Von Übermännern und Weiberichen
Detlef Münch gibt Texte der frühen deutschsprachigen Science-Fiction heraus und schreibt über sie
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWie Detlef Münch beklagt, gab es bis vor einigen Jahren keine „thematischen Anthologien von klassischen deutschen Science-Fiction-Erzählungen“. Dass sich das geändert hat, ist ihm selbst zu verdanken, hat er doch gleich eine ganze Reihe solcher Anthologien ins Leben gerufen. Ihre einzelnen Bände versammeln jeweils um das Jahr 1900 entstandene Kurzgeschichten etwa über einen künftigen Weltuntergang, MarsbewohnerInnen oder Schulutopien.
Zudem hat Münch eine von ihm als Handbuch bezeichnete Kurze Geschichte der deutschen Science Fiction Kurzgeschichte 1871–1919 geschrieben, die mit mehr als 900 Einzelnachweisen von deutschsprachigen Science-Fiction-Storys aufwartet, die von 250 verschiedenen AutorInnen geschrieben wurden, bei denen es sich in den allermeisten Fällen um Autoren handelt. Die Funde der bis dato oft unbekannten Kurzgeschichten sind das Ergebnis von „15 Jahren privater Forschungsarbeit“ des auf dem Gebiet der frühen deutschsprachen Science-Fiction sehr belesenen Autors. Bei der Klassifizierung der Texte als Kurzgeschichten hat sich Münch allerdings nicht an den literaturwissenschaftlichen Kategorien der Gattungen Roman, Novelle und Kurzgeschichte orientiert, zu deren Definitionskriterien weniger der Umfang eines Textes, sondern vor allem qualitative Kriterien zählen. Vielmehr versteht Münch alle fiktionalen Prosatexte bis zu einem Umfang von 80 Druckseiten als Kurzgeschichten. Während sich das Jahr 1871 als Beginn des Untersuchungszeitraums aus dem Umstand ergibt, dass damals die erste (nachweisbare) deutschsprachige Science-Fiction-Kurzgeschichte erschien, hat Münch das Jahr 1919 „als Abschluss bewusst gewählt, da hier noch letzte Science-Fiction-Novellen in der beschaulichen Vorkriegsmanier erschienen“.
Münchs Buch ist nicht nur reich illustriert, wobei zumeist die Vorderseiten der Einbände einschlägiger Bücher abgebildet sind, sondern enthält zudem zahlreiche Statistiken und Schaubilder. So erfährt man etwa, dass im Untersuchungszeitraum „23 Autoren mit 27 Texten ca. 45 % der gesamten SF-Kurzprosa geschrieben“ haben, während überhaupt „nur wenige Autoren mehr als eine SF-Novelle publizieren“.
Kernstück des Bandes aber ist seine „Bibliographie mit 907 Einzelnachweisen“. Gerade hier aber muss einige formale Kritik vorgebracht werden, da es sich nicht um eine Bibliografie mit allen Nachweisen der aufgefundenen Primärtexte handelt. Münch hat stattdessen jeweils eine Bibliografie der Primär- und der Sekundärliteratur an das Ende der ersten, chronologisch angeordneten Kapitel gestellt. Diese Aufteilung in mehrere Einzelbibliografien macht ihre Nutzung recht zeitraubend und erschwert es, sich einen schnellen Überblick zu verschaffen. Das wohl größte Manko aber liegt in der Ungenauigkeit vieler Quellenangaben. In Periodika erschienene Primärtexte werden lediglich mit dem jeweiligen Erscheinungsjahr und dem Titel des Periodikums ausgewiesen, also ohne die jeweilige Ausgabe anzugeben und auf welchen Seiten die Kurzgeschichte abgedruckt ist. Um eine dieser vagen Angaben zu finden, muss man neben den jeweiligen Bibliografien zusätzlich den mitten im Buch stehenden Abschnitt „Bibliographische Nachweise“ konsultieren. Alle näheren bibliografischen Informationen müssen die NutzerInnen des Handbuchs dann allerdings selbst recherchieren. Darüber hinaus werden Zitate im Fließtext ebenfalls nicht seitengenau ausgewiesen. Beides erschwert die wissenschaftliche (Recherche-)Arbeit und Quellensuche ungemein.
Neben Illustrationen, Statistiken, Schaubildern, den Bibliografien und den chronologisch angeordneten Abschnitten zu den Primärtexten enthält der Band einige Texte Münchs etwa zum Stand der „Erforschung der deutschen Science Fiction“, zur „frühen Kritik an der SF als ‚Technischem Chiliasmus‛“ oder zur „Schundliteraturkampagne 1910–1916 gegen die SF“, von der insbesondere Friedrich Wilhelm Mader betroffen war. Hervorzuheben ist der Abschnitt zu „frühen Theorien der Science Fiction“, in dem sich Münch insbesondere den einschlägigen Theorien von Kurd Laßwitz widmet, der auf „die oft unberechtigte Kritik an seinen technisch-utopischen Werken“ mit einer „Apologie“ reagierte, in der nicht nur Münch eine „frühe Theorie zur Science Fiction“ des „ersten SF-Theoretikers überhaupt“ sieht.
Dem in der frühen deutschen Science-Fiction virulenten Antifeminismus wendet sich Münch in mehreren Texten kurz zu und merkt an, dass er „immer schärfer wird, je erfolgreicher die Bestrebungen der Frauenbewegung werden“ und „die meisten männlichen Autoren der Zeit“ sich „die Frau der Zukunft“ zumeist „aus recht chauvinistischer Sicht“ als „ideale Partnerin“ fantasierten. Münch hat der Thematik im vorliegenden Band zwar kein eigenes Kapitel gewidmet, doch darf in Kürze mit einem einschlägigen Buch aus seiner Feder gerechnet werden.
Nachlesen lassen sich einige antifeministische Auswüchse der frühen deutschen Science-Fiction bereits in zwei Bänden der eingangs erwähnten Reihe: Die Liebe der Zukunft vor 100 Jahren. 28 utopisch-erotische Novellen und Die Frau der Zukunft vor 100 Jahren. Feministische und antifeministische Utopien von Frauen. Die Themen beider Bände sind dem Herausgeber zufolge thematisch eng miteinander verknüpft. Wohl daher hat er in dem wesentlich umfangreicheren Band über die Liebe auf eine nähere Beschäftigung mit den aufgenommenen Kurzgeschichten verzichtet, die er dann aber in dem Band mit Texten zur Frau der Zukunft für beide Anthologien nachholt.
Die 28 Texte des Bandes über die Liebe sind abgesehen von den letzten dreien chronologisch nach ihrer Erstveröffentlichung angeordnet und wurden von 20 Autoren verfasst, von denen einige mit jeweils zwei Texten und Carl Grunert und Salomo Friedländer mit je dreien vertreten sind.
Entgegen der Ankündigung im Untertitel ist allerdings kaum eine der Geschichten erotisch. Auch handelt es sich nicht wirklich bei jeder der aufgenommenen Geschichten um Science-Fiction. So lassen sich weder Fritz von Brieses Der Liebes-Bazillus (1914) noch Johannes Cottas Kurzgeschichte Die elektrische Ehe (1897) dem Genre zuordnen. Letztere ist offenbar in der Gegenwart des Autors angesiedelt, sie kennt weder damals unbekannte Erfindungen noch enthält sie ein phantastisches Moment oder das, was man in der Science-Fiction-Forschung seit Darco Suvin als Novum bezeichnet. Interessant ist sie dennoch, beschreibt sie doch eine Ehe, die dauerhaft glücklich ist, weil sich zwei Eheleute darauf geeinigt haben, dass es – ganz entgegen der damaligen Rechtslage und den Gepflogenheiten der patriarchalischen Zeit – nur bei beiderseitigem Begehren zum Sex kommt.
Eröffnet wird die Anthologie mit einer „Erzählung aus dem Jahr 2371“ des dem Marburger Neukantianismus nahestehenden Philosophen Kurd Laßwitz. Sie trägt den Titel Oxygen und Aromasia (1871). Ihr folgt die wiederum von Laßwitz verfasste „Erzählung aus dem Jahr 3877“ mit dem Titel Liebe gegen das Weltgesetz (1877). Beide Texte handeln im gleichen Erzähluniversum, doch liegen die Handlungszeiten rund anderthalb Jahrtausende auseinander. Laßwitz’ Science-Fiction ist die anspruchsvollste nicht nur des vorliegenden Bandes, sondern vielleicht überhaupt seiner Zeit. Nur Bertha von Suttners Roman Der Menschheit Hochgedanken (1911) reicht vielleicht an sie heran. Laßwitz’ Storys sprühen geradezu vor originellen Ideen, von Erfindungen wie dem Geruchsklavier bis hin zu neuen „Dichtungsformen“ wie dem Grunzulett, das nicht etwa einfach nur benannt, sondern in seinen stilistischen Eigenheiten erläutert wird. Auch ließ sich der erst 23-jährige Autor neue Wortschöpfungen einfallen. So hat man in der Zukunft „zur Unterscheidung vom Intransitivum ‚riechen‛ das Transitivum ‚räuchen‛ gebildet“ und sagt künftig: „Die Rose riecht, roch, hat gerochen; der Mensch räucht, räuchte, hat geräucht“. Nicht weniger originell ist die gegenüber dem damaligen Namensrecht emanzipatorische Begründung, warum alle Menschen Doppelnamen führen: „Der rechtlichen Gleichstellung der Frauen gemäß behielten die Kinder sowohl den Namen der Mutter als den des Vaters; verheirateten sie sich, so ließen die Töchter den Namen des Vaters, die Söhne den der Mutter und nahmen dafür den des Gemahls hinzu.“
In beiden Geschichten entwirft Laßwitz zudem Geschichts- und Gesellschaftspanoramen. Das trägt dazu bei, dass die Geschichten trotz aller origineller Ideen gelegentlich etwas langatmig geraten, was umso mehr ins Gewicht fällt, als die Panoramen der eigentlichen Handlung – dem dramatischen Liebesgeschehen – zunächst vorangestellt sind und es dann gemeinsam mit den zahlreichen philosophischen und (pseudo-)wissenschaftlichen Ideen des Autors durchdringen. Die zu seiner Zeit gängigen Liebesvorstellungen überwindet Laßwitz bei alldem nicht.
Zu den interessantesten Kurzgeschichten des Bandes zählt Carl Grunerts Die Fern-Ehe aus dem Jahr 1903, die in einer als dystopisch gedachten Zukunft handelt, in der „Ehegatten einander nur geistig angehören dürfen“. Im Reich der Phäaken (1905) von Siegmar Schultze-Galléra erzählt humoristisch von zwei Wissenschaftlern, die eine Annäherung des männlichen an das weibliche Geschlecht, ja sogar eine „Verweiblichung“ der Männer konstatieren. Uneinigkeit herrscht darüber, ob es sich dabei, wie die „Übermänner“ meinen, für die Männer um einen „Rückschritt“ handelt, oder, wie die „Weiberiche“ sagen, um eine „Erhöhung, eine Adelung gewissermaßen“. Zwar nimmt die Geschichte das spätere feministische Witzwort „als Gott den Mann erschuf, übte sie nur“ vorweg, wenn es heißt, „das Weib ist zu zweit geschaffen, da das erste Geschöpf, der Mann, wenig tauglich geraten ist“, doch erweist sie sich letztlich als antifeministisch. Auf weit plumpere Art sind dies auch Fräulein Cocos Werbung (1906) von Ferdinand Gruner und Hans Fleschs Die Revolution der Erotik (1914). Hanns Heinz Ewers Anthropoovaropartus (1906) bietet einer nicht ernstzunehmenden Figur Gelegenheit, darüber zu fantasieren, dass die „Erfindung“ der eierlegenden Frau die Frauen-Frage wie auch alle anderen sozialen Fragen lösen würde. In ihrem sich steigernden Crescendo des Wahnwitzes ist die kleine Story tatsächlich recht lustig.
Paul Scheerbart lässt sich in Die neue Oberwelt der Venushaut (1911) hingegen eine extraterrestrische Variante der Fortpflanzung auf der Venus einfallen, die „ohne jede Spur eines irdischen Dualismus“ auskommt. Literarisch hat die Geschichte zwar nicht viel zu bieten, doch handelt es sich um die wohl innovativste Geschlechter- und Fortpfanzungsfantasie des Bandes und vermutlich auch der deutschsprachigen Science-Fiction der Vorkriegszeit überhaupt. Erst acht Jahre später sollte sie mit Helene Burmaz’ Kurzgeschichte Die Marsbewohner überboten werden. Auch die drei Texte Salomo Friedländers ragen aus der literarischen Ödnis der meisten Kurzgeschichten des Bandes deutlich heraus. Gänzlich uninspiriert sind hingegen Otto Grautoffs Die Automatenfrau (1907) und die viel zu lang geratenenen Geschichten Odorigen und Odorinal (1908) und Das Radium als Ehestifter (1912) von Friedrich Streißler.
Frank Wedekinds von Münch als solches nicht ausgewiesenes Fragment eines unvollendet gebliebenen Romans Mine-Haha (1901) wurde ohne die Rahmenhandlung aufgenommen, in der das Lyrische Ich erklärt, es habe das Manuskript von seiner Verfasserin Helene Engel kurz vor ihrem Suizid mit dem Worten übergeben bekommen, sie habe unlängst sein Frühlings Erwachen gelesen und schon „vor langen Jahren“ selbst „etwas Ähnliches“ geschrieben. Wie Münch zu der Ansicht kommt, Mine-Haha erzähle von einer „utopische Erziehungsanstalt“, „in der Frauen von Geburt an zu staatlichen Prostituierten ausgebildet werden und Promiskuität das oberste Staatsprinzip ist“, hätte einer Erläuterung bedurft.
Die zweite Anthologie Münchs, Die Frau der Zukunft vor 100 Jahren, wurde gegenüber ihrer Erstauflage aus dem Jahr 2007 „vollständig überarbeitet und erweitert“. Das zeigt sich schon im Untertitel, der nicht mehr 5 feministische Utopien aus den Jahren 1899 –1910 ankündigt, sondern feministische und antifeministische Utopien von Frauen 1899–1914. Zu den fünf Primärtexten der ersten Auflage sind drei weitere hinzugekommen. Münch selbst hat für die Neuauflage neben einem Vorwort mit dem Titel Zum feminin-utopischen Geleit den umfangreichen Essay Antizipationen vor 100 Jahren zur Frauenwelt der Zukunft geschrieben. Ebenfalls neu ist ein großer Bildteil, der Die Frau der Zukunft in der Karikatur vor 100 Jahren zeigt.
Im Geleitwort erklärt Münch, dass er „diese 8 feministischen Utopien literarisch auch sogar noch deutlich höherwertig einstufen würde, als die zwar humorvoll-originellen aber literarisch doch deutlich anspruchsloseren SF-Liebeshumoresken ihrer männlichen Kollegen“. Denn während deren „SF-Kurzprosa der damaligen Zeit weitestgehend für die ‚reifere Jugend‛ in sogenannten Knabenbüchern publiziert wurde, sind die Frauenutopien Texte für Erwachsene und haben damit auch eher einen höheren literarischen Anspruch als die Jugenderzählungen“. Vergleicht man die von Männern geschriebenen Texte in Die Liebe in 100 Jahren mit denjenigen ihrer Kolleginnen, so trifft Münchs Urteil zweifellos zu. Ebenso, dass Männer das „utopische Gewand oft und gerne“ nutzten, „um sich teilweise in bitterbösen Satiren über die damaligen Ideen zur Emanzipation und Gleichstellung der Frau lustig zu machen“. Warum Münch als eines der Beispiele hierfür ausgerechnet Helene Judeichs feministischen Zukunftsschwank Neugermanien aus dem Jahr 1903 anführt, bleibt hingegen unerklärlich.
Gegenüber der Erstausgabe neu aufgenommen wurde Zukunftsmusik (1907) von Franziska Wolf. Wie Münch zu Recht konstatiert, „verbindet“ Wolfs „kurze Zukunftsskizze recht unappetitlich Antifeminismus, Rassismus und Eugenik“. Darüber hinaus ist sie ausgesprochen misogyn. Originell ist allerdings, dass die Männer des von Wolf erdachten „Amazonenstaates“ in den „Liebesstreik“ treten. So etwas ist von Lysistrata bis Alyssa Milano in Literatur und Realität ansonsten nur von Frauen bekannt.
Ebenfalls neu aufgenommen wurden Magda Trotts Vor der Gründung des Frauenstaates (1914), der mit Zustimmung der Deutschen Regierung in der Lüneburger Heide angesiedelt wird, und Luise Schulze-Brücks nicht fiktionaler, sondern essayistischer Text Die Frau der Zukunft (1914), in dem sich die Autorin für „das Recht der Frau auf Arbeit und Ausübung des erlernten Berufes“ stark macht, aber zugleich dafür plädiert, dass „die verheiratete Frau vor allem wieder aus der Fabrik, aus der Lohn- und Fronarbeit zur Familie zurückkehrt“.
Tatsächlich ist keineswegs erwiesen, dass alle acht Texte des Bandes von Frauen verfasst wurden. So räumt Münch selbst ein, dass die „weibliche Autorenschaft“ der unter dem Kürzel H.W. veröffentlichten Kurzgeschichte Das Ewig-Weibliche im Jahr 2500 (1908) „nicht belegt“ ist. Im Falle von E. Tanne, die oder der mit Die Frauenwelt auf dem Mars (1910) vertreten ist, und Dora Dyx (Münch vermutet, dass es sich um ein Pseudonym handelt) verhält es sich nicht anders. Der Titel der 1910 erstmals erschienenen Geschichte von Dyx variiert ohne ersichtlichen Grund. Lautet er in der Erstauflage der Frau der Zukunft noch Die Frau und die Liebe (in 100 Jahren), so ist ihr Titel im Inhaltsverzeichnis der Neuauflage von 2018 Die Frau und die Liebe in 100 Jahren, was in der Überschrift wiederum zu Die Frau und die Liebe verkürzt wird.
Über die VerfasserInnen der drei Texte, deren AutorInnenschaft in Frage steht, ist nichts weiter bekannt, als dass sie diese unter den Namen oder Pseudonymen H. W., Dora Dyx und E. Tanne veröffentlicht haben. Somit ist auch unbekannt, welches Geschlecht sie haben. Münch ist jedoch überzeugt davon, aus dem Inhalt von E. Tannes Kurzgeschichte darauf schließen zu können, dass es sich um eine Verfasserin handelt. Anders als noch in der Erstauflage legt er die Gründe für seine Annahme diesmal näher dar und erklärt, es sei „höchst unwahrscheinlich“, dass damals ein Mann über „Menstruationsbeschwerden“ geschrieben haben könnte. Daher sei es „ziemlich sicher“, dass der „radikal-feministische Text mit der weiblichen Ich-Erzählerin von einer Frau geschrieben wurde“. Männer schrieben allerdings schon zu Zeiten von Pythagoras und Aristoteles über die Menstruation. Davon abgesehen lässt sich Tannes Kurzgeschichte tatsächlich weithin differenzfeministisch lesen. Damit aber steht sie nicht dem zeitgenössischen radikalen Flügel der Frauenbewegung nahe, der gleichheitsfeministische Positionen vertrat, sondern – wenn überhaupt – dem gemäßigten um Gertrud Bäumer und Helene Lange.
Von „Menstruationsbeschwerden“, wie Münch schreibt, ist bei Tanne allerdings gar keine Rede, sondern von Frauen, deren Menstruation einsetzt, während sie – an was auch immer – erkrankt sind. Sie werden für die Zeit ihrer Menstruation aus der Gesellschaft ausgeschlossen und aus Sorge um die Gesundheit der Männer und Kinder in eigens dafür bestimmte Häuser verbannt, denn „die menstruierende kranke Frau hat eine für die Gesundheit des Mannes und der Kinder nachteilige Ausstrahlung, besonders wenn sie in einem Schlafzimmer schlafen“. Der Ursprung des Umgangs mit menstruierenden Frauen in E. Tannes Text dürfte mithin im Leviticus, dem dritten Buch Moses, liegen, genauer gesagt in den Absätzen seines 15. Psalms über „Die Unreinheit bei Frauen“, und hier wiederum insbesondere in den Absätzen Lev 15,19 und 15,28, deren Behauptung, eine Frau sei noch sieben Tage nach dem Ende ihrer Periode „unrein“, von den Vorschriften in E. Tannes Kurzgeschichte, dass eine „kranke Frau sich 3 – 4 Tage vor ihrer Menstruation in das Periodenhaus begeben, und dort noch 8 – 10 Tage nach dem Aufhören derselben, verbleiben“ muss, noch überboten werden. Tannes Kurzgeschichte steht hier also in einer uralten Tradition misogyner Vorstellungen, die besagen, Frauen seien während ihrer Periode „unrein“, was doch eher darauf hindeutet, dass sie von einem Mann stammt. Münch selbst sieht in der Verbannung menstruierender Frauen, die (so interpretiert er die Stelle in Tannes Geschichte) am Prämenstruellen Syndrom leiden, „einen auch noch heute durchaus überlegenswerten Vorschlag“.
Nun mag sich hinter dem Namen E. Tanne womöglich tatsächlich eine Frau verbergen, erwiesen ist es allerdings nicht. Fachbücher müssen in solchen Fragen penible Vorsicht walten lassen. VerfasserInnen von Sachbüchern oder HerausgeberInnen von Anthologien mögen da vielleicht glauben, nachlässiger sein zu dürfen und weniger strenge Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit anlegen zu müssen.
Münchs Verdienste um die deutschsprachige Science-Fiction um 1900 sind dennoch nicht gering zu schätzen. Allerdings nicht aufgrund seiner Interpretationen, sondern wegen seiner Nachforschungen zu unbekannten Texten der frühen deutschsprachigen Science-Fiction, von denen er etliche wieder leicht zugänglich gemacht hat. Die von Münch gebotenen Informationen zu Sachverhalten und Fakten sind, soweit vorhanden und abgesehen von dem nie zu vermeidenden Maß an Fehlern, vermutlich korrekt. Der Gebrauchswert seiner Kurzen Geschichte der deutschen Science Fiction Kurzgeschichte ist aufgrund der unzureichenden Nachweise der Zitate und der bibliografischen Angaben allerdings mäßig.
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