Geistige Bildwelten

In „Grenzbezirke“ entwickelt der australische Autor Gerald Murnane unter der Hand eine ganz persönliche poetische Wahrnehmung

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem australischen Autor Gerald Murnane (geb. 1939) eilt der Ruf eines Exzentrikers voraus. In seinem Buch Grenzbezirke bestätigt er selbst freimütig, dass er, wenn „ich allein an meinem Schreibtisch sitze und insbesondere, wenn ich einen Bericht wie diesen schreibe“, zu einem „Exzentriker oder Sonderling“ werde. „Bericht“ nennt er sein Buch und hilft der Unschlüssigkeit, wie diese Prosa zu bezeichnen sei, auf die Sprünge. Grenzbezirke, im Original 2017 als Border Districts erschienen, ist das zweite Buch von Gerald Murnane auf Deutsch. 2016 erschien in der Übersetzung von Rainer G. Schmidt bereits der Roman Die Ebenen aus dem Jahr 1982.

Wenn Murnane außerhalb von Australien, wo er vielfach ausgezeichnet worden ist, bisher bestenfalls als Geheimtipp gilt, so hat das auch damit zu tun, wie er in Grenzbezirke mehrfach betont, dass er bis heute noch nie die Grenzen seines Staates überschritten habe. Wobei er damit nicht auf die Staatsgrenzen Australiens anspricht, sondern auf jene der Provinz Victoria mit der Hauptstadt Melbourne, wo der Autor geboren wurde.

Der Ruf des Exzentrikers beinhaltet ein irritiertes, zugleich fasziniertes Staunen über ein Buch, das sich landläufigen Kategorien entzieht. Vereinfacht gesagt, lässt sich Grenzbezirke als ein Reigen von Reflexionen und Erinnerungen lesen, die durch eine alltägliche Beobachtung in Gang gesetzt werden: „Vor zwei Monaten, als ich erstmals in dieser Ortschaft kurz vor der Grenze eintraf, beschloss ich, meine Augen zu hüten, und ich könnte mir nicht vorstellen, mit diesem Prosastück fortzufahren, sollte ich nicht erklären, wie ich zu diesem seltsamen Ausdruck kam.“

Nach 220 Seiten erfüllt der Autor schließlich sein Versprechen, doch bis dahin ist es ein gewundener Weg voller eigentümlicher Leitmotive wie schillernde Glasmurmeln und Buntglasfenster, Pferderennen und farbige Jockeyshirts, Pfarrherren und Kirchen sowie weite baumbestandene „Landschaften als Schauspiele“.

Die New Yorker Ausgabe von Border Districts nennt das Buch im Untertitel vielsagend „A Fiction“. Es liest sich denn auch als ein beständiges Hin- und Hertaumeln zwischen lebensgeschichtlichen Bezügen und einem fiktionalen Verwischen, das sich im gern verwendeten Konjunktiv ausdrückt oder in der Anonymisierung von Personen und Orten. Zwar fallen konkrete Namen wie der von Marcel Proust, Thomas Hardy oder des englischen Naturdichters Richard Jeffries, ansonsten hält sich Murnane jedoch lieber an Bezeichnungen wie „diese Ortschaft“, ein „Vorort der Hauptstadt“ oder „die sogenannte Tante“. Es bleibt alles in der Schwebe und erinnert doch verräterisch an die biografischen Fakten, die von Gerald Murnane bekannt sind: der Rückzug aus der Stadt in eine entfernte Ortschaft an der Grenze zur Nachbarprovinz, die religiöse Unterweisung in frühen Jahren, unvergessene Lektüren und Jugenderinnerungen, die er wie in einem Kaleidoskop verwirbelt und immer wieder neue Muster erzeugen lässt.

„Die einzig wahren Biografien findet man in Romanen“, zitiert Murnane den englischen Realisten George Gissing. Die Sentenz ist ebenso ernst zu nehmen wie der Verweis auf Proust, spielt dieser doch auf eine ästhetische und literarische Verwandtschaft an, die über die Suche nach der verlorenen Zeit hinausgeht: „Ich scheine mich zu erinnern, dass Proust geschrieben hat, der Verfasser fiktionaler Werke könne über Gefühle einer fiktionalen Figur so schreiben, dass der Leser sich dieser Figur näher fühlen könne als irgendeiner lebenden Person.“

Es ist verzwickt. Wäre der englische Untertitel Fiction demnach ein Signal dafür, dass der Autor seine autobiografischen Absichten in Fiktion kleidet, um sie dem Leser gegenüber wahrhaftig erscheinen zu lassen? Auf jeden Fall ist nicht zu verleugnen, dass diese zuweilen umstandskrämerisch berichtende, dann wieder glasklar beobachtende Prosa seltsame Eindrücke hinterlässt. Warum sollte man Grenzbezirke lesen, mag sich der Leser während der Lektüre immer wieder fragen – um sich doch gleich selbst zur Antwort zu geben: Ja, man sollte es tun.

Der Erzähler sagt von sich, dass er keinerlei moderne Kommunikationstechnologien besitze, also weder Fernseher noch Computer. Er lese Zeitung – und natürlich Bücher. Er bekräftigt auch immer wieder, dass er Bücher oder Notizen schnell weggebe oder wegwerfe, weil er sich das Wesentliche in Erinnerung behalten werde, um es – wie das Zitat oben andeutet – dem Anschein nach wieder abzurufen. Seit seiner Jugend empfinde er eine Faszination für Musiker oder Autoren, schreibt Murnane, „die isoliert von ihresgleichen lebten, fernab der vermeintlichen Zentren der Kultur“ – vielleicht so wie er selbst. Denn seit seiner Jugend habe er Belege dafür gesucht, „dass der Geist ein Ort ist, auf den man von Grenzgebieten aus den besten Blick hat“. In der Abgeschiedenheit von Goroke, wo er lebt, sucht Murnane seinen ganz persönlichen „geistigen Blickpunkt“ auf die Welt, baut er eine „geistige Bildwelt“ auf, die sich darin ausdrückt, dass für ihn „ein Geisteszustand ohne Bezug auf Bilder unbegreiflich“ ist. Abstraktionen sind ihm gänzlich fremd.

Diese Eindrücke begleiten einen durch das ganze Buch hindurch, über seltsame Erinnerungen hinweg, über zahlreiche Lektüren hinaus. Bei einer solchen, vermutlich der Transsilvanien-Trilogie von Miklos Banffy, habe er einmal innegehalten, schreibt Murnane, „um zu beobachten, was in meiner Vorstellung stattfand“. Die Lektüre oder eine Begebenheit, eine Beobachtung werde im Kopf überlagert von früher eingeprägten Vorstellungen, die das Gelesene oder ein Geschehen losgelöst in einer „geistigen Szenerie“ aufgehen lassen. Im Kern umspielt Murnane eine selbstreflexive wahrnehmungsästhetische Poetik. Sehen ist mehr als bloß Registrieren. Wenn er wahrnimmt, heißt das für ihn beispielsweise ein farbiges Glas „mit Eigenschaften zu versehen, die ihm nicht innewohnen“ und die nur er so erkennen kann. Mehr noch erkennt er in dem Glas „einen Teil des persönlichen Spektrums“, ja: „eine Brechung meines eigenen Wesenskerns vielleicht“.

Außen- und Innenwelt schachteln sich ineinander in einer Weise, dass die beiden Sphären nicht mehr auseinander zu halten sind. Grenzbezirke ist ein ausgesprochen seltsames Buch, das Stoffe und Motive abhandelt, „die ein anderer als unpassend, banal und kindisch ablehnen würde“. Genau deshalb vermag Gerald Murnane seine Leser einzufangen. Sein Bericht, seine „Fiction“, ist ein höchst faszinierendes Lektüreerlebnis.

Titelbild

Gerald Murnane: Grenzbezirke.
Übersetzt aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
240 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225073

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