Nach Murakami

Neue Literatur aus Japan

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Haruki Murakami ist ein magischer Name. Nicht nur für Leser, die sein Werk schätzen. Der Wohlklang der sieben Silben dürfte vor allem den Buchmarkt beflügeln, für den Murakami als weltbekannte Marke guten Gewinn verspricht. Für das „Produkt“ engagiert man sich deshalb auch entsprechend im Verlag: Bei Alfred E. Knopf, Teil des Random House Imperiums, gibt es die Möglichkeit, dem „Mann hinter den Arbeiten zu begegnen“. Und die einschlägigen Internetseiten fordern den Interessenten auf, die Murakami-Welt intensiv zu ergründen: „Delve into the world of Murakami in even greater detail”. Als „Murakami-Fan“ und Mitglied einer großen Gemeinde darf man sich interaktiv zu Lieblingsszenen und Lieblingscharakteren äußern oder verraten, wie man zu einem Murakami-Leser wurde.

Murakamis Geschichtlichkeit und das Ende der Heisei-Literatur

Während der „Kultautor“ in den internationalen Medien mit seinem aktuellen Werk Die Ermordung des Commendatore (dt. 2018) präsent ist, muss man angesichts des diesjährig – etwa an der Universität Newcastle – begangenen Jubiläums „40 Jahre Murakami Haruki“ einräumen, dass der postmoderne Avantgardist der 1980er schon mehr für die Geschichte der gegenwärtigen japanischen Literatur steht als für ihre Zukunft – hält er doch an seinem künstlerischen Erfolgsrezept fest, ohne inhaltlich und ästhetisch das Jetzt erschließen zu wollen.

Banana Yoshimoto, die gleichzeitig wie er die Literaturszene erobert hatte, kann ebenfalls auf vier Dekaden ihrer Karriere zurückblicken. Das Lebensgefühl der Ära Murakami-Yoshimoto war durch den Moratoriumsmodus der Jugendlichen gekennzeichnet. Diese Haltung der Reifungsverweigerung in der Phase des später „Bubble“ titulierten japanischen Wirtschaftshochs konnte nach dem Erdbeben von Kôbe und dem Giftgasanschlag der neureligiösen AUM-Gruppe 1995 nicht mehr aufrechterhalten werden. Die als zeitgeschichtliche Zäsur empfundene Wendemarke brachte eine härtere Gangart zu Tage. Ende der 1990er beschäftigten sich Texte im Zeichen einer wachsenden Prekarisierung mit entropischen Tendenzen der Gegenwart: Gewalt, Niedergang, Zerfall sozialer Strukturen, Auflösung der Identität. Auf der Höhe der Zeit schrieben damals Vertreter des Heisei-Brutalismus wie Shû Hase, Shû Fujisawa und Kazushige Abe, Autoren eines „Nippon noir“. Leider liegt von ihnen nichts in deutscher Übersetzung vor. Eine etwas mildere Variante der Absage an gesellschaftliche Normen bietet Kô Machida in subversiven Beiträgen wie Vom Versuch, einen Glücksgott loszuwerden (dt. 2016).

In den 1990ern fand ein Paradigmenwechsel auf verschiedenen Ebenen statt, der ein Verschwimmen literarischer Grenzsetzungen und eine „neue Lesbarkeit“ mit sich brachte. Ab dem Jahr 2000 erobern „Girlie-Autorinnen“ wie Akira Kuroda, Risa Wataya und Hitomi Kanehara den Literaturmarkt. Die Düsterkeit der Noir-Linie findet sich bei ihnen in unterschiedlicher Dichte wieder, zumindest ist das Lebensgefühl im 21. Jahrhundert insgesamt kein fröhliches. Dagegen steuert eifrig die Ratgeberliteratur (ikikata no hon) an, die Hinweise zu einem gelungenen, glücklichen Leben geben will, sowie sogenannte Trost- und Heilungstexte, zu deren Meisterin sich schließlich Banana Yoshimoto mit Texten wie Mein Körper weiß alles entwickelt – die Originalsammlung der Geschichten wurde im Jahr 2000 publiziert, auf Deutsch erschienen sie 2010 bei Diogenes. Die neoliberalen Maßnahmen vergrößern jedoch die Ängste in der Gesellschaft in solchem Ausmaß, dass vielen Jugendlichen jeglicher Antrieb fehlt, sich in die Welt zu wagen. Hikikomori lautet der japanische Schlüsselbegriff für junge Soziophobe – er lieferte im Übrigen auch der deutschen Literatur ein zeitgemäßes Taugenichts-Konzept mit psychopathologischer Dimension.

Als die Stimmung im Lande auf dem Tiefpunkt ist, ereignet sich am 11. März 2011 die Dreifachkatastrophe von Fukushima. Ab diesem Datum begreift man die landeseigene Literatur als Post-Erdbebenkatastrophen-Literatur (shinsaigo bungaku).

„Erdbebenkatastrophen-Literatur“

Die Bezeichnungen „Erdbebenkatastrophen-Literatur“ (shinsai bungaku) oder „Literatur nach der Erdbebenkatastrophe“ (shinsaigo bungaku) wurden vom japanischen Kulturjournalismus geprägt.

Beigetragen zum Kanon der Desaster- oder 3.11-Literatur haben sowohl bekannte AutorInnen wie Hiromi Kawakami mit ihrer kafkaesken, sehr eindrücklichen Geschichte Bärengott (dt. 2012), Sôkyû Genyû, Natsuki Ikezawa, Hitomi Kanehara und Yôko Tawada, wie auch Namen, die erst im Zuge der Post-Fukushima-Debatte um die Repolitisierung der japanischen Literatur Aufmerksamkeit erregten, z.B. Hideo Furukawa, der Schriftsteller mit der notorischen Beanie-Mütze. Furukawas Montageroman Umatachi yo, soredemo hikari wa muku de („Ihr Pferde, das Licht bleibt dennoch ohne Fehl“) aus dem Katastrophenjahr ist konstruiert zwischen Bericht, historischer Saga und innerliterarischer Selbstreferenz. Dabei stellt er sich in die Tradition von Kenzaburô Ôes engagierter Literatur nach 1945, wobei seine Texte und die schriftstellerische Performanz allerdings gewollt wirken.

Bislang hierzulande unbekannte Autoren wie Durian Sukegawa und Hiro Arikawa boten den japanischen Lesern so etwas wie Desasterliteratur light – also unterhaltsame und tröstende Erzählungen (Stichwort iyashi) von der Überwindung schlimmer Erfahrungen, die sich aber nur am Rande auf „Fukushima“ beziehen. Als Bibliotherapie funktioniert ihr „Content“ global ohne Schwierigkeiten. Sukegawa und Arikawa sind Autorentypen, die man in Japan den Copywritern zurechnet, das heißt sie üben ein Handwerk aus wie die versierten Verfasser von Werbetexten aus den großen PR-Agenturen Dentsû oder Hakuhôdô. Neben dem kommerziellen Aspekt beansprucht ihre Arbeit, resilienzfördernd zu sein und dergestalt zur Psychohygiene der traumatisierten Nation Japan beizutragen.

Man könnte von der Warte des Jahres 2018 aus die These wagen, dass Post-Fukushima-Literatur zum Großteil Auftragsarbeit im Sinne der Regierung darstellt. Ziel der Agenda war es, eine „nationale Narration“ zu komponieren, die sich als offizielle Version des Geschehens für das In- und das Ausland eignen würde.

Bemerkenswert sowohl im Hinblick auf die literarische Qualität wie auch bezüglich der subversiven Argumentation erscheint in diesem Licht das letzte Werk der Schriftstellerin Yûko Tsushima (1947-2016). In Hangenki wo iwatte (2016; „Feiern der Halbwertszeit“) schildert die Autorin ein Japan, das nach der Katastrophe zu einem rechtsradikalen Staat mutiert.

Menschen im Modulsystem

Eine Entdeckung aus dem Jahr 2016 ist der Text Convenience Store von Sayaka Murata, der sich in Japan in über 650.000 Exemplaren verkauft hat und in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Ladenhüterin 2018 im Aufbau Verlag veröffentlicht wurde. Die Autorin entwirft mit Konbini ningen, im Wortsinn „Convenience Laden-Mensch“ einen Mikrokosmos der geschützten Funktionalität, wie man ihn auch als Vision des Makrokosmos Japan sehen könnte. Für die in ihm arbeitenden Individuen dient der Minisupermarkt als ein sie einhüllender Organismus. Seine Regelhaftigkeit gibt den Angestellten eine Stütze. Ohne diese Umgebung droht die Protagonistin Keiko Furuhata, die soziopathische Züge trägt und sich ganz mit dem modularen System des Ladens identifiziert, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Sie zieht die beruhigende monotone Mechanik der Warenbestückung und die Routine im Arbeitskollektiv dem privaten Umgang mit Mitmenschen vor. Keiko muss deshalb geradezu als das ideale Humankapital der neoliberalen Epoche gelten, findet sie ja Erfüllung in den monotonen Verrichtungen und im Zustand ihrer endlosen Verfügbarkeit für das Kollektiv. Konbini ningen könnte als eine transhumanistische Zukunftsvision interpretiert werden, in der der Mensch von den Belastungen seines Menschseins in Form der biologistischen Direktive der Interaktion mit dem Mitmenschen, sprich dem Geschlechtspartner zum Zwecke der Reproduktion (weiterer unglücklicher Menschen), befreit sein und in einen distanzierteren Prozess der Umsetzung von Materie eingegliedert sein wird – als taylorisiertes, aber glückliches Monster. 

Willkommene Metamorphosen

Ebenso bemerkenswert ist Eiri, der Text des Akutagawa-Preisträgers vom Sommer 2017, Shinsuke Numata, der noch auf eine Übertragung ins Deutsche wartet. Die rätselhafte Erzählung wurde von einem 1978 auf Hokkaidô geborenen Debütanten verfasst. Numata zeigt sich im Unterschied zu den Copywritern als introvertierter Autor mit schüchternem Auftreten. Ironischerweise stellt sich bei ihm ein wenig das Bild des männlichen Protagonisten von Muratas „Convenience Laden“ ein. Die japanische Presse konnte Numata jedenfalls mit seinem Werk in Bezug setzen. Eiri, geschrieben mit den japanischen Zeichen für „Schatten“ und „Hinterseite“, handelt von der Begegnung zweier Männer und der Entwicklung einer Freundschaft bis hin zum Verschwinden des einen im Zuge der Geschehnisse in Fukushima.

Der Text legt nahe, dass Hiasa, der Freund des Erzählers, ein passionierter Outdoor-Anhänger und Fischer, durch die Flutwelle des Tsunami am 11. März 2011 den Tod fand. Konstellation und Atmosphäre muten wie ein Crossover von Ang Lees Filmdrama Brokeback Mountain (2005) und Sôseki Natsumes Roman Kusamakura (1906; dt. 1996 Das Graskissen-Buch) an. Beide Male ist das Thema eine in der Ursprünglichkeit der Natur positionierte leidenschaftliche Beziehung mit homoerotischer Ausrichtung. Sôseki, der große Repräsentant der Empfindsamkeit in der klassischen Moderne Japans, beschwört die symbolistische, spirituelle Erotik des Präraphaelitismus mit einer Umsetzung des Selbstmordmotivs. Sehnsuchtsfigur und Verkörperung der von Seelenschmerz gepeinigten Jugend (hammon seinen) um 1900 ist im Graskissen-Buch Misao Fujimura (1896-1903), ein Student, der sich aufgrund einer philosophischen Krise in den Kegon Wasserfall von Nikkô gestürzt hat. Die Anspielung auf Sôseki enthält auch der Titel Eiri, der sich auf einen Zen-Lehrsatz bezieht, den der Meiji-zeitliche Autor ebenfalls zitiert hat. Im Falle des aktuellen Texts erweitert sich die Thematik des Homosexuellen bis hin zur Transsexualität. Die Erzählerfigur hatte, wie man erfährt, früher eine Beziehung zu einem Mann namens „Fukushima“, der sich zur Frau umwandeln ließ. Eine mögliche Lesart von Eiri wäre denn auch, dass Hiasa nicht in der Flutwelle des Tsunami starb, sondern die Katastrophe von Fukushima zum Anlass genommen hat, um unterzutauchen und eventuell in neuer Gestalt – als Frau – sein Leben weiterzuführen. „Fukushima“ bedeutet in dieser Interpretation den Maßstab einer großen Metamorphose. Hiasa würde also gewissermaßen aus den Ruinen des alten Japan, in dem ein solcher Schritt eine beinahe unüberwindliche Hürde darstellte, als die ideale Frau neu auferstehen.

Nächstes Jahr geht nun die 30-jährige Heisei-Ära (1989-2019) zu Ende. Kaiser Akihito dankt ab, und am 1. Mai 2019 findet die Inthronisation des Kronprinzen statt. Seine Regierungsdevise bestimmt dann die kommende japanische Zeitrechnung, und die neue Literatur nach Murakami wird ihre noch unbekannte Signatur tragen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen