Cancel Culture? Tertium datur!

Julian Nida-Rümelin plädiert für bodenständige Aufklärung, respektvolle Zivilkultur und eigenständiges Denken

Von Rahel MicklichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rahel Micklich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Tugend der Toleranz [ist] das Signum der politischen Moderne und die wesentliche Bedingung einer demokratischen Ordnung.“

Vorweg: Das Buch Julian Nida-Rümelins, eines der führenden Intellektuellen der Republik, ist zu begrüßen. Nicht, weil allem beigepflichtet würde, was es weder will noch Maßstab wäre, sucht es doch den subjektiv ehrlichen und intersubjektiv offenen Dialog differierender Argumente, auf dass sich das objektiv bessere durchsetze; sondern, weil es zum Denken ‚provoziert‘, ja zur fairen Kontroverse – Atemluft jeder Vernunft – auffordert. Vor allem aber: weil es in der Sache, vielleicht als erstes, eine tiefergreifende Analyse des zu oft oberflächlich besprochenen Phänomens der Cancel Culture bietet, auch wenn dies nur ein Anfang sein kann. Nida-Rümelins gelungener Spagat zwischen Theorie und Empirie ehrt Kants Maxime von Begriffen, die nicht leer, und Anschauungen, die nicht blind sein dürfen. Seine Lesart ist freilich die kommunikative, sein ‚Subjekt‘ der Diskurs.

I. Das Phänomen der Cancel Culture ist nur seiner Bezeichnung nach ‚neu‘. Tatsächlich habe man es mit einer universalen Erscheinung zu tun, was eine Vielzahl von Beispielen nahelegt (Echnaton, Sokrates, Kaiser Diokletian, Mao Zedong, J. K. Rowling oder Charlie Hebdo – eine angehängte Kasuistik listet 48 Fälle, der Fließtext des Buches diskutiert noch etliche andere).

Schon anthropologisch gilt: Wo es Menschen gibt, gibt es Empörung, wo aber Empörung, Akte der Ausgrenzung. Soziale Anerkennungskämpfe, so Axel Honneth in seiner Studie zur „moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ (Kampf um Anerkennung), haben ihren Ausgangspunkt nicht so sehr in abstrakten Interessenlagen, als vielmehr in „moralischen Unrechtsempfindungen“, wobei die englische Übersetzung „moral feelings of indignation“ noch zutreffender formuliert, bedenkt man, dass es nicht nur um Recht und Unrecht, sondern auch – und vor allem – um (die vielgesichtige) Moral  geht. Diese Besprechung zielt auf Fragen in der Sache, auch weil eine begriffliche Debatte noch aussteht. Es werden nicht einzelne Fälle diskutiert, sondern die das ganze Buch durchziehende und für es wesentliche Analyse einer Vernunft verletzenden Praxis. Das dürfte dem entgegenkommen, worum es dem Autor vordringlich geht, der sich nicht positionistisch auf eine Seite schlägt, für oder gegen dieses oder jenes Canceln, denn er lehnt die Praxis als solche ab – tertium datur!

„Cancel Culture war immer ein politisch-moralischer Skandal, unabhängig, von wem diese Praxis ausgeht […].“ Das in ihr ausgeschlossene Dritte, das kein weiteres Pro oder Contra der Positionsgefechte sein darf, das substantielle ‚Jenseits‘ der Cancel Culture, ist für den Autor der auf Vernunft beruhende, d. h. Gründe austauschende Diskurs. Frühere Praktiken der Meinungsbekämpfung (etwa der amerikanische McCarthyismus in den 1950er Jahren oder die bundesdeutschen Berufsverbote gegen Links in den 1970ern) rechtfertigten keineswegs Praktiken unter umgekehrten Vorzeichen. „Beides war und ist inakzeptabel.“ Dem ist nichts hinzuzufügen! Fragen jedoch schon.

Zum Beispiel die nach dem eigentlichen Begriff, denn erfreulicherweise stellt der Autor, anders als die meisten Diskutanten, die konzeptuelle Frage – Was ist das: ‚Cancel Culture‘? Seine Antwort lautet: „Unter Cancel Culture wird […] eine kulturelle Praxis verstanden, die Menschen abweichender Meinungen zum Schweigen bringt […].“ Drei Eskalationsstufen macht er aus: (CC1) die Unterbindung, Behinderung oder Erschwerung von Meinungsäußerungen, (CC2) die diskursive Ausgrenzung und Marginalisierung von Personen, die unliebsame Meinungen vertreten sowie (CC3)  die Verfolgung und Tötung von Personen mit nicht-opportunen Meinungen. Von der Absage eines Vortrags bis zum Völker(gruppen)mord (wie Bsp. Nr. 26 der Kasuistik bzgl. der Roten Khmer mindestens insinuiert) scheint so alles vertreten (die Bsp. Nr. 17–19 zum Nationalsozialismus sowie das Bsp. Nr. 20 zu Stalin fallen defensiver aus).

Hat aber das aktuelle Phänomen, für das sich erst ‚jüngst‘ (nach 2010) die Bezeichnung ‚Cancel Culture‘ durchgesetzt hat, nicht mit (i.) typischen Erscheinungen, die es ausmachen, und (ii.) gesellschaftlichen Voraussetzungen, die es bedingen, zu tun, etwa (ad i.) mit dem Phänomen der Empörung, die vorwiegend kollektiv ausfällt und (mehr oder weniger) unmittelbar Akte des Cancelns bewirkt, weshalb – so betrachtet – Ausladungen etc. nicht per se als kulturelle Cancel-Akte gelten könn(t)en? Anders gefragt: Sind solche Merkmale wesentlich oder nicht?

Angesichts des phänomenologischen Befunds fällt es schwer, kühl kalkulierte Handlungen der Auslöschung von Menschen und ganzen Menschengruppen, vielleicht sogar den kalt geplanten Genozid an den Juden, als Akte einer Cancel Culture zu begreifen. Despoten wie Stalin und Hitler wollen so ganz und gar nicht in das Bedeutungsspektrum derjenigen linguistischen Praxis passen, der sich das Wort verdankt, die ja, mit dem späten Wittgenstein, die Semantik pragmatisch regelt, wenn auch zugegebenermaßen nicht per se die wissenschaftliche. Hier wäre begrifflich nachzuschärfen, um Klarheit zu schaffen.

Auch der ‚wirkursächlich‘ gemeinte Begriff ‚Kultur‘ wirft Fragen auf. Es ist ja gerade das ‚moderne‘ oder besser ‚postmoderne‘ Phänomen, dass die heute geforderten oder vollzogenen Akte des Cancelns weithin Ausdrücke ‚einer‘ Kultur, kultureller – nicht selten identitärer, kurzum: moralisch (nicht-) wertschätzender – Einstellungen sind. Man mag dies Unkultur nennen; doch wäre mit Kant der kategoriale Unterschied geltend zu machen zwischen einem bloß verneinenden und unendlich-verneinenden Urteil. Despoten haben nicht nur keine konträre, sie haben überhaupt keine Kultur. Sie haben Unkultur. Über Kultur lässt sich streiten, über (nationalsozialistische) Unkultur nicht.

Mit Axel Honneth lässt sich  (ad ii.) für moderne Gesellschaften unterscheiden, welche Zusammenhänge für Empörung und ähnliche moralische Gefühle sorgen, die Anerkennungskämpfe auslösen können, deren Ausdruck auch Handlungen des Cancelns sind. Recht (als Freiheit der Selbstbestimmung) und Moral (als Selbstbestimmung der Freiheit) definieren verschiedene Anerkennungsräume. Gerade im gegenwärtigen (westlich-liberalen) Kontext handelt es sich aber zunächst um moralisch motivierte und in diesem Sinne dezidiert kulturelle Akte des Cancelns, also um Akte der ersten, widrigstenfalls zweiten Eskalationsstufe, die zunächst beide gerade nicht illegal, mithin kriminell ausfallen müssen. Für demokratische Gesellschaften ist dies bedeutsam. Die Ausladung einer Rednerin ist nicht schon an sich verboten, ja wird aus der spezifischen Sicht derer, die dies befürworten, geboten erscheinen, auch wenn das von anderen ganz anders gesehen, ja für verwerflich gehalten wird. Wertschätzungsfragen sind nicht Rechtsfragen. Trotzdem gilt: Respekt vor Selbstbestimmung kennt keine Negation, Wertschätzung von Selbstbestimmung schon.

II. Nida-Rümelin reflektiert das Phänomen Cancel Culture in vier Hauptkapiteln: (i.) im Lichte verschiedener Theorien (Platon, Aristoteles, Locke, Kant, Rawls), (ii.) erkenntnistheoretisch (Descartes, Husserls Lebenswelt, Wittgensteins Alltagssprache), (iii.) demokratietheoretisch (Demokratie- und Kommunikationsbegriff, Aufklärung, Toleranz) sowie (iv.) übergreifend in Form seiner Alternative zur Cancel Culture, die in öffentlichem Vernunftgebrauch politischer Urteilskraft bestehe. Seine Antwort auf eine Kultur des Cancelns ist fundamentaler Art. Sein Plädoyer gilt einem deliberativ geerdeten, nicht rationalistisch abgehobenen Verständnis von Demokratie, das in der Lebenswelt der Menschen und der in ihr praktizierten Alltagssprache realistisch verankert zu denken ist. Damit richtet er sich gegen jede Form eines nominalistischen Konstruktivismus. Dies ist der Grund, weshalb er der „habermasschen Variante deliberativer Demokratie“ bei aller analytischen Abhängigkeit nicht ohne Weiteres folgen kann, da sie „mit einer nicht unproblematischen Erkenntnistheorie unterlegt“ sei, „wonach sich Wahrheit als idealer Konsens definieren“ ließe. Intersubjektivität ist für Nida-Rümelin nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung gelingender Diskursivität. „In einer Demokratie der sozialen und kulturellen Gegensätze, ja oft Unvereinbarkeiten, würden wir die Menschen überfordern, wenn wir von Kommunikation und Interaktion erwarteten, dass sie empathisch erfolgte und zum Ziel den Interessenausgleich, gar den Konsens der Überzeugungen hätte.“

Worin aber gründet sein epistemischer Realismus? Habermas‘ Konzept einer die Lebenswelt bedingungspragmatisch durchziehenden formalen Rationalität dreier der Sprache innewohnenden Präsuppositionen reicht nicht hin, einer lebensweltlichen Verankerung des Diskurses gerecht zu werden. Denn es tradiert ein problematisches Erbe der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, welche die beiden Erkenntnisstämme der Sinnlichkeit und der Vernunft auseinanderdividierte. Habermas wendet in Wahrheit und Rechtfertigung das subjektlogische Dilemma ins Intersubjektive:

Weil handelnde Subjekte mit ‚der‘ Welt zurechtkommen müssen, können sie im Kontext ihrer Lebenswelt nicht umhin, Realisten zu sein. […] Diese pragmatische – mit Hilfe der Unterstellung einer objektiven Welt realistisch gedeutete – Instanz der Vergewisserung ist auf der reflexiven Ebene handlungsentlasteter Diskurse, wo nur noch Argumente zählen, suspendiert.

Habermas‘ Realismus ist also keiner, weshalb bei ihm der Zusammenhang zwischen Lebenswelt und Diskurs in letzter Instanz abreißt, so wie die intra-subjektive Episteme bei Locke, Hume oder auch Smith abbricht, so dass sich die Erkenntnisvermögen nur noch äußerlich zueinander verhalten, oder, wie Hume in seinem Treatise of Human Nature ausführt: „Reason is, and ought only to be the slave of the [violent or calm] passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.“. Habermas stellt deren normative Perspektive rationalistisch auf den Kopf, indem der isolierte Diskurs zur Norm setzenden Instanz avanciert, nicht, wie bei den britischen Moralisten, die sentimentale Lebenswelt der Subjekte.

Nida-Rümelin scheint umgekehrt die Vernunft vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen, indem er der Lebenswelt zurückgibt, was den Diskurs allererst ermöglicht. Nicht so jedoch, dass Lebenswelt und Diskurs gegeneinander ausgespielt würden; vielmehr verfolgt er das Konzept einer epistemischen Kontinuität, das er sozialphilosophisch wendet:

Die Demokratie hat anthropologische Prämissen, die durchaus umstritten sind. […] Ohne diese Annahmen über die menschliche Natur wäre eine demokratische Ordnung ohne Substanz; sie würde zu einer Sammlung von Entscheidungsregeln schrumpfen, die lediglich für diejenigen relevant sind, die Politik zum Beruf gemacht haben […].

Er vertraut also auch den materialen Ressourcen der Lebenswelt: Dem Gedanken der Expertokratie „müssen wir den öffentlichen Vernunftgebrauch, eine Zivilkultur des respektvollen Umgangs und das Vertrauen auf die lebensweltliche Vernunft der Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie entgegensetzen.“

Seinen Gedankengang eröffnet er mit Platons – in dessen Dialog Theaitetos entwickeltem – Konzept der „wahren Meinung mit Begründung“ (ἀληθὴς δόξα μετὰ λόγου), in welchem er einen ersten Kern diskursiver Rationalität aufspürt. Die platonische Formulierung ist insofern attraktiv, als sie beide für ihn so wichtigen Aspekte verzahnt: die wahre Meinung, die zur alltagssprachlichen Lebenswelt zu zählen ist, und den darauf basierenden Diskurs, der mit rationalen Begründungen – mit Logos – fortfährt, welcher expliziert, was den lebensweltlichen Praktiken inhäriert. Jedoch ist dies – für Platon – nicht die Pointe, sondern die Aporie. Denn sowohl die wahre Meinung als auch die logische Begründung bleiben der Sache äußerlich, solange sie nicht selbst eingesehen – geschmeckt (sapere) – wird. Ohne Einsicht, wie schwach sie auch ausfallen mag, spräche man in ahnungslosen Glaubenssätzen von ‚Wissen‘.

Umso verwunderlicher die Skepsis gegenüber einem aristotelischen Ansatz: „Menschen sind in der Lage, sich ein eigenes Urteil zu bilden und danach zu handeln. Manche charakterisieren diese Prämisse als Fähigkeit zur praktischen Vernunft und meinen, dass sie damit den altgriechischen Ausdruck nous korrekt übersetzen. Ich bin da skeptisch. Vernunft gibt es nur ganz, nicht in Teilen.“ Doch ist es nicht dies, wovon Aristoteles spricht, wenn er die epistemische Kontinuität stark macht, mit der heute freilich nicht mehr ‚schicken‘ Pointe eines gründenden Grundes des Wissens (εἶδος), der vielleicht allein ‚real‘ zu nennen wäre? Eventuell ist es, mit Hans Ulrich Gumbrecht, der von „ästhetischer Präsenz“ spricht (Diesseits der Hermeneutik), „wieder an der Zeit, bestimmte diskursive Tabus zu brechen (sich die Hände schmutzig zu machen).“ 

Für Aristoteles war klar (Nikomachische Ethik), dass der Nous – die Vernunft – schon in der Gegenstandswahrnehmung anwesend ist – noch nicht zu den eigenen, vernünftig vernünftigen Bedingungen der Theoria begreifend, sondern vorerst gebunden an die Möglichkeiten des Wahrnehmens und Fühlens vorgreifend. Ungerechtigkeit wird im Einzelfall erkannt, nämlich – zunächst – empfunden, auch wenn hier die Kognition noch nicht explizit wissen kann, was das ist: Gerechtigkeit. 

Es ist diese Kontinuität, die es erlaubt, den Zusammenhang zwischen alltagssprachlicher Lebenswelt und rationalsprachlichem Diskurs zu denken. Die schon der Lebenswelt einwohnende Kohärenz ist nicht intersubjektiver, sondern sachlicher Natur, ist Kohärenz von ‚etwas‘, das man zunächst praktisch kennt, ehe man es theoretisch erkennt. Darin gründete die Substanz der Lebenswelt als realistischer Ressource intersubjektiver Begründungspraxis problemorientierter Diskurse, darin die vernünftige Ansprechbarkeit der Subjekte für diskursive Praktiken. 

Nida-Rümelin hat also zwar Recht, wenn er postuliert: „Vernunft gibt es nur ganz, nicht in Teilen“; vielleicht aber doch Unrecht, wenn er Aristoteles Partialität unterstellt. Denn die lebensweltliche Klugheit dürfte als ein intrinsisches Moment der noetischen Vernunft zu begreifen sein: „Für Aristoteles ist es die auf Lebenserfahrung beruhende Klugheit (phronesis), die Bürger mitbringen müssen, nicht die wissenschaftlich-philosophische Expertise. Aristoteles vertraut auf die den Bürgern gemeinsame Fähigkeit zur politischen Urteilskraft […].“ Für die altvordere Tradition, etwa die ‚Chartreser‘, war eine funktionale Differenzierung der Episteme, die deren Vermögen trennte, keine Option. Denn kein ego cogito oder nos loquimur könnte die gerissene Wunde je wieder synthetisieren.

III. Der Autor hält für die Gegner einer deliberativen Demokratie von Linksaußen und Rechtsaußen fest, dass sie gleichermaßen in den Fußstapfen der Freund/Feind-Undialektik eines Carl Schmitts wandeln: „Die Gemeinsamkeit dieser so disparat erscheinenden Schmittianer ist die Kritik an einer politischen Praxis, die sich um Verständigung bemüht. Verständigung setzt die wechselseitige Anerkennung zumindest als Gesprächspartner voraus.“. Seine Unterscheidung zweier Arten der Distanznahme, der antagonistischen, die unversöhnliche Interessengegensätze proklamiert, und der agonistischen, „die immerhin gewisse zivilisierende Regeln der Demokratie“ akzeptiere, „aber als Ziel die Diskurshegemonie und die politische Durchsetzung eigener Interessen“ habe „und nicht Ausgleich, Verständigung und Kooperation“, erlaubt den Umriss eines Cancel Culture Schemas nach Art des vom Autor vorgetragenen italienischen Modells des arco constituzionale:

antag. Einstellg.   //   agon. Einstellg.   /   dialog. Einstellg.   /   agon. Einstellg.   //   antag. Einstellg.

(links-extrem)             (links)              (linksMitte-Mitterechts)            (rechts)            (rechts-extrem)

Antagonistische Positionen setzen auf eine Cancel Culture der zweiten Stufe (CC2), die Grundrechte außer Kraft setzen möchte, agonistische auf eine der ersten Stufe (CC1), die eine kulturelle Hegemonie der Wertschätzung zum Ziel hat. Die beiden äußersten Positionen repräsentierten explizit demokratiefeindliche Positionen, die, insofern sie den Diskurs instrumentalisieren, Grenzwerte der politischen Toleranz darstellten, mithin nicht mehr zum arco constituzionale gehören könnten. Bildet man die gegenwärtige politische Landschaft mit ihren Dynamiken auch vor dem Hintergrund der medialen Verstärkungen und Verzerrungen ab, ergibt sich ein durchaus bedenkliches Bild, was die Substanz der dialogbereiten demokratischen Mitte anlangt. Gleichwohl ist eine tolerante, auf Grundrechten aufgebaute und Respekt gebietende Demokratie gehalten, agonistische Positionen nicht auszugrenzen, sondern, dies das begrüßenswerte Anliegen Nida-Rümelins, diskursiv mit ihnen umzugehen, im Vertrauen darauf, dass das bessere Argument überzeugt. Mit Marcus Aurelius‘ Selbstbetrachtungen dürfte nämlich gelten: „Denn die Natur ist stärker.“ (κρατεῖ γὰρ ἡ φύσις).

Bleibt zu fragen: „Halten wir am Projekt der Aufklärung, der Schärfung der Urteilskraft durch Dialog, durch öffentlichen Vernunftgebrauch, durch wechselseitige Anerkennung als Gleiche, Freie und Vernunftfähige fest?“ Mein Plädoyer: Tauschen wir das Fragezeichen ein gegen ein Ausrufezeichen – aber keines des Monologs, sondern eines des Dialogs!

Titelbild

Julian Nida-Rümelin: »Cancel Culture« – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken.
Piper Verlag, München 2023.
185 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492071796

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