Der Schriftsteller und die Demokratie

Ulf Müller schreibt über „Heinrich Manns Wirken als Publizist in der Weimarer Republik“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beginnen wir mit dem, was zu den Selbstverständlichkeiten gehört oder doch gehören sollte: mit der Gestaltung der Fußnoten. Bei ihnen rechnet man mit Klarheit, Transparenz, Stimmigkeit. Diese Erwartung erfüllt Ulf Müller mit seiner Studie über Heinrich Manns „publizistisches Wirken in der Weimarer Republik“ teils nicht, teils unzulänglich. Es mag, um dies zu illustrieren, naheliegen, sich für das Rezeptionskapitel auf Franz Blei zu besinnen. Der Autor greift ein paar Sätze aus einem Beitrag im Tage-Buch auf, mit dem jener Abschnitte aus seinem Buch „Das große Bestiarium der modernen Literatur“ noch einmal verwertet hat. Dies freilich erscheint 1922 und nicht, wie behauptet, 1920. Damals hieß die deutlich kürzere Satire noch „Bestiarium Literaricum“, versehen mit einem altertümelnden Untertitel: „Genaue Beschreibung derer Tiere des literarischen Deutschlands“. An einer anderen Stelle taucht Ludwig Rubiner auf. Als Beleg für dessen Aussage lesen wir in der Anmerkung „Franz Pfemfert“ und dann: „Zitiert nach Harry Pross“. Verwirrender ließe sich ein Sachverhalt nicht verifizieren. Auf die Formel „zit. nach“ trifft man überhaupt recht häufig. Den Historiker Heinrich August Winkler, dessen Werke in jeder halbwegs gut sortierten Bibliothek stehen, auf dem Umweg über Hans-Albert Walter zu bemühen, verrät eine gewisse Portion Nachlässigkeit, möglicherweise Unkenntnis.

Nun gut, könnte man einwenden. Das sind Formalia, die über die Qualität von Müllers Dissertation nichts aussagen. Tatsächlich aber lässt dessen Argumentation manche Fragen offen. In der Sorglosigkeit, die die Belegstruktur offenbart, spiegeln sich Anlage und Durchführung der Arbeit. Deren Schwerpunkt soll sich auf die Weimarer Republik beschränken. Tatsächlich finden sich einige Abschnitte über das Kaiserreich, über Nationalsozialismus, Exil und die Jahrzehnte nach 1945. Das sind nachvollziehbare Entscheidungen. Nur hätte man gern gewusst, ob und, wenn ja, wie sich die Artikel und Essays in den betrachteten Epochen verändert haben. Fraglich erscheint fürderhin, ob Aussagen aus den Dreißigern mit denen aus den Zwanzigern ohne weitere Differenzierung auf ein und derselben Linie präsentiert werden können.

Dass sich Manns Denken über die gesamte Untersuchungszeit hinweg unverändert in denselben gedanklichen Bahnen bewegt haben soll, lässt sich nur schwer nachempfinden. Zur Einordnung und Analyse der Texte hätten daher die spezifischen Kontexte ihrer Entstehung, die vermuteten Adressaten und der jeweils gewählte Ort der Publikation intensiver erforscht und in die Analyse einbezogen werden müssen. Der Autor hat dem offenbar keine oder nur geringe Bedeutung beigemessen. Die rekonstruierten Positionen kommen jedenfalls eigentümlich statisch daher. Heinrich Mann, so lautet die immer gleiche Botschaft, war ein eifriger, durch nichts zu beirrender Verfechter der Demokratie, offenbar kaum berührt von den Wandlungsprozessen und Anfechtungen, dem Auf und Ab der Konjunkturen, die um ihn herum zu beobachten, zu beklagen und zu erleiden waren. Nuancen, Differenzierungen, vor allem triftige Erklärungen fallen auf diese Weise unter den Tisch.

Ulf Müller verfolgt vier Stränge. Zunächst stehen Heinrich Manns Versuche im Vordergrund, über verschiedene Medien und Institutionen Einfluss auf Gesellschaft und Politik zu nehmen. Vorgestellt wird eine breite Palette von Zeitungen und Zeitschriften, Vereinen und Organisationen. Das reicht von der renommierten Literarischen Welt, die allein 33 Prozent seiner Beiträge veröffentlichte, bis zum linksliberalen Berliner Tageblatt, vom sozialdemokratischen Vorwärts bis zur kommunistischen Linkskurve. Berücksichtigt werden selbst Kleinorgane wie der Revolutionär oder das Organ der Friedensbewegung, das von Kurt Hiller herausgegebene Ziel. Dazu gesellten sich öffentliche Auftritte und Lesungen, Vorträge und Initiativen. Aus dergleichen Aktivitäten erwuchs eine Rolle, die mancher Zeitgenosse als Repräsentanz der Republik deuten mochte. Wie dem auch sei: Heinrich Mann war, resümiert der Autor, ein integraler Bestandteil des damaligen „Literaturbetriebs, Sektion liberal-demokratisch links“.

Ergänzt wird dies mit einem Blick auf Vereine und staatliche Einrichtungen, in denen Heinrich Mann aktiv war, so im pazifistischen Bund Neues Vaterland und dessen Nachfolgerin, der Deutschen Liga für Menschenrechte, daneben – und das mag verwundern – in der Deutschen Gesellschaft 1914, in der manch eine Person saß, die seine Sympathie nicht besaß. Im kurzlebigen Münchener Rat geistiger Arbeiter hatte er den Vorsitz inne. Gleiches galt zwischen 1930 und 1933 für die Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste. Vor Auftritten in Kaufhäusern scheute Heinrich Mann ebenso wenig zurück wie vor solchen in honorigen Kulturvereinen. So gastierte er Anfang November 1917 beim Lessingbund in Braunschweig, wo er aus seinem noch unveröffentlichten Roman Der Untertan las, aufmerksam mit Pro und Contra begleitet von der lokalen Presse. Das Organ der Sozialdemokratie, der Volksfreund, glänzte durch Abwesenheit, was auf ein nicht ganz ungetrübtes Verhältnis zwischen dem bürgerlichen Schriftsteller und den Funktionären der organisierten Arbeiterschaft hindeutet. Im Oktober 1921 gab Mann einen Vortrag über Europäisches Denken, ein Plädoyer, die noch vorhandene Aversion gegen eine Verständigung der Völker, nicht zuletzt mit Frankreich, zu überwinden. „Der Geist der wahren Demokratie“, war da zu hören, „kann uns – und vielleicht die Welt – erretten.“

Im zweiten Strang des Buches werden Formen der Rezeption behandelt. Zu Wort kommen Rezensionen, Berichte und persönliche Würdigungen. Angesichts der Gesamtkonstellation in der Republik wundert nicht, dass Bewunderung neben Ablehnung steht, dass elaborierte Aufsätze von hasserfüllten Tiraden begleitet werden. Die Medien, die Müller heranzieht, sind wie zuvor auch in der gesellschaftlichen Mitte, auf der Rechten wie auf der Linken angesiedelt. Während jene sein literarisches Ingenium und seine Denkbewegungen feiern, zumindest akzeptieren, überschütten ihn diese mit Kübeln von Verdächtigung, Ressentiment und Verunglimpfung. Im Lager des völkischen Radikalismus wechseln die Schmähtiraden einander ab, in der großindustriellen Deutschen Allgemeinen Zeitung versteigt sich der Romancier Walter Bloem zu der Behauptung, Heinrich Mann benutze zwar die deutsche Sprache, gehöre tatsächlich aber zu den „undeutsch und widerdeutsch empfindenden“ Leuten. Deren Zeit, ruft er 1932 aus, sei abgelaufen. Er solle sich „nicht länger“ einbilden, noch „für Deutschland zu schreiben.“ Deutsch sei nicht identisch mit Militarismus, erwidert daraufhin der Angegriffene: Der Nationalismus habe „nichts als Elend gebracht.“ Wie tief im Bürgertum die Stimmung gegen den Weimarer Staat verankert ist, demonstriert Rudolf Pechel in der Deutschen Rundschau bereits im Frühjahr 1920, wenn man so will: im Umfeld des Putsches von Wolfgang Kapp und Konsorten. „Wir glauben nicht an den Parlamentarismus“, lautet hier die Parole, „nicht an Demokratie.“ Das seien „Schlagworte von vorgestern.“

Im dritten Abschnitt bündelt der Autor das bis dahin Dargebotene zu einem breit angelegten Resümee, das noch einmal Rede und Widerrede an zahlreichen Beispielen demonstriert. Und über dem letzten, dem vierten Teil steht, gleichsam als Schlussbetrachtung, die Frage nach dem aktuellen Ort Heinrich Manns und die allmähliche Renaissance, die in den siebziger Jahren einsetzte. Und doch, konstatiert der Autor, existiere neben „Zuversicht“ nach wie vor „Skepsis“. Bundespräsident Steinmeier etwa hielt 2021 fest, Heinrich Mann sei „zwar nicht vergessen“, aber gelesen werde er „kaum noch“. Dazu passt, dass Wolfgang Klein, der zum Herausgeberkreis der wissenschaftlich kritischen Ausgabe der Mann‘schen Publizistik gehört, im Heinrich-Mann-Jahrbuch von 2010 konstatierte, das Erscheinen der „ersten beiden Bände“ habe nicht „das mindeste Interesse gefunden“, weder bei Zeitungen noch in Rundfunkanstalten. „Für die kulturelle Öffentlichkeit des heutigen Deutschland“ sei „Heinrich Mann als Intellektueller […] offensichtlich belanglos.“

Ulf Müllers Buch hat den Charakter eines Kompendiums. Dessen Gliederung, befrachtet mit einigen belanglosen Zitaten, mit Exkursen, deren Sinn nicht immer einsichtig ist, und einer Binnenstruktur, die bisweilen der Ordnung entbehrt, leuchtet im Großen und Ganzen jedoch ein. Heinrich Mann war, was keine neue Erkenntnis ist, überzeugter Republikaner und Demokrat, der freilich nicht müde wurde, an den Verhältnissen und den darin tätigen Politikern Kritik zu üben. Was genau er unter Demokratie verstand und wie er sich die Verfassungsordnung vorstellte, bleibt offen. Gewiss, ein gewichtiger Orientierungspunkt war die Revolution von 1848. Darüber jedoch, wie diese in die Epoche nach der Kriegsniederlage hätte transformiert werden können, hätte es näherer Informationen bedurft. Ob die Räte, die in den Monaten der Revolution etabliert worden sind, „Schulen der Demokratie“ waren und zur „geistigen Erneuerung des Volkes“ beigetragen haben, wie Heinrich Mann geglaubt hat, hätte kritischer reflektiert werden müssen. Auch die Vision, wonach Schriftstellern der Vorrang vor Vertretern der politischen Klasse gebühre, wäre auf Praktikabilität und Demokratietauglichkeit zu prüfen. War das, ließe sich erörtern, mehr und anderes als der Traum einer Versöhnung von Macht und Geist? „Der Schriftsteller“ sei „Führer jeder Demokratie“, war 1926 im Aufsatz gegen das drohende Schmutz- und Schundgesetz zu lesen. War das mehr als Selbstüberhebung? Was wäre von einem derart positionierten Publizisten zu erwarten gewesen? Eine funktionierende Demokratie, geleitet von den Postulaten der Vernunft und der Humanität? Die Antwort bleibt im Dunkel, aber eine Diskussion darüber wäre alles andere als überflüssig.

Von zeitloser Qualität ist Heinrich Manns Sicht auf die Schule. Sie müsse, argumentierte er 1927 in einer Rede im ehemals preußischen Herrenhaus, „die Schule des Friedens werden.“ Und weiter: „Der Friedenswille des Volkes muß gleich in der Schule entstehen.“ Den Deutschen der zwanziger Jahre hat es nicht zuletzt daran gefehlt.

Titelbild

Ulf Müller: Der deutschen Republik. Heinrich Manns publizistisches Wirken in der Weimarer Republik. Einflussnahme und Rezeption.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2023.
486 Seiten , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783849818616

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