Rebellion in der Vorstadt
Celeste Ng lässt in ihrem Bestsellerroman „Kleine Feuer überall“ eine Vorstadtidylle in Flammen aufgehen
Von Charlotte Neuhauss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSorgfältig gestutzter Rasen, die Häuserfassaden farblich aufeinander abgestimmt, die Türen unverschlossen: Es kommt einem merkwürdig vertraut vor, dieses Setting, das den Hintergrund für Celeste Ngs neuen Bestsellerroman Kleine Feuer überall bildet (dieses Frühjahr in deutscher Übersetzung bei dtv erschienen). Wer bereits ihr erfolgreiches und vielfach prämiertes Debüt Alles, was ich euch nicht erzählte (2016) gelesen hat, erkennt dieselbe Vorstadtkulisse, die den Anschein von Makellosigkeit zur Schau trägt. Gleichzeitig, und dies kommt einem ebenfalls vertraut vor, spürt man darunter bereits einen Widerstand, ein Aufbegehren, ein drohendes Unheil, dessen Ausbruch nur eine Frage der Zeit scheint. Und tatsächlich wird Elena Richardson, eine der Hauptfiguren von Ngs neuem Roman, am Ende des Sommers vor den brennenden Trümmern ihres eigenen Hauses stehen.
Im Frühling ist in Shaker Heights, einer Vorstadt von Cleveland, Ohio, noch alles in bester Ordnung. Die größte Sorge der Familie Richardson – bestehend aus Elena, ihrem Mann und den vier Kindern Izzy, Moody, Trip und Lexie – ist Tochter Izzy, ein nicht zu bändigender Wildfang, der mit allen Streit anfängt und auch mal der Leiterin des Schulorchesters einen Geigenbogen an den Kopf wirft. Izzy wiederum fühlt sich von allen unverstanden und rebelliert wieder und wieder gegen die festgefahrenen Ansichten ihrer Mutter. Umso größer ist ihre Faszination angesichts der neuen Untermieterin Mia, einer alleinerziehenden Mutter und experimentellen Künstlerin, die aus Möbelteilen zusammengesetzte Tiere fotografiert und nichts als ein paar Sitzkissen in ihrer Wohnung liegen hat. Angezogen von diesem unkonventionellen Lebensstil wird Izzy bald zu Mias rechter Hand und fühlt sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich verstanden und angenommen. Unterdessen wird die Lücke, die sie zuhause hinterlässt, umgehend von Mias Tochter Pearl gefüllt, die enge Freundschaft mit Moody schließt und zarte Zuneigung zu Trip fasst.
Was zunächst wie eine gelungene Symbiose aussieht, wächst sich bald zu zwei Lagern aus, die sich gegenseitig mit Misstrauen, schließlich mit Feindschaft beäugen. Im Zuge eines Sorgerechtsstreites verschärft sich der Graben noch und Elena, die Mias bloße Anwesenheit zunehmend als Angriff auf den eigenen Lebensentwurf empfindet, beginnt, nach dunklen Flecken in ihrem Lebenslauf zu forschen. Was sie im Zuge dessen entdeckt, bringt beide Familien an ihre Grenzen.
Zum zweiten Mal gelingt es Celeste Ng, ein Vorstadtportrait zu entwerfen, das durch seine Differenziertheit, psychologische Tiefe, und – man kann es nicht anders sagen – seine respektvolle Charakterzeichnung überzeugt. Jeder Figur, egal auf welcher Seite sie steht, wird durch eine eigene Perspektive eine Art „Vertrauensvorschuss“ eingeräumt, der ihre Position und soziale Bedingtheit verständlich macht und in ein Kaleidoskop menschlicher Vielfalt einreiht. Das Ergebnis ist nicht etwa eine, sondern eine ganze Fülle an Wahrheiten, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen. So wird Elena eben nicht nur als engstirnige Antagonistin, sondern auch als enttäuschte Idealistin und Romantikerin dargestellt, die angesichts von Mias Charakterstärke an der eigenen zu zweifeln beginnt. Bei Izzy wiederum scheint wiederholt dieselbe Arroganz und Selbstgerechtigkeit durch, für die sie die anderen so erbittert anklagt. In diesem Sinne fängt Kleine Feuer überall auf eindrucksvolle Weise die Komplexität menschlichen Verhaltens ein und kann als eindringliches Plädoyer für einen vorbehaltlosen Umgang mit dem „anderen“ – in welcher Gestalt auch immer – gelesen werden.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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