Das Adressbuch als Lebenscollage

Harald Neckelmann öffnet Hannah Höchs Adressbuch und gibt Einblicke in eine collagenartige Papierwelt

Von Stefanie RoennekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Roenneke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Adressbuch wird erst dann vermisst werden, wenn Smartphones und Computer ihren Geist aufgeben und zum bloßen, kalten Ding verkommen, wodurch der Zugang zur digitalen Welt unmöglich wird. Bis dahin werden weiterhin vermeintliche „Freunde“ oder „Kontakte“ zu einer unübersichtlichen digitalen Liste hinzugefügt oder schnell eine Nummer im Telefon abgespeichert. Zudem ist ein Adressbuch noch mehr als ein praktisches Speichermedium aus Papier, das jedem Computerabsturz standhält. Es kann ein „Erinnerungsbuch“ sein, das über seinen herkömmlichen Nutzen hinausgeht, insbesondere dann, wenn es 60 Jahre lang geführt wurde wie das Adressbuch der Künstlerin Hannah Höch: ein kleinformatiges Büchlein, das beträchtliche 700 Seiten stark ist und über 1300 Namen enthält.

Der von Harald Neckelmann herausgegebene Band möchte diese Bedeutung veranschaulichen, indem zunächst zahlreiche Namen mit biografischen Angaben ergänzt sind, welche die Verbindung zu Hannah Höch fokussieren. Weiter werden Kommentare aus Höchs Terminkalender oder solchen, die direkt aus dem Adressbuch stammen, vermerkt. Dadurch offenbart das Adressbuch, das die Künstlerin von 1917 bis zu ihrem Tod 1978 geführt hat, jenseits des Who’s who vielschichtige Eindrücke aus ihrem Leben – sei es Banales oder Bedeutendes, Alltägliches oder besondere Momente. So schrieb sie beispielsweise zum Kauf von Werken durch Leonard M. Brown aus Springfield, Massachusetts: „Kaufen DADA u. Ähnliches. Haben von mir mitgenommen ‚Die Gymnastiklehrerin‘ Collage 1923? 25? 600,- Ich schenkte Ihnen kl. gespritzte Zeichnung (1955?)“. Zum Londoner Kurator Philip Granville, der ihr 1955 ein Lebensmittelpaket schickte, notierte sie jedoch: „Wollte Schwitters kaufen. Ich gab ihm nichts“. Durch solche Kommentare werden die Namen und Adressen mit Bedeutung gefüllt und das Adressbuch verwandelt sich zu einer eigenen Erzählung mit biografischen und zeitgeschichtlichen Nuancen. Das zeigt sich weiter an dem Eintrag zu Prof. Herbert Gericke, von 1956 bis 1965 Direktor der Villa Massimo in Rom, wo Höch von Januar bis April 1961 als Ehrengast geladen war: „Dieser Aufenthalt hier, in Villa Massimo, hat so eine Fülle von Eindrücken über mich geschüttet, schon soviel Schönes geboten, mir die Welt nochmals geweitet, die ich glaubte nur in meiner kleinen Einsiedelei erschöpfen zu können.“ Weniger euphorisch reagierte Höch auf einen Besuch in Stuttgart im Jahr 1963, wo in einer Ausstellung des Künstlerbundes zwei Bilder von ihr zu sehen waren. Die waren zwar „gut gehängt“, doch die anschließende Feier konnte sie nicht überzeugen: „Abends ein sogenanntes Fest, Stinklangweilig“.

Von der Sammelleidenschaft der Künstlerin, die über händische Einträge hinausgehen, zeugen Faksimiles von Visitenkarten, Einladungen, Ausstellungsankündigungen oder Briefe, die im Original enthalten sind. Sämtliche dieser Inhalte lassen das Adressbuch wie eine weitere Collage der Künstlerin erscheinen, jenes Prinzip, das sie zusammen mit Raoul Hausmann im Sommer 2018 auf der Ostseeinsel Wollin entdeckte. Ein Eindruck der durch die Faksimile-Seiten des Adressbuchs selbst auch visuell bestärkt wird: Unterschiedliche Handschriften und Papiere treffen auf farbige Markierungen nebst eingeklebten Visitenkarten.

Hannah Höch „Mir die Welt geweitet“. Das Adressbuch ermöglicht eine ungezwungene Auseinandersetzung mit der Künstlerin und ihrer Zeit. Jenen, denen Höch unbekannt ist, wird ein ungewöhnlicher Einstieg zu Leben und Werk ermöglicht, der dank der zahlreichen biografischen und historischen Angaben einen großen Mehrwert hat. Kenner können auf 300 Seiten auf Entdeckungsreise gehen, ungeahnte Verbindungen ausmachen oder sich an kleinen Notizen erfreuen.

Titelbild

Harald Neckelmann: Hannah Höch »Mir die Welt geweitet«. Das Adressbuch.
Herausgegeben von Harald Neckelmann.
Transit Buchverlag, Berlin 2018.
320 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783887473648

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