Erlebnisse alleine sind, sondern in irgendwelcher Beziehung zur Zeitgeschichte, zur Kultur und zur Kennzeichnung der Gegenwart stehen.“ Memoiren sind für Mühsam also ein Beitrag über und zu diversen gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen.

Zum dritten markiert „Soll man Memoiren schreiben?“ den Lebenspunkt, von dem aus Mühsam die vorliegenden Essays und die anderen in der Feuilletonserie versammelten schreibt. Die letzten 15 zehrenden Lebensjahre, das „Nachlassen der physischen Elastizität“ sowie eine „wachsende Neigung zur Regelmäßigkeit und die Schaffung eines eigenen Hausstandes“ macht er dafür verantwortlich, dass seinem „Lebensritt“ nichts „Zirkusmäßige[s]“ mehr anhafte:   

Ich blicke zurück. Hinter mir liegt das Caféhaus, die Boheme, der ungefegte Ballsaal des sorglosen Lebensspiels. Erinnerung – schöne Erinnerung […], aber keine Sehnsucht nach dem Vergangenen […], von dem der Gegenwart kaum etwas mehr gehört. 

Schließlich wird dem Leser angedeutet, was er von Mühsams Erinnern zu erwarten habe:

Ein paar hübsche Anekdoten werden dabei jedenfalls zutage kommen, ein paar Lichter werden auf die Charakterbilder von Menschen fallen, die ihrer Zeit von ihrem Geiste gaben; ein paar Persönlichkeiten, zu Unrecht vergessen oder verkannt, werden aus dem Schatten gehoben werden.

Vorweggenommen werden kann, dass Mühsam sich auch hier ein Stück weit tarnt, wird doch entschieden mehr geliefert als „hübsche Anekdoten“ und würdigende Porträts. Weil nämlich Mühsam die Boheme neben der „sozialdemokratischen Arbeiterbewegung“ als „einzige ernst zu nehmende Opposition im wilhelminischen Obrigkeitsstaat“ (Rudolf Walther, 2000) versteht, sind seine Erinnerungen an sie auch eine mahnende, in Richtung Kunst- und Gesellschaftskritik zielende Aufforderung an die Gegenwart.

Das macht der Essay „Boheme“ deutlich. In ihm wird im Unterschied zu „Armut und Unstetigkeit“ romantisierenden Vorstellungen à la Murger oder Puccini als Kriterium für die Boheme der „Rebellentrotz der Fronde“ und jener „Freiheitsdrang“ genannt, „der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen inneren Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen.“

Eben diese Boheme gebe es heute allerdings nicht mehr. Sie sei durch - wie gegenwärtig sich das doch liest! - „Meinungsbörse[n]“, „Industriegebiet[e] der Intelligenz“, „Büro[s] für originelle Effekte“ und Cafés als „Brutstätte einer katechisierten“, doch gänzlich unschöpferischen „Radikalität“, kurz: durch Kopisten und „Epigonen“ ersetzt worden. Nur vereinzelt fänden sich noch „wertvolle Überbleibsel der alten Boheme“ wie John Höxter, S. Friedländer-Mynona, Lotte Pritzel, Max Herrmann-Neiße und Else Lasker-Schüler. An andere wie „Peter Hille, Paul Scheerbart, […] Margarete Beutler, Franziska zu Reventlow und viele noch, von deren Freundschaft mein Leben reicher geworden ist“, gelte es zu erinnern.

Von diesen „viele[n] noch“ ist dann im zweiten Teil dieses Essay die Rede, darunter Bekannte und (zu Recherchen animierende) Unbekannte wie Gustav Landauer, Heinrich und Julius Hart (Neue Gemeinschaft), Eduard Wetzel, Woldemar Hafa, Adolf Knoblauch, Otto Albert Schneider, Martin Buber, Magnus Hirschfeld und Siegmund Kalischer. Der Essay endet mit einer Hommage auf Peter Hille.

In dem atmosphärisch dichten, mit ungezählten, meist prominenten Namen aus Literatur, Malerei, Theater und Musik aufwartenden und anekdotenreichen Essay Berliner Nachlese dreht sich alles um die vier legendären „Kulturzentren“ Café des Westens, Café Monopol, Café Savoy und Café Sezession. Vom „Künstlerstammtisch“ zu „Ästhetizismus“ und „Absinthtischen der schwelgenden Unproduktivität“ könnte eine Zusammenfassung für das Café des Westens lauten. Dem werden die drei anderen Cafés als jene Orte im frühen 20. Jahrhundert entgegengestellt, an denen sich die wahren Künstler treffen – bevor sie doch wieder ins Café des Westens zurückkehren. Der Essay schließt mit liebevoll-einfühlsamen Porträts des Dichters Rudolf Johannes Schmied und des „großen Lebenskünstlers Friedrich von Schennies“.

Schließlich der elegante Essay Wiener Episode – Mühsam hielt sich im Jahr 1906 zweimal für jeweils zwei Monate in Wien auf. 

Wien ist eine herrliche Stadt; Wien ist eine Stadt, in der ich es nicht lange aushielte. […] Das ganze Wien kam mir vor wie eine Theaterangelegenheit, die sehr geschmackvolle Darstellung eines putzigen Lebensbildes […].

Dieses Bekenntnis gleich zu Anfang gibt die Tendenz vor, die alles Nachfolgende tönt. Vom Ensemble, Programm und Publikum des Kabaretts Nachtlicht aus, bei dem er beim ersten Aufenthalt engagiert war, kommt Mühsam leichtfüßig auf seine Begegnungen beispielsweise mit Henry Marc, Hannes Ruch, Roda Roda, Hans Adler, Felix Dörmann, Egon Friedell, Alfred Kubin, Alfred Polgar sowie Peter Altenberg und Karl Kraus zu sprechen. Kraus sei „unbestritten die zentrale Figur“ gewesen, gleichwohl überschätzt. Altenberg wiederum sei der Einzige gewesen, der sich Kraus gegenüber „vollständig den eigenen Charakter wahrte.“ Nach dem zweiten Engagement bei dem von Josef Vallé geleiteten Kabarett Simplicissimus im Winter 1906 sei er nicht wieder nach Wien gekommen: „[…] als ich 1925 hin wollte, da durfte ich nicht über die Passauer Grenze. Aber davon reden hieße andere Grenzen überschreiten.“

Etwas ratlos lässt das Nachwort von Gunna Wendt zurück. Wohl berichtet es von Mühsams zahlreichen Tagebuchheften und deren mehrheitlicher Rettung durch die Zenzl gerufene Ehefrau, wohl lässt es sich unter Heranziehung von Praktikern und Theoretikern seitenlang über den prekären Status von Wahrheit und Authentizität in und Sinn und Zweck von (auto-)biographischen Genres aus und zitiert in diesem Zusammenhang auch ausgiebig Mühsam selbst (unvorteilhafter Weise ohne Nennung der jeweiligen Essays aus den Unpolitischen Betrachtungen; die werden pauschal als Quelle angegeben):

Mit keinem Wort aber wird über die mit der Ausgabe verbundenen Überlegungen oder über die Zusammenstellung als solche und deren historisches Zustandekommen Anfang der 1930er Jahre gesprochen, geschweige denn über die anderen zu den Unpolitischen Erinnerungen gehörenden, den unmittelbaren Kontext für die Auswahl abgebenden Essays, geschweige denn über die Umstände, in denen Mühsam in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre lebt und arbeitet und angesichts derer es u.a. zu der Auftragsarbeit für die „Vossische Zeitung“ kommt.

Hätte man nicht zumindest erwarten können, dass hier im Nachwort oder an einer anderen Stelle des Buches wie der Zeittafel mitgeteilt wird, wann genau die präsentierten Essays in der „Vossischen“ veröffentlicht wurden? Diese vierseitige Zeittafel jedenfalls, die den Band beschließt, hält für den hier vor allem belangvollen Zeitraum 1924 bis1933 gerade einmal fünfeinhalb Zeilen vor, zu wenig sicherlich, um interessierten Laien zu mehr als einer allenfalls vagen Orientierung zu verhelfen.

Schlicht an der Sache vorbei geht es schließlich, wenn – siehe Mühsams Überlegungen zur Lyrik und zu Memoiren – dafürgehalten wird, die Unpolitischen Erinnerungen hätten Mühsam zur „Selbstvergewisserung“ gedient.

Titelbild

Erich Mühsam: Soll man Memoiren schreiben? Essays.
Limbus Verlag, Innsbruck 2022.
88 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783990392263

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