Zwischen Oberflächlichkeit und Seelentiefe

Joséphine Nicolas macht Zelda Fitzgerald in ihrem Roman „Tage mit Gatsby“ zur Ich-Erzählerin

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der US-amerikanische Autor Francis Scott Fitzgerald (1896–1940) und seine Frau Zelda Sayre Fitzgerald (1900–1948) verkörperten den Zeitgeist des „Jazz Age“ und der „Goldenen Zwanziger“, die in Amerika „The Roaring Twenties“ heißen (oft mit „Die wilden Zwanziger“, genauer aber mit „Die dröhnenden Zwanziger“ übersetzt). F. Scott Fitzgerald ist durch seinen Roman Der große Gatsby weltberühmt geworden, zweifellos eine der außergewöhnlichsten Liebesgeschichten aller Zeiten, mit dem zwielichtigen Jay Gatsby als Inbegriff eines ekstatisch, verzweifelt und letztlich unglücklich Liebenden.

Wenn man sich als faszinierter Leser dieses Romans seit Jahren für seinen Autor und dessen Ehefrau interessiert, findet man reichlich Literatur über die beiden Beautiful Fools (so der Romantitel der jüngsten Hommage an das Traumpaar) in englischer und auch in deutscher Sprache. Da sind neben weiteren Büchern Scotts die eigenständigen Veröffentlichungen Zeldas, vor allem ihr Roman Save Me The Waltz (deutsch unter mindestens drei verschiedenen Titeln erschienen). Erzählungen von ihr wurden zwischen 1925 und 1932 in amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, allerdings meist unter dem honorarträchtigen Namen ihres Ehemanns. Unter dem Titel Himbeeren mit Sahne im Ritz kamen sie 2016 in der deutschen Erstübersetzung von Eva Bonné heraus. Überdies setzen sich zahlreiche Bücher in englischer Sprache belletristisch, biographisch oder literaturwissenschaftlich mit dem problematischen Zusammenleben der beiden Zeitikonen auseinander.

Wenn man diesen Hintergrund kennt, staunt man über das kühne Vorhaben der literarischen Debütantin Joséphine Nicolas, einen deutschsprachigen Roman über Zelda zu schreiben. Immerhin gibt es schon den für seine Authentizität gelobten Roman von Katrin Boese Zelda Fitzgerald: „So leben, dass ich frei atmen kann“. Dort tritt Sara Mayfield, eine zeitweilige Freundin Zeldas, als Ich-Erzählerin auf, und die Autorin erschafft eine überzeugende Collage aus recherchierten Fakten und erfundenen Begegnungen, die der eigenständigen Künstlerin Zelda Fitzgerald gerecht wird, ohne sie zu verklären.

Joséphine Nicolas traf nach der Wahl des Sujets eine zweite, noch kühnere Entscheidung: Bei ihr ist Zelda die Ich-Erzählerin. Was für eine Herausforderung! Es genügt nun nicht, dem Leser das Zeitkolorit und die Charaktere glaubhaft und anschaulich nahezubringen. Duktus und Melodie der schönen, nie abgegriffenen Sprache Zelda Fitzgeralds müssen sich ebenso wiederfinden wie ihr widersprüchlicher Charakter zwischen Sensibilität und Rebellion, Oberflächlichkeit und Seelentiefe, „flapper girl“ und künstlerischer Hochbegabung. Nach eigenem Bekunden hat die Autorin die Kurzprosa Zelda Fitzgeralds genauestens studiert.

Der Rezensent hat zu Vergleichszwecken zahlreiche Passagen aus Save Me The Waltz noch einmal gelesen – in der Originalfassung, um sich nicht zwischen den deutschen Übersetzungen entscheiden zu müssen. Das Ergebnis verblüfft und erfreut. Auf vielen Seiten des Romans von Joséphine Nicolas meint man Zelda Fitzgeralds Atem zu spüren. Das Schicksal der beiden hochtalentierten, in „amour fou“ miteinander verstrickten Menschen wird zeitlich von der Planung der Reise nach Frankreich, mit der dank günstigem Wechselkurs der chronische finanzielle Engpass überwunden werden soll, über die tragische Hinwendung Zeldas zu einem französischen Marineflieger bis zu ihren letzten Tagen in einem „Mental Hospital“ erzählt. Mit dem Titel Tage mit Gatsby hatten Autorin und Verlag eine glückliche Hand. In ihm klingt Zeldas Aufbegehren dagegen an, die Tage nicht im Amüsement mit dem geliebten Egoisten verbringen zu können. Denn nicht auf andere Frauen ist Zelda eifersüchtig, sondern auf das Schreiben. Ihr Mann aber ist so gewissenlos monoman, nicht nur Texte Zeldas aus Kurzprosa und Tagebuch zu plagiieren, sondern sogar ihre an ihn gerichteten Worte seinen Romanfiguren in den Mund zu legen.

Die akademische Ausbildung im Bereich Kunst und Design kommt der Autorin deutlich zugute, wenn ihre intensive Prosa die Schauplätze der Handlung schildert. Es entsteht Atmosphäre zum Greifen in klaren farbigen Bildern. Insgesamt ist der Roman eine wertvolle Bereicherung der Literatur über die Fitzgeralds und ein kluges und zugleich leidenschaftliches Plädoyer für eine Frau, die viel zu tief im Schatten ihres genialen Ehemanns stand.

Titelbild

Joséphine Nicolas: Tage mit Gatsby.
DuMont Buchverlag, Köln 2021.
416 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783832165642

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