Die Überwindung der Spezies
Sayaka Muratas Metaphysik des Modularen
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn einer von vielen Vertretern von Wissenschaft und Kunst wahrgenommenen Phase der Wandlung verbürgt geglaubter demokratischer und freiheitlicher Werte zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht der Mensch zur Disposition. Nicht zuletzt der japanischen Literatur gelingt es in ihren aktuellen Texten, bemerkenswerte mögliche Ausprägungen dieser schönen neuen Welt zu inszenieren. Vielleicht die interessanteste Autorin aus Japan ist derzeit Sayaka Murata. Sie gehört zur 2000er Generation und machte zum ersten Mal im Jahr 2003 auf sich aufmerksam. Mit dem Werk Convenience Laden-Mensch (jap. Konbini ningen), in der deutschen Übersetzung Die Ladenhüterin, schrieb sie sich sozusagen an die Spitze der literarischen Szene ihres Landes. Konbini ningen stellt zudem einen großen publizistischen Erfolg für die zeitgenössische japanische Literatur im Ausland dar, sowohl in Europa als auch auf dem amerikanischen Markt, und festigt Japans Stellung innerhalb des weltliterarischen Projekts.
Ein Arbeitsplatzroman?
Während die Noir-Queen Kirino Natsuo ihren legendären Roman der japanischen Arbeitskultur Ende der 1990er als Fabrikroman oder Fließbandthriller anlegte, der das prekäre Milieu von Billigjobberinnen einer Lunchpaket-Erzeugungsanlage in der trostlosen Suburbia abbildet und eine radikale Exitstrategie vorschlägt, wählt Murata eine kleinere Alltagsbedarf- und Nahrungsmittelversorgungsstation in der Metropole zum Schauplatz, um die Tyrannei der Normalen in der Gesellschaft des Landes darzustellen.
Begonnen hat Protagonistin Keiko Furukura die Konbini-Karriere im Jahr 1998, in dem Kirinos Bentô-Fabrikantinnen ihre Akkordfron verrichteten. Als Studentin im ersten Studienjahr stößt Keiko auf die im Mai eröffnete „Smilemart“-Filiale. Bald übt sie dort einen Job als Ladenhilfe aus. Das ausgeklügelte Regelwerk des Konbini erlöst die junge Frau, die – offenbar aufgrund einer leichteren Form von Autismus –, seit sie Kind war, Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang hat, von ihrer Isolation. Eine strenge Konformität bestimmt das Miteinander der Kollegen im Laden. Der auf die Funktionalität zielende reduzierte Austausch zwischen den Konbini-Angestellten und die ritualisierte Begegnung mit dem Kunden gibt ihr endlich den Rahmen vor, in dem sie sich sicher fühlen kann, das Richtige zu sagen und zu tun. Als Ladenmitarbeiterin tritt ihr eigener Mangel an „Normalität“ kaum zutage. Der Konbini stellt für sie ein Refugium dar, das es ihr weitgehend erspart, die komplexen Zeichen menschlicher Interaktion dechiffrieren zu müssen. Nicht umsonst betont Keiko: „Mein erster Tag im Konbini war mein Geburtstag als normales Mitglied der Gesellschaft“. Vom Studium ist bald keine Rede mehr, die Jahre vergehen. Zum Zeitpunkt der erzählten Ereignisse um Keikos Identitätskrise und ihre temporäre Partnerschaft mit Shiraha, den sie im Konbini kennenlernt, ist sie schon 36 Jahre alt – die Hälfte ihres Lebens hat sie im Dienst des Ladens verbracht.
Entlastung vom Menschsein und Adaption an den CPS-Standard
Die Protagonistin fühlt sich am wohlsten, wenn sie als „Rädchen im Getriebe der Welt“ in den reibungslosen Ablauf des Konbini eingegliedert ist, das heißt wenn sie Teil seiner Maschinerie sein kann, wie es die Regale sind oder der Kaffeeautomat. Eindrucksvoll wird in verschiedenen Szenen beschrieben, wie Keiko danach strebt, eine perfekte Einheit mit dem Konbini zu bilden: Sie ernährt sich von seinen Lebensmitteln und entwickelt ein feines Gespür für die Belange ihrer Kundenversorgungsstation – fast so, als wäre sie ein biologischer Sensor in einem CPS-Kreislauf. Die sogenannten Cyber-physischen Systeme (CPS) verfügen über Intelligenz in Form einer Softwarekomponente, die Daten aktualisieren und sich über ein digitales Netz mit anderen CPS austauschen können. Wichtig ist es beispielsweise für die Heldin, sich jeden Tag über die Wetterverhältnisse zu informieren und entsprechend mit der Positionierung des Warenangebots zu reagieren; der Verkauf der Speisen ist nämlich, wie sie weiß, vor allem temperaturabhängig.
Keiko tritt mit dem Konbini in eine intime Korrespondenz: Sie „hört seine Stimme“. Diese Beziehung erhält die Protagonistin stabil und befreit sie von den Anforderungen, ein „normaler“ Mensch zu sein: Im Laden genügt es völlig, die Kolleginnen zu imitieren – ihre alte, ungenügende „Innenwelt“ hat sie durch die neue Identität ersetzt. Indem die Angestellte also defizitäre menschlich-biologische Anteile zurückdrängt, gelingt es ihr als adaptiertes Biomodul, sich mit der funktionalen Welt in dem „von Licht erfüllten Kasten“ zu synchronisieren.
Normalitätssimulation
Die Annäherung an eine mit sozialen Imperativen verbundene Altersgrenze bedroht Keikos lange glückliche Beziehung zum Konbini. Ihre Umgebung fordert es immer stärker ein, dass sie möglichst bald der Aufgabe als Ehefrau und Mutter gerecht werden soll – ein Gedanke, den sie weit von sich weisen muss; sie ist eine solipsistische Entität, die den Regeln der Humangemeinschaft nicht Folge leisten kann. Kinder bekommen möchte sie auf keinen Fall. Sie gehört nicht zur Gemeinschaft der Mütter, in der es scheinbar eine „Verbindung von Gebärmutter zu Gebärmutter“ gibt.
Der Mittdreißiger Shiraha, der kurzfristig bis zur Entlassung aufgrund von Faulheit mit ihr im Convenience Store tätig war, erfüllt seinerseits die Erwartungen nicht, die man für gewöhnlich an Erwachsene in Japan heranträgt. Zum Zwecke einer Normalitätssimulation nach außen hin nimmt Keiko also das gewöhnungsbedürftige männliche Individuum bei sich in ihrer kleinen Wohnung auf.
Wer die Welt der Autorin Murata kennt, weiß, dass dies nicht zum Happy End führt, wie es der Klappentext der deutschen Ausgabe andeutet. Shiraha zieht sich in die Badewanne des Single Apartments zurück und lässt sich von Keiko durchfüttern. Seine negative Meinung über Frauen und insbesondere über seine Versorgerin bringt der ungepflegte Untermieter unverblümt zum Ausdruck: „Um es ganz deutlich zu sagen: Du bist die unterste Kategorie der untersten Kategorie, deine Gebärmutter altert schon. Weder bist du sexuell anziehend, noch verdienst du so viel wie ein durchschnittlicher Mann, im Gegenteil, du bist nicht einmal eine vollwertige Angestellte, sondern nur Hilfskraft.“ Sein Ziel ist es, einfach nur zu existieren und in Ruhe gelassen zu werden, was die Gesellschaft, seiner Meinung nach, nicht toleriere, denn sie erhebe Anspruch auf Reproduktion. Deshalb lehnt er auch menschliche Sozialisationsformen kategorisch ab, würden sie doch letztlich nach wie vor auf Stammesgesetzen beruhen, die die Geschlechtsorgane des Individuums vereinnahmten, um diese in den Dienst der Gemeinschaft zu zwingen.
Die Überwindung der Spezies und das Glück des Modulmenschen
Beide Figuren, Keiko und Shiraha, sind, so wie Murata sie anlegt, Repräsentanten einer Reproduktionsverweigerung – Keiko, weil sie sich aufgrund ihres Krankheitsbildes nicht mit dem identifiziert, was für gewöhnlich eine Frau ausmacht, Shiraha, weil er auf kulturanthropologisch-theoretisierender Basis seiner Rolle als Mann eine Absage erteilt. Er erweist sich als Radikal-Hikikomori und Anhänger einer parasitären Moratoriumsphilosophie, deren Endpunkt die nihilistische Regression ist. Im Falle Keikos ist er jedoch an die falsche Person geraten – das Männliche bedeutet für sie nichts. Weder benötigt sie Shiraha als biologische Ergänzung zum Zwecke der Kindererzeugung noch als Bestätigung narzisstischer Impulse. Auch zieht sie langfristig kein symbolisches Kapital aus einer Wohngemeinschaft mit ihm. Da sie als Soziopathin keine Emotionen kennt, vermeidet sie die bindungspsychologische Falle. Keiko befreit sich am Ende der Geschichte von dem misogynen Anhängsel, um in ihr Paradies zurückzukehren, aus dem sie für kurze Zeit vertrieben worden war – in den Konbini.
Die Autorin Murata plädiert selbstverständlich nicht dafür, dass die Frau zu einem halben Maschinenwesen mutieren und im Lebensmittelhandel Zuflucht suchen soll, um der Unterjochung durch den Mann und dem japanischen Familiensystem zu entfliehen. Ihr Text beabsichtigt auch keine Heilung wunder Seelen im üblichen tröstlichen iyashi-Modus. Das Glück des modularen Menschen meint hier eine satirische Einlassung zum homo sapiens als solchem, wobei Murata die Tendenz zum solipsistischen Lebensentwurf, die sich in der japanischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert zunehmend bemerkbar macht, kaum zu bedauern scheint. Insofern könnte man ihren Text als philosophische Anmerkung zu zeitgenössischen transhumanistischen Überlegungen verstehen, wenn ihn die subtilen ironischen Untertöne zwischen Mitleid und Akzeptanz des Nirwana nicht als unbedingt lesenswerte Literatur auswiese.
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