Vom Landvermessen in Seelenlandschaften

Gerald Murnane erkundet in seinem Roman „Die Ebenen“ mystisch-philosophisches Terrain fernab ausgetretener Pfade

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Suhrkamp Verlag ist 35 Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung mit Die Ebenen erstmals ein Roman des hierzulande weitgehend unbekannten Australiers Gerald Murnane auf Deutsch erschienen. Murnane ist ein Autor, der im englischen Sprachraum einige Anhänger hat, obwohl ihm auch dort der große Durchbruch bislang verwehrt blieb. Zu gönnen wären ihm mehr Leser allemal, denn seine Romane sind schrullig, exzentrisch, philosophisch und unterlaufen konsequent alle Erwartungen, die man so gemeinhin an Romane stellt.

In Die Ebenen reist ein Ich-Erzähler ins Herz Australiens, um einen Film zu drehen, der den bezeichnenden Titel „Das Innere“ tragen soll. Nachdem es ihm in einem absurden Aufnahmeritual gelungen ist, eine Anstellung als Filmemacher bei einem der in den Plains lebenden Grundbesitzern zu ergattern, macht er sich daran, mit den Recherchen für seinen Film zu beginnen. Doch während er seine Tage in der Bibliothek des Herrenhauses zubringt und Bücher über auf den ersten Blick belanglose Themen wälzt, muss er immer deutlicher feststellen, dass ihm sein Vorhaben, einen Film über die „Suche […] nach dem einen Land, das jenseits oder innerhalb dessen hätte liegen können, was er je gesehen hatte“, über „die Ewige Ebene“ nicht gelingen wird.

Oft klingt der Erzählton in Die Ebenen wie eine elegische Meditation, die in mancherlei Hinsicht – auch wenn der Vergleich kaum abgenutzter sein könnte – an Franz Kafka erinnert, später dann, um noch einen weiteren abgenutzten Vergleich zu bemühen, an den argentinischen Autor Jorge Luis Borges.

Kafka kommt einem bei Die Ebenen insofern in den Sinn, als die Figuren einer inneren Romanlogik zu folgen scheinen, die sich dem Leser entzieht, denn was beim Lesen absurd erscheint, könnte für die Figuren kaum natürlicher oder selbstverständlicher sein, beispielsweise die tagelangen Gelage der Grundbesitzer im ersten Kapitel, bei denen immer wieder Bittsteller, unter anderem der Ich-Erzähler, vorsprechen, um dann bei ihnen für eine Anstellung in Lohn zu treten, deren Sinn und Zweck sich dem Leser nicht so recht erschließt. In Die Ebenen akzeptiert der Erzähler irgendwann das eigene Scheitern, die Folgen dieses Scheiterns sind jedoch – anders als so oft bei Kafka – nicht allzu dramatisch oder gar tragisch. Der Erzähler sieht ein, dass ihm seine Lebensaufgabe, einen Film über die Ebenen zu drehen und sie so zu zeigen, wie man sie noch nie gesehen hat, wohl letztlich nicht gelingen wird, denn dazu müsste er ja, nachdem er bereits 20 Jahre als Hausangestellter auf den Ebenen zugebracht hat, anfangen, überhaupt etwas zu drehen. Das Absurde ist bei Murnane weniger vernichtend als vielmehr komisch, und trotz der eloquenten Sprache findet sich in seinem Roman häufig unterschwellig ein trockener Humor. Leider muss man festhalten, dass die deutsche Übersetzung von Rainer G. Schmidt zum Teil sehr gedrechselt geraten ist, so sehr, dass sie einen an manchen Stellen geradezu zu erschlagen droht:

Indes er in Ruhe die Tönungen und Texturen seiner einfach verzierten Ziegel studiert, duldet er, dass die volle Bedeutung des scheinbar in Reichweite seiner Hände und Augen Liegenden jemand anderem zukommt, der seine Finger über die mit Ziegeln bedeckten und von der Nachmittagssonne gewärmten Maueroberflächen gleiten lässt und dessen Empfindungen die Wahrnehmung noch eines weiteren Mannes umfassen, der sich anschickt, ein Zusammentreffen von schwindendem Sonnenlicht und glühenden Farben zu deuten […].

Was im Deutschen ausgesprochen kryptisch anmutet, lautet im zwar durchaus komplexen, allerdings dann doch zugänglicheren Original:

The man calmly studying the tints and textures of his simply decorated tiles allows that the full meaning of what lies seemingly within reach of his hands or within range of his eyes rests with another man who runs his fingers over the surfaces of tiled walls warm from the afternoon sun and whose sensations include an awareness of still another man who comes near to interpreting a conjunction of fading sunlight and glowing colours […].

Der eigentliche Clou der Textpassage lässt sich in der Übersetzung nur schwer ausmachen, dass nämlich durch immer mehr Sinne ein immer komplexerer Eindruck des Wahrgenommenen entsteht. Auch dass ein Mann an einen Mann denkt, der wiederum an einen Mann denkt ist ein für Murnane typisches und häufig vorkommendes Mittel, nämlich das der Schachtelung, das in der Übersetzung nicht so recht deutlich wird und das wiederum an Borges erinnert: Texte, Bücher und gewaltige Folianten in labyrinthartigen Bibliotheken mit Texten über andere Bücher oder philosophischen Spekulationen, das alles findet sich auch bei Murnane.

Im Roman sind die australischen Plains Metapher für alles und nichts, für Seelenlandschaften, die immer fern bleiben, egal aus welcher Richtung man sich ihnen nähert. Murnane geht es nicht um das, „was in nachlässiger Sprache Wirklichkeit heißt und dem vielleicht sogar ein paar Plainsleute zugetraut haben, die Auslöschung aller Möglichkeiten darzustellen.“ Im Gegenteil: Die Ebenen sind Möglichkeiten, mystische, kaum einzufangende Nicht-Orte, Kontemplationsflächen, die in ihrer Wandelbarkeit bei gleichzeitiger Unveränderlichkeit darauf zu verweisen scheinen, dass es so etwas wie einen allgemeingültigen Sinn der Dinge nicht gibt und dass es vielleicht gar nicht erstrebenswert ist, die Welt logisch durchdeklinieren zu wollen. Die Landschaft ist hier immer auch Seelenlandschaft, aber keine, über die das Ich verfügen kann, sondern ein Spiegel mit blinden Stellen. Weil es dem Erzähler nicht gelingt, womöglich gar nicht gelingen kann, sich diese Landschaft zur Gänze anzueignen, muss er notgedrungen mit seinem Filmprojekt scheitern.

Es wimmelt in Die Ebenen nur so vor Verweisen auf (fiktive) Kunst, Literatur, Musik oder Malerei, vor Verweisen auf (ebenfalls fiktive) konkurrierende Denk- und Philosophieschulen, die alle versuchen, dem Wesen der Ebenen auf den Grund zu gehen. Damit ist der Roman vor allem auch ein Kommentar über Kunst und letztlich sich selbst, über ihr Vermögen beziehungsweise ihre Beschränkungen, und er zeigt indirekt auch auf, warum es ihm nicht gelingen will, ein konventioneller Roman zu sein, denn dazu sind „die Ebenen“ viel zu komplex. Was bleibt, ist vorsichtig um einen Kern von Möglichkeiten zu kreisen, in der Ahnung, dass es ein unveränderliches Wesen der Dinge nicht gibt.

Gerald Murnane reizt zu Vergleichen mit großen Namen: Kafka, Borges, Samuel Beckett oder auch Italo Calvino, was zunächst sicherlich abschrecken muss und eher von der Phantasielosigkeit der Rezensenten als von der Genialität Murnanes zeugt. Und doch fallen einem bei Gerald Murnane keine geringeren ein, eben weil Elemente all dieser Autoren in seinem Werk anklingen, ohne dass sein Schreiben epigonal wäre, weil es ihm gelingt, durch all die philosophische und existenzielle Ernsthaftigkeit und Schwere auch immer wieder absurde Komik und trockenen Humor aufblitzen zu lassen. Murnane wurde in der Vergangenheit immer wieder für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht. Es ist also höchste Zeit, dass seine Romane nun endlich auch in Deutschland verfügbar gemacht werden. Mit Die Ebenen ist ein würdiger Anfang getan.

Titelbild

Gerald Murnane: Die Ebenen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
152 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518224991

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