Auf dem Weg zu Gott
Die von Stefanie Gerhards neuedierten „Murbacher Hymnen“ stellen ein wesentliches Dokument althochdeutscher Übersetzungs- und Schreibtätigkeit dar
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnter der Betitelung Murbacher Hymnen sind 27 lateinische Hymnen und ihre vollständigen volkssprachlichen Interlinearübersetzungen zusammengefasst, die in einer Sammelhandschrift vom Ende des achten beziehungsweise beginnenden neunten Jahrhunderts im Kloster Murbach zusammengestellt wurden. Nun zeigt sich gerade an einer solchen Interlinearversion, wie zeitabhängig Wertungen sind: Die meisten Menschen, die eine Fremdsprache erlernen, haben sicherlich auch ihre Erfahrungen mit dem Phänomen der Interlinearübersetzung gemacht, indem sie zumindest bei einzelnen Wörtern oder Wendungen einfach über den fremdsprachlichen Text die deutsche Übersetzung geschrieben haben. Was im profanen Schulalltag, noch dazu, wenn es nicht das eigene Textbuch war, tendenziell negativ gesehen und entsprechend sanktioniert wurde, wird hier hingegen – insbesondere wenn das Ereignis rund 1200 Jahre zurückliegt – als wichtiges Dokument kultureller und intellektueller Leistung goutiert. Was wiederum beweist, dass die Welt per se ungerecht ist und sich sehr viel nur im Kontext der Entstehungs- beziehungsweise Wirkzeit betrachten lässt.
Aber Scherz beiseite: Tatsächlich sind Interlinearversionen unvoreingenommen betrachtet höchst trivial, sofern aber keine anderen Texte und Dokumente vorliegen, mehr als aufschlussreich. Und genau das ist eben bei den Murbacher Hymnen der Fall. Texte dieser Art, die am Anfang der volkssprachlichen, das heißt althochdeutschen Überlieferung stehen, sind ein anschaulicher Beleg dafür, wie sich eine traditionell illiterate Gesellschaft respektive Kultur durch Übernahme zunächst christlicher Texte in ein neues, über das Memorieren mündlich tradierter Texte beziehungsweise Inhalte hinausgehendes Medium vortastet. Dieses Medium war zwar – ähnlich wie bei den gegenwärtigen Tendenzen zur Auslagerung von Inhalten in noch weit abstraktere Speicher – sicherlich mit dem zunehmenden Verlust altüberkommener Kulturtechniken verbunden, aber bot dabei den Vorteil einer gewissermaßen unendlichen Erweiterung der Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit.
Die Murbacher Hymnen sind in vier Ausgaben zwischen 1874 und 1963 publiziert worden und bezogen sich auf die sogenannte Handschrift Junius 25. Jedoch bereits einer der Urväter der Germanistik, Jacob Grimm, edierte im Rahmen seiner Sammlung der Fränkischen Kirchenlieder eine wohl auf die sekundäre Variante, Junius 74, zurückgehende Version der Murbacher Hymnen, die damit ihren Platz in der Geschichte der frühen Altgermanistik zugewiesen bekamen. Gleichwohl wurde hier wie auch bei den folgenden Editionen, so Stefanie Gerhards in ihrer Einleitung, auf unterschiedliche Weise in den handschriftlichen Befund eingriffen, sodass die Unmittelbarkeit des Zugangs letztlich durch den editorischen Filter abgeschwächt wurde. In dieses Desiderat stößt die vorliegende Publikation vor, die auf Gerhards‘ Dissertation zu diesem Thema basiert.
Das Buch gliedert sich in drei teils nochmals unterteilte Hauptkapitel: Einleitung, Edition und Stellenkommentar. In der Einleitung werden neben einer Retrospektive auf den Forschungsstand zunächst die Intentionen der Autorin erläutert: „Sie [die vorliegende Ausgabe] will abbilden, was in der Handschrift steht, und nicht das, was man in der Forschung hineininterpretiert hat oder für richtig erachtet hat, wie es hätte sein sollen.“ Damit ist ein wesentliches Anliegen klar formuliert – und nebenbei auch begründet, warum es eben einer neuen Edition bedurfte. Die Grimm’sche Definition und die Einordnung der Murbacher Hymnen in den Kreis der Fränkischen Kirchenlieder werden aufgegriffen, und die Hymnen werden konsequenterweise als Vertreter des Fränkischen Hymnars vorgestellt. Hier hätten, auch wenn die Ableitung von „Hymnus“ natürlich die vorliegende Variante nahelegt, die Hymnen wohl füglich auch als Vertreterinnen bezeichnet werden können. Die literarische Gattung wird beschrieben, die Funktion der Hymnen im Kontext der Horen des Stundengebets – sowie diese selbst – und die Reihenfolge der Einzeltexte im Fränkischen Hymnar werden knapp tabellarisch dargelegt. Die Murbacher Hymnen selbst werden anschließend hinsichtlich ihrer Datierung, der Beschaffenheit des Codex Junius 25 sowie der allgemeinen Überlieferungslage in den Blick genommen. Mit längeren Ausführungen zur althochdeutschen Interlinearversion wird die Einleitung abgeschlossen.
Im Editionsteil werden zunächst die Rahmenbedingungen erläutert; tabellarisch erfolgt dann eine Konkordanz der Murbacher Hymnen im Kontext einschlägiger Editionen und Hymnenausgaben. Den Kern der vorliegenden Publikation bilden der diplomatische Abdruck der Murbacher Hymnen sowie der sich anschließende Lesetext, der anwendungsfreundlich auch eine neuhochdeutsche Übertragung beinhaltet. Hier wird vom Druckbild her der Handschriftencharakter insofern beibehalten, als die Texte übereinander laufen. Dies gilt auch für das Neuhochdeutsche, das seinerseits in einer Art Interlineare (oder vielleicht dann eher ‚Unterlineare‘) unter die lateinischen beziehungsweise althochdeutschen Zeilen gesetzt dargestellt wird. Sicherlich wäre es einfacher gewesen, etwa mit drei Textkorpora zu arbeiten, aber zum einen ist nach einer ersten Irritation das Leseerlebnis gar nicht so unangenehm und zum anderen – das dürfte wohl die Hauptintention gewesen sein – wird somit ein ansonsten im Kontext gerade der altgermanistischen Gepflogenheiten nicht unbedingt häufig anzutreffende Unmittelbarkeit generiert, die den Reiz der Lektüre erhöht.
Ein umfangreicher Stellenkommentar rundet die Edition adäquat ab, hier lassen sich Verweise und Erläuterungen finden, die das analytische Lesen der Hymnen definitiv erleichtern respektive für ein weitergehendes Verständnis notwendig sind. Natürlich fehlt ein ‚Fazit‘, aber was sollte ein solches auch aussagen? Wesentliches wurde in den vorangehenden Abschnitten vorgestellt, und die vorliegende Publikation ist ja keine Meta-Arbeit über die Murbacher Hymnen, sondern eine sorgfältige Edition derselben. Diese Sorgfalt wird anhand der umfangreichen Bibliographie, die auch auf die Errungenschaften des Digitalen zurückgreift, erkennbar und stellt somit ein weiteres Plus dar. Die größte Überraschung aber bildet der Schluss. Hinter dem schlichten Wort „Abbildungen“ im Inhaltsverzeichnis verbirgt sich die Faksimilewiedergabe der kompletten Murbacher Hymnen nach beziehungsweise aus der Handschrift Junius 25. Natürlich leben wir, wie bereits angedeutet, in einer digitalisierten Welt, und so verweist die Autorin auch auf die Fundstelle: die Webseite der Bodleian Library. Dennoch ist dies ein Bonus, der den positiven Eindruck perfekt abrundet.
In einer Zeit, in der auch in der Altgermanistik früheste Texte – wenigstens in der Lehre – nicht mehr den Stellenwert haben wie etwa im neunzehnten oder auch noch lange Zeit im zwanzigsten Jahrhundert, stellen Publikationen wie diese eine positive Alternative zum ‚Mainstream‘ dar. Stefanie Gerhards ist mit Sorgfalt und Akribie vorgegangen, und doch kommt zumindest in meinen Augen nicht der Hauch einer Wahrnehmung von angewandter ‚Erbsenzählerei‘ auf. Hier wird ein wesentlicher Aspekt der Literatur-, Kultur- und auch Kirchengeschichte (wieder) vorgestellt und damit auch eine Blickwendung möglich gemacht. Das allein ist schon positiv hervorzuheben, die Edition besticht durch Stringenz und bietet – etwa hinsichtlich der Gestaltung des Textkonvoluts – viel Reizvolles. Die erwähnten Abbildungen runden das Ganze ab, und da das Buch selbst fest gebunden ist, gut in der Hand liegt sowie auch von der Umschlagsgestaltung her sehr gelungen ist, ist der Verkaufs- oder Erwerbspreis doch gut angelegtes Geld.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg