Der unbedingte Wille zur Selbstbestimmung

Deutschsprachige Autorinnen der Gegenwartsliteratur lassen in Lina Muzurs Anthologie „Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht“ ausschließlich Protagonistinnen zu Wort kommen

Von Michelle HegmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michelle Hegmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Englischen gibt es eine Redewendung, die eine bestimmte Form von Konfliktsituationen benennt, in denen die beiden in Streit stehenden Parteien völlig gegensätzliche Aussagen über ein Erlebnis machen. Da es sich dabei zumeist um einen sexuellen Übergriff handelt, der einen Mann und eine Frau ohne weitere Zeug*innen involviert, wird ein solches zweifelhaftes Ereignis mit he-said-she-said bezeichnet. Keine der Personen kann konkrete Beweise für ihre Version vorbringen – dennoch macht es den Anschein, zu lange wäre nur seiner Sicht der Dinge Gehör geschenkt worden, bis 2017 unzählige Frauen mit der #MeToo-Bewegung den Mut fanden, ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Aus diesem Grund sammelte Lina Muzur, stellvertretende Verlagsleiterin bei Hanser Berlin, 17 Erzählungen von deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen wie Julia Wolf, Margarete Stokowsky oder Helene Hegemann – Geschichten, die ausschließlich die weibliche Perspektive wiedergeben: Sagte sie.

Vorweg sei klargestellt, dass es sich bei dem Erzählband um keine #MeToo-Kampfschrift handelt, um kein politisches Statement und keinen Racheakt, um Männer öffentlich bloßzustellen. Es sind 17 literarische Texte von 17 Autorinnen über 17 Frauen, die auf ganz unterschiedlichen Wegen mit sexualisierter Gewalt umgehen. Um mit der Anthologie eine möglichst große Vielfalt bieten zu können, machte die Herausgeberin nur eine einzige Vorgabe: Die Geschichten sollten vom Verhältnis von Sex und Macht handeln. Die Entscheidung, den Verfasserinnen freie Hand zu lassen, um sie nicht in eine bestimmte Richtung zu lenken, barg für Muzur ein gewisses Risiko, das sich auszahlt. Der Sammelband nimmt verschiedene Perspektiven auf ein vielschichtiges Problem ein und überzeugt mit abwechslungsreichen literarischen Stilen. Die Handlungen spielen in alltäglichen oder ungewöhnlichen Settings. Trotz allem ist ihnen eines gemein: Wut spielt immer eine zentrale Rolle. Sie hilft den Protagonistinnen – durch sie können sie überleben und nach ihr beginnen, das Geschehene zu verarbeiten. Dennoch drängt sich fortwährend ein anderes Gefühl in den Vordergrund: die Schuld, unvorsichtig gewesen zu sein, die Schuld, nichts gesagt, sich nicht genügend gewehrt zu haben. Die Schuld, eine Frau zu sein.

Die Schriftstellerin und Journalistin Antonia Baum führt den Leser*innen mit Setzen Sie sich! gleich zu Anfang jene Konfliktsituationen vor Augen, in denen die Beteiligten eine diametrale Sicht auf erlebte Erfahrungen haben. Die Ich-Erzählerin bittet Zuschauer*innen  jeden Alters und Geschlechts, in ihrem Gehirn Platz zu nehmen und erklärt sie zu Richter*innen – denn auch sie grübelt über ihre Schuld und möchte in diesem Setting über sie abstimmen lassen. Ausführlich beschreibt sie eine Betriebsfeier, die sie mit ihrem „tatsächlich netten“ Abteilungsleiter C. ausklingen lässt – einem Pseudo-Feministen, der für Gleichberechtigung plädiert, die Protagonistin aber noch am gleichen Abend im Taxi sexuell belästigt. Sie spricht über ihre Scham, während er einen Finger in ihre Vagina einführt, die Verwirrung, weil er ihren Schmerzensschrei als Zustimmung und Ausdruck der Lust versteht sowie die Frage, ob sie selbst daran schuld sei. Schließlich habe sie zuvor mit C. geflirtet, seine unerwünschten Berührungen nicht zurückgewiesen, sondern die Tortur über sich ergehen lassen, um ihr schnellstmöglich zu entkommen – ohne ihn dabei beleidigen und dadurch für ein angespanntes Verhältnis am Arbeitsplatz verantwortlich zu werden.

Immer wieder muss sie Unterbrechungen aus dem Publikum erdulden: die Vorwürfe einer jungen Feministin, sie sei unsolidarisch, weil sie es manchmal liebt, von „Männern angesehen zu werden, denn Männer haben Macht.“ Die erniedrigenden Worte des „Typs in der Alphajacke“, sie sei eine „Fotze“, die den spontanen Taxi-Sex doch selbst gewollt habe. Die genervte Stimme eines „Hellmuth-Karasek-haften Mannes“, der diese Opfermentalität nicht mehr erträgt und über die hysterische Darstellung in ihrem Kopf seinen eigenen nur schütteln kann. Der Gerichtsprozess bietet Victim blaming vom Feinsten. Nach ihrem Bericht erwartet die Ich-Erzählerin dennoch eine endgültige Antwort auf die Frage nach ihrer Mitschuld – ohne Erfolg. Letztlich steht eine Frau in ihrem Alter und mit ähnlichem Aussehen auf und beendet die Erzählung mit der vorwurfsvollen Frage: „Sorry, aber warum fällt Ihnen das alles erst jetzt ein?“

Der Gerichtsprozess ohne Urteil trifft den Nagel auf den Kopf: Kaum eine*r der Richter*innen steht auf der Seite der Angeklagten, sondern sie rechtfertigen C.s Übergriff mit den uneindeutigen Signalen der Ich-Erzählerin. Sie sei schließlich mit ihm ins Taxi gestiegen, habe einen aufreizenden Rock getragen und noch dazu viel Alkohol getrunken – angeblich alles Beweise für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Baum schließt ihre literarisch starke Kurzgeschichte mit einer Frage ab, der sich Frauen oft konfrontiert sehen, denn mit jedem verstrichenen Tag ohne Anzeige sinkt für viele die Glaubwürdigkeit eines mutmaßlichen Opfers. Dass die Autorin keine Antwort darauf gibt, ist daher nur logisch und realistisch.

Als einzigen älteren Text druckte Muzur die 1988 erschienene Kurzgeschichte Maria im Schnee von Annett Gröschner ab, die bei ihrer Veröffentlichung in der DDR auf heftige Reaktionen stieß.  Darin beschreibt die Autorin in allen erbarmungslosen Einzelheiten eine äußerst brutale Vergewaltigung. Sie erzählt glaubhaft und literarisch geschickt von einer anonymen Frau, in der ihr Vergewaltiger eine Maria zu erkennen glaubt. Ihr „Kopf trennte sich vom Körper Marias“, wodurch sie den Missbrauch gleich zweifach durchleben muss: Sie ist als anonyme Beobachterin ihrer beziehungsweise Marias Vergewaltigung das Opfer. Doch auch Maria ist Opfer – so, wie alle Frauen, ob in der Literatur oder Realität, von denen Vergewaltiger glauben, sie stünden jederzeit zur Abhilfe ihres Verlangens zur Verfügung.

Vom unerträglichen Schweigen handelt Annika Reichs scharfsinnige Geschichte Der Fleck, in der Mutter und Tochter bis nach China reisen, um endlich über den lang zurückliegenden sexuellen Missbrauch in der Familie reden zu können. Sie müssen „über den Fleck sprechen, auch wenn es ihn nie gegeben hatte“, die Wut, die er immer noch auslöst und durch den alle vergangenen und künftigen Liebesbeziehungen der Beiden zum Scheitern verurteilt sind. Mit der Konstellation eines komplexen Generationskonflikts und introspektiven Einschüben tastet sich die Autorin sensibel an lang verdrängte Gefühle heran, ohne in Klischees zu verfallen. Die Kurzgeschichte thematisiert vor allem die langjährige psychische Belastung aller Beteiligten nach einem Missbrauch und besticht dabei durch Lebensnähe und Ehrlichkeit.

Doch begnügen die Autorinnen sich nicht mit der Darstellung des „schwachen“ Geschlechts als Opfer: Einige der Protagonistinnen werden selbst zu Sexistinnen und Täterinnen. In der Erzählung Drei Mädchen von Anna Katharina Hahn bekommt Julian die Boshaftigkeit seiner Mitschülerinnen zu spüren: Sie ziehen ihn in der Mädchentoilette aus, fesseln ihn mit einem Springseil und schlagen mehrfach zu. Julians Scham ist zu groß, um sich seiner Mutter anzuvertrauen, die die Blutergüsse auf seinem Rücken mit „Purpur, Dunkelgrün, Braungelb wie Wasserfarben“ beschreibt. Zwischen den Zeilen sind ihre Hilflosigkeit und Julians Angst deutlich herauszulesen – ebenso die vorgetäuschte Nettigkeit der drei Mädchen, die sich selbst keiner Schuld bewusst sind.

Helene Hegemann bricht in ihrem Text The Day I Fucked Her Husband At The Lake mit so manchem Rollenklischee. Mit scharfer Zunge und ohne jeden Gewissensbiss spricht die junge Protagonistin von ihrem One Day Stand mit dem Ehemann ihrer besten Freundin. Allerdings weist die Kurzgeschichte einige Schwächen auf: Zusammenhangslose Erinnerungen und Gespräche erschweren es, der Handlung zu folgen. Hegemanns unüberlegter Einsatz von Vulgärausdrücken und willkürlichen, wenig aussagekräftigen Gedankensprüngen der Protagonistin lassen ihren Schreibstil im Vergleich zu den anderen eher schwach aussehen. Als eine der wenigen Kurzgeschichten, die von Sex und Macht, aber auch von einvernehmlichen Geschlechtsverkehr handeln, hat sie Potenzial, das sie jedoch nicht ausschöpft – ihre Protagonistin wirkt zu blass, der inhaltliche Aufbau zu verwirrend.

Bei der Stimmenvielfalt von 17 Autorinnen, die mal laut, mal leise erklingen, wäre es nachvollziehbar, wenn nicht alle Geschichten bei jedem Gefallen fänden. Dafür ist die literarische Qualität der Romanautorinnen, Lyrikerinnen und Journalistinnen zu verschieden, die Zwischentöne sind zu divers, um den Vorlieben aller Leser*innen zu entsprechen. Dennoch haben die Protagonistinnen der Anthologie, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eines gemeinsam: Sie alle verspüren den Wunsch und unbedingten Willen, selbstbestimmt leben zu können. Alle Erzählungen drücken diesen Willen auf ganz eigene Art und Weise aus. Sie geben mit literarischer Intensität einen Einblick in die komplexen Gedanken von Frauen in Konfliktsituationen rund um sexualisierte Gewalt. Mit Sagte sie beweist Muzur, dass das Miteinander der Geschlechter spätestens nach der #MeToo-Bewegung nicht nur in öffentlichen Debatten, sondern auch in der Literatur neu verhandelt werden muss. Es wäre erfreulich, wenn sie als nächstes Projekt männliche Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur für das Pendant Sagte er sprechen lassen würde – denn Männer als Täter in den Fokus zu nehmen, bedeutet auch, sie als Opfer aus dem Sichtfeld geraten zu lassen.

Titelbild

Lina Muzur (Hg.): Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
222 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260740

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