Es ist angerichtet

Marie NDiayes neuer Roman „Die Chefin. Roman einer Köchin“

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich ist bei Marie NDiayes Romanen, wie bei allen sehr guten Romanen, zweitrangig, worum es geht. Würde sich Literatur in Inhaltsangaben resümieren lassen, bräuchte man sie nicht zu schreiben. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass NDiaye mit dem Thema „Kochen“ einen überaus aktuellen und omnipräsenten Gegenstand gewählt hat. Nicht etwa, dass heute mehr Menschen als früher kochten, aber es ist schwer vorstellbar, dass es je eine Zeit gegeben hat, in der mehr über Kochen geredet, geschrieben und gesendet wurde. Und dies nicht nur in Frankreich, wo das Achten auf gute Küche zur nationalen Selbstbeschreibung gehört, sondern auch in Deutschland und anderswo.

Wer nun aber in NDiayes Roman in erster Linie eine Reaktion auf diesen Kochdiskurs erwartet, sieht sich rasch getäuscht. Warum NDiaye über Kochen und Köche schreiben wollte, werden wir wohl nie erfahren und genauso wenig erfahren wir im Roman, warum die „Chefin“ je mit dem Kochen angefangen hat und warum sie nie wieder damit aufhören konnte. Es ist einfach ihre Gabe und dieser gehorcht sie, opfert ihr ihr gesamtes Leben, wobei sie dies nicht als Opfer empfindet, denn Kochen ist ihr Leben.

Ob am Tage, wo es neben dem eigentlichen Kochen vor allem um die Besorgung der Zutaten und damit das Aufsuchen der besten lokalen Erzeuger geht, oder in der Nacht, wo sie experimentiert, analysiert, neue Verbindungen von Ingredienzen sucht – man könnte auch sagen neue Kompositionen und Kreationen ausprobiert, aber dieser Wortschatz aus dem Bereich der Kunst passt nicht recht zur Chefin. Alles Aufgesetzte und Artifizielle am Kochen ist ihr zuwider, und doch braucht es keine besonderen interpretatorischen Fähigkeiten, um in der Chefin eine Künstlerin am Werke zu entdecken. Nur ist es eben eine Künstlerin, die ihren Gegenstand wesentlich ernster nimmt als sich selbst und die daher nie auf irgendwelche Effekte aus ist. Das Publikum spielt in ihrem Kochen zunächst einmal eine untergeordnete Rolle, und gerade deshalb liegt es ihr zu Füßen. Denn die Leidenschaft, die die Chefin bei ihrer Arbeit an den Tag legt, überträgt sich letztlich in Speisen, die „für sich sprechen“ und die zu essen ein Genuss ist, der keiner großen Rhetorik bedarf. Im Gegenteil: Als die Tochter der Chefin, die in Kanada mit größter Mühe und dank der finanziellen Unterstützung ihrer Mutter ein Studium an einer teuren Wirtschaftshochschule absolviert hat, das Restaurant ihrer Mutter „kommunikationstechnisch“ auf Vordermann bringen möchte, verliert das Restaurant binnen weniger Monate nicht nur seinen Stern, sondern auch seine Kunden, und, wollte man ein wenig Pathos ergänzen, seine Seele. Doch Pathos ist nicht NDiayes Sache, sie beschreibt lieber präzise, welche Änderungen die Tochter vornimmt (höhere Preise, pseudorustikale Schiefertafeln, auf denen nun der Käse serviert wird, neue Titel für Gerichte, in denen alles, nur keine Nahrungsmittelbezeichnungen vorkommen) und welche Konsequenzen diese Änderungen zeitigen, nämlich das Ende des Restaurants La bonne heure.

Dass dieses Ende nicht einfach eine Firmenpleite ist, sondern die Zerstörung eines Lebenswerkes und, angesichts der Bedeutung, die die Küche für die Chefin hat, auch die Zerstörung der „Künstlerin“, läge nahe. Doch NDiaye vermeidet es, die Chefin als zu bemitleidende Person darzustellen, dies würde der Anlage der Figur auch ganz widersprechen. Denn die Chefin gehört zu diesen NDiayeschen Figuren, die bis zuletzt etwas rätselhaft bleiben, unnahbar, nicht aus Arroganz, sondern aus einer von Scham durchsetzten Selbstgenügsamkeit, die zugleich den Anspruch, dass sich alle immer verstehen und mitteilen können müssten, als recht naive Vorstellung entlarvt.

Gabrielle, so der erst am Romanende verratene Name der Chefin, die in sehr ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, versteht vor allem sehr früh, dass ihre Umgebung sie nicht versteht, weder ihre Probleme – statt in der Schule zu sein, hilft sie lieber ihren Eltern, was natürlich sanktioniert wird – noch ihre Freude – dass auch Kinder in Armut glücklich sein können, scheint ihrer Umgebung unbegreiflich. Doch ist es ihr zuzumuten, dass sie ihr verständnisloses Umfeld auch noch über dessen Unverständnis aufklärt? Der Roman verneint diese Frage, erwägt interessanterweise aber, dass moderne Schulen mit modernen Pädagogen sogar mit solch gravierenden soziologischen Unterschieden umzugehen wüssten, womit NDiaye en passant Auffassungen von unüberwindbaren Trennungen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft eine Absage erteilt. Für Gabrielle jedoch bieten sich solche Möglichkeiten nicht und so liegt ihre Rettung vor allem in ihr selbst, ihrem Durchhaltevermögen, und in ihrer Gabe, zu kochen.

Diese hält sie denn auch bis zuletzt aufrecht, allen Schicksalsschlägen und Widerständen zum Trotz. Ihre von ihr unendlich bewunderten Eltern, denen sie seit ihrem Erfolg als Sterneköchin gerne zu einem komfortableren Leben verhelfen möchte, sterben bei einem Unfall mit dem Auto, das sie ihnen geschenkt hat. Ihre Tochter, hervorgegangen aus einer unglücklichen Beziehung (vom Vater erfährt man nahezu nichts), ist ihr eine stete Sorge, das Verhältnis ein einziger Bruch, den Gabrielle nie ganz verschmerzt. Andere Menschen gibt es in ihrem Leben nicht, sehr zum Leidwesen des Ich-Erzählers, der sich als junger Mitarbeiter in die Chefin verliebt und nach deren Tod ihre Geschichte erzählt. In seiner von tiefem Respekt geprägten, liebevollen Hingabe an die Chefin spiegelt sich deren Hingabe an das Kochen – eine unnachahmliche Kombination, zum Lesekonsum uneingeschränkt zu empfehlen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Marie NDiaye: Die Chefin. Roman einer Köchin.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
333 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427675

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