Kurze Texte – langer Nachklang

„Der Zeitzwerg und andere Texte nur für diesen Moment“ von Jörg Neugebauer wirken teilweise weit über den Augenblick hinaus

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jörg Neugebauer kann und will in vielen der 45 Texte dieses Bandes seine Prägung als Lyriker nicht leugnen. Fantasievolle Kurzgeschichten und Skizzen werden durch poetische Sprachbilder veredelt. Inhaltlich hat der Autor die große Weltpolitik ebenso im Visier wie prominente Künstler und den Frust des Alltagslebens. Sprachlich beherrscht er ein erstaunlich breites Spektrum von kitschfreier lyrischer Naturbetrachtung über skurrile bis absurde Verfremdung bis zur leisen und dennoch schonungslosen Ironie gegen Gewalt, Denunziantentum und Werberummel.

Die folgende subjektive Auswahl stellt einige Texte in der Reihenfolge des Abdrucks vor. 

Der Zeitzwerg: Das titelgebende Geschöpf geht gleich im ersten Satz auf der Mondsichel spazieren – liebenswerte Fantasie verführt zum Weiterlesen.

Chirurgen sind immer in Eile: Deshalb verlieren sie Messer, einer gleich fünf auf einmal, und das Wiederfinden wird „fast zu Legenden, die noch Generationen von Patienten und Schwestern einander erzählen“.

Baugrube: Ein Bauherr buddelt mit einer Schaufel eine Baugrube, doch ein kleines Mädchen lässt die zugehörigen Platten seitwärts abstellen, von wo sie und der Bauherr zum Sonnenuntergang gehen.

Bei Gericht: Der Ich-Erzähler als Strafverteidiger fragt den Angeklagten, ob sie tauschen wollen. Doch der schweigt, und der Himmel ist bereit, „einen Teil seiner Güte in unsern Gerichtssaal zu lenken“.

Meldestelle: In dieser Satire auf staatliche Kontrollwut und willfährige Zuträger hat der Ich-Erzähler die falsche Zahnbürste benutzt und will Joe kennenlernen, der ihn deshalb bei der Meldestelle angezeigt hat. Er möchte von ihm Tipps bekommen, wie auch er zur Gerechtigkeit beitragen kann.

Der Präsident: Der Angriff auf das Nachbarland ist ins Stocken geraten, und der Präsident ist Teil der Kriegsmaschinerie geworden. Ihm bleibt nur noch, vor der Fernsehkamera seine Krawatte zu richten, die wohlgeputzten Schuhe auf den Schreibtisch zu legen und die eigenhändig gespitzten Bleistifte zu präsentieren. Mit listigem Understatement ohne anklagenden Ton wird ein Politverbrecher vorgeführt.

Hirnlosers Lächeln: Ein alter Seemann hilft gelegentlich im Laden seines Sohns für Matrosenbedarf aus und fördert mit seinem Lächeln den Umsatz. Als er stirbt, bleibt sein Lächeln dort, und seine Enkel spielen damit.

Kombiniere: Jeder Engel ist schrecklich: Der Ich-Erzähler ist fast der einzige Besucher von Rainer Maria Rilke in Duino. Die Fürstin von Thurn und Taxis soll das Schloss veräußert und Rilke versehentlich mitverkauft haben.

Pferdefiguren: Eigenwillige Adaption des Märchens vom Rotkäppchen: Das Mädchen war einverstanden, dass der Wolf die strenge Großmutter frisst, und malt sich die Zukunft aus, ohne dem zudringlichen Wolf zu verraten, dass er darin vorkommt. „Er braucht wirklich nicht alles zu wissen.“

Catch the Rainbow: Eingriff in die Weltgeschichte per Retro-Utopie, in der die Gruppe „Rainbow“ 1975 in München ihren Song „Catch The Rainbow“ spielt, woraufhin ein schmächtiger Mann mit Stummelbärtchen zu Anfang der 20er Jahre seine irrwitzigen Pläne aufgibt.

Unterwegs: Im vielleicht abseitigsten Text schließt ein Geigenbauer mit dem Violinschlüssel die S-Bahntür auf. Er und der Ich-Erzähler sind Kaninchen und haben sich die Ohren in der Tür eingeklemmt.

Anzeige: Die Verlagswerbung parodierend, werden verschiedene Ausgaben des „Neuen Schmalstieg“ angepriesen – vom Großen Schmalstieg „mit allen Hintergrundinformationen, Doppelversionen und verworfenen Textvarianten“ bis hinab zum Leeren Schmalstieg: „ohne Inhalt, für Leser mit Phantasie“.

Bücher: Der Ich-Erzähler spielt mit dem Gedanken, ins Kloster zu gehen, wo es genug Bücher gäbe. „Was drinsteht ist nicht so wichtig. In der Sprache glaube ich, würde ich jenen Halt finden, der mir hier immer mehr fehlt.“ Dieser Gedanke dürfte dem Autor nicht fernliegen.

Ich verstehe eigentlich gar nichts von diesen Dingen: Zuweilen scheint man einfach alles zu schaffen. Doch sobald die Illusion verfliegt, wird aus dem Gelingen „der Traum, den wer anderes mal geträumt hat, der mir kopfschüttelnd davon erzählt.“

Mit Marie im Taxi – wohin: Der Ich-Erzähler und Marie stahlen sich Regen und bliesen ihn gegen die Scheiben. Gesicht an Gesicht sahen sie zu, wie die Landschaften sich ineinander verwandelten, bis das Licht „dämmernd bis zögernd, zum Abend hin duftend und leuchtend zerfloss“.

Syd: In vier Texten wird die tragische Biographie eines Musikers geschildert, bei dem man an Syd Barrett, den Mitbegründer von „Pink Floyd“, denken darf, der sich nach der Kindheit zurücksehnte.

Stürmischer Tag: Im Finale macht es dem Ich-Erzähler nichts aus, dass sich seine Spur verliert. Schon der erste Satz führt ins Ungefähre: „Ich ging, es war ein stürmischer Tag, aus dem Haus und kaufte mir eine Fahrkarte oder ein Fahrrad, irgendwas in der Art.“

Schräge Ideen und Formulierungen finden sich auch in anderen Texten. Da geht es um das Autogramm eines Mannes, den es nicht gab, oder um jemanden, der in einer Uhr sitzt. Zwei Männer nicken „mindestens innerlich“, wenn ein vertrauter Name fällt. Engel müssen feststellen, dass das Trompetenamt schon geschlossen ist. Erna vermisst ihre Schlüsselbeine, die in Kafkas Schloss passen würden. Auch bleibt es den Männern vorbehalten, in Schubladen zu kriechen und nach dem Rechten zu sehen. Und ein Mann wuchs irgendwo auf, um einiges älter als seine Großeltern.

Neugebauer belegt mit bizarren Einfällen und poetischen Bildern in souveräner sprachlicher Gestaltung abermals, dass er ein Wortkünstler ersten Ranges ist und seine Texte eben nicht „nur für diesen Moment“ wirken.

Titelbild

Jörg Neugebauer: Der Zeitzwerg und andere Texte nur für diesen Moment. Kurzgeschichten.
Edition Noack & Block, Berlin 2022.
88 Seiten , 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783868131628

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch