Wann ist man eigentlich gesund?
Der Sammelband „Gesundheit erzählen“ lotet die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit aus
Von Thorsten Schulte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWann ist man eigentlich gesund? In der Psychotherapie sei dies „gewissermaßen auch Verhandlungssache“, schreibt der Psychologe Christopher Koppermann im unlängst in der Reihe „Narratologia“ erschienenen Band Gesundheit erzählen. Die Autorinnen und Autoren des Bandes loten die Grenze zwischen gesunden und kranken Zuständen aus und erkennen dabei, dass Gesundheit nicht einfach ein Neutralzustand in Opposition zur Krankheit ist. In Thomas Manns Zauberberg kommen bekannterweise fraglos gesunde Personen „so gut wie gar nicht“ vor, im Sanatorium werden körperliche und seelische Leiden kultiviert und nicht kuriert. Gesundheit und Krankheit erscheinen hier eher als „Zustandsoptionen und Perspektiven“, merkt der Germanist Michael Navratil in seinem Essay zu den Konzepten der Gesundheit im Werk Thomas Manns an. Andere Autorinnen befassen sich in dem Band mit Krankheitsmemoiren und populärwissenschaftlichen Narrationen. Sophia Burgenmeister untersucht beispielsweise speziell narrative Techniken und ideologische Implikationen von Gesundheitserzählungen rund um Fleischverzehr und Fleischverzicht. Diskurse der Gegenwart über gesunde Ernährung, Bewegung und mentale Stärke in „Mental Health Blogs“ und Romanen sowie deren mögliche Perspektiven werden in Gesundheit erzählen zusammengefasst.
In der Reihe „Narratologia“ des Wissenschaftsverlags De Gruyter erscheinen innovative Sammelbände zur modernen Erzähltheorie. Dabei gelingen ungewöhnliche Sichtweisen auf bekannte Themen. Während die Darstellung von Krankheit in der Literatur ausführlich erforscht wurde, war Gesundheit „als ein Zustand der tendenziell undynamischen Harmonie menschlichen Lebens für die erzählende Literatur nur von geringem Interesse“ und wurde insofern auch in der Literaturwissenschaft vernachlässigt, konstatieren die Herausgeber des Bandes Gesundheit erzählen. Und dies gilt nicht nur für die Literaturwissenschaft. Frank L. Schäfer nähert sich juristisch mit Blick auf die Rechtsgeschichte, auf die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie auf die Formulierung der „körperlichen Unversehrtheit“ im Grundgesetz einer Definition von Gesundheit. Er fasst Auslegungen zusammen und rekurriert auf die Ansichten des Bundesverfassungsgerichts. Die Beiträge des Sammelbandes widmen sich dem Thema „Gesundheit erzählen“ aus vielen verschiedenen Richtungen. Eine solche interdisziplinäre Betrachtung hat zur Folge, dass die versammelten Beiträge auch in ihren methodischen Zugriffen variieren, was den Band zugleich unterhaltsam und herausfordernd, abwechslungsreich und innovativ werden lässt.
Anregend ist, dass Fußnoten hier nicht nur Quellenangaben enthalten, sondern auch Informationen zur Vertiefung angerissener Themen. So wird dem Leser mit vielen Verweisen und Erläuterungen die Möglichkeit gegeben, sich weit über das Buch hinaus Denkanstößen zu widmen und weiterzulesen. Auffällig ist, dass es jeder Autorin und jedem Autor selbst überlassen wurde, ob und wie Möglichkeiten der geschlechtergerechten Sprache genutzt werden. Wird in einem Essay das Binnen-I genutzt, findet sich im nächsten Essay das Gender-Sternchen oder eben doch der Verzicht auf das Gendern. Außerdem werden Sprachkenntnisse zumindest der englischen Sprache vorausgesetzt. Der Aufsatz von Monika Class ist nicht übersetzt worden, sondern im englischsprachigen Original abgedruckt. Die Publikationssprachen der „Narratologia“-Reihe sind nun einmal Deutsch und Englisch. Die Texte der Autorinnen und Autoren werden also unverfälscht gedruckt – nicht angeglichen und nicht übersetzt.
Die Aufsätze des Bandes gehen zurück auf eine Tagung, die im Jahr 2018 stattfand – also deutlich vor Beginn der Corona-Pandemie. Die interdisziplinäre Betrachtung des Themas Gesundheit sowie die damals bereits diskutierten möglichen Perspektiven erlauben jedoch einen Bezug zum aktuellen Geschehen und den damit verbundenen Gesundheitsdiskursen. Erschienen ist das Buch im Jahr 2021, in dem viel gezählt wurde: Inzidenzen, Corona-Infizierte, Tote – und auch die Genesenen. Vielleicht wurde nie so vielen in Frieden und Freiheit der westlichen Welt aufgewachsenen Menschen so radikal die Fragilität der Gesundheit vor Augen geführt wie in diesen Jahren der Corona-Pandemie.
Eine Analyse aktueller Krankheitsnarrative sowie der Wandlungsprozesse wird Raum für weitere Forschungen bieten. Mit den ersten Schritten heraus aus der Pandemie werden sich dabei neue Wege öffnen. Es liegt eine Wirklichkeit vor uns, die sich noch nicht zu Ende denken lässt und die uns sicherlich vieles vorenthält. Im Band Gesundheit erzählen werden die sich beschleunigenden Wandlungsprozesse schon vor Corona angedacht. Die Psychologin Lisa Müller lässt in ihrem Aufsatz Patienten zu Wort kommen, die von einer sich entwickelnden „Angst, mit Menschen zusammen zu sein“ berichten – einer Angst, die mit fortschreitender Dauer von Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht zunehmend zum Massenphänomen wird. Die Resilienz schwindet. Es ist aber beispielsweise auch der schon erwähnte Essay von Schäfer zu nennen. Er zeigt mit seinen Überlegungen Optionen auf, welche Ansprüche „auf eine durchschnittliche oder gar optimale Versorgung“ sich aus Gesetzen für Politik und Krankenkassen ableiten lassen – eine intensive aktuelle Diskussion während der Pandemie.
Wohin sich eine Gesellschaft in einer Zeit der sozialen Isolation, Quarantäne-Phasen und einer zunehmenden Anzahl psychischer Erkrankungen entwickelt und was diese Herausforderungen für den Zusammenhalt bedeuten, bleibt abzuwarten. Mit Erzählungen über Gesundheit könne „ein Zukunftsentwurf mit der Möglichkeit des Weiterlebens und den noch verbliebenen Handlungsmöglichkeiten“ entworfen werden, glaubt Lisa Müller. Die Herausgeber Julian Menninger und Michael Navratil zeigen in einem gemeinsamen Aufsatz auf, welche umfangreichen Fragestellungen sich im Anschluss an den Sammelband ergeben werden – von der Deutungshoheit über die „Legitimierung flexibel-normalistischer Gesundheitskonzepte“ bis hin zu den Zusammenhängen von Gesundheitserzählungen in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Religionszugehörigkeit und anderen soziologischen Kategorien. Das Forschungsfeld wird somit gerade erst geöffnet, ausgerechnet in einer dafür besonders spannenden Zeit.
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