Familienaufstellung

Kenzaburô Ôe gestaltet mit „Der nasse Tod“ eine literarische Konstellationsanalyse

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für den erfolgreichen Verlauf einer Familienaufstellung ist die körperliche und psychische Belastbarkeit Grundvoraussetzung. Insofern birgt Kenzaburô Ôes Vorgehen in seinem in Japan 2009 veröffentlichten Roman Der nasse Tod ein Risiko. Alle Beteiligten an den sich im Text teils durch das Zutun der Ôe-Persona, teils sich aus den Umständen ergebenden Konfrontationen innerhalb der Familie, sind mehr oder weniger angeschlagen – der Ich-Erzähler leidet unter Depressionen, bei seiner Frau Chikashi wurde Krebs diagnostiziert, und Akari, das Alter Ego von Ôes 1963 geborenem behinderten Sohn Hikari, mittlerweile 45, hat ebenfalls verschiedene gesundheitliche Probleme. Trotzdem ist für den Protagonisten, Kogito Chôkô oder Kogii genannt, am Ende der ersten Dekade der 2000er Jahre der Zeitpunkt gekommen, das Verhältnis zu seinem früh verstorbenen Vater zu überdenken sowie aktuelle negative Entwicklungen und Spannungen unter den Familienmitgliedern auszugleichen.

Der nasse Tod wäre kein Werk des Altmeisters der japanischen Gegenwartsliteratur, wenn er nicht mit einer Palimpsest-Struktur bestehend aus zahlreichen Anspielungsebenen ausgestattet wäre. Zudem ist er multiperspektivisch und transmedial angelegt – in die Narration des Romans sind Darstellungen der Problematik im Film und in dramatischer Form miteinbezogen. Der Text erzählt zum Beispiel von der Bearbeitung des Ôe-Stoffs als Performance, die von einer Theatergruppe gestaltet wird. Hier schließt sich sozusagen wieder der Kreis zum Thema Familienaufstellung: Eine künstlerische Version dieser Idee, umgesetzt in der Prosa des Nobelpreisträgers, findet Anschluss an ihre Ursprungsgestalt als therapeutisches Stegreiftheater, in dem der österreichisch-amerikanische Arzt Jakob Moreno (1889–1974), der Begründer der Gruppenpsychotherapie, ein Psychodrama von Stellvertretern dramaturgisch ausagieren lässt.

Problematik und Leidensdruck

Die Parallelsetzung der literarischen Bearbeitung von Familiengeschichte und Konflikten in einer Familie mit der psychotherapeutischen Familienaufstellung ist vermutlich vom Autor intendiert. Die Gegebenheiten entsprechen auch in vieler Hinsicht dem Schema: So wird in der seelenärztlichen Praxis erwartet, dass mit dem Leidensdruck des Klienten ein ernsthaftes Anliegen verbunden ist, sein Herkunftssystem zu verstehen.

Tatsächlich befindet sich der alte Schriftsteller im Text in einer schwierigen Situation, die ihn dazu bewegt, offenbar lange verdrängte Verstrickungsmuster aufdecken zu wollen. Zum einen beschäftigen den Protagonisten die Gefühle für seinen Vater, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Fluss ertrunken ist – aus diesem tragischen Umstand leitet sich auch der Titel des Romans ab. Zum anderen hat sich die Beziehung der Ôe-Persona zu seinem Sohn verschlechtert, was daran liegt, dass beide Persönlichkeiten im Alter ihre Eigenheiten entwickelt haben und der allzu enge Bezug aufeinander – in einer lebenslangen Betreuungssituation – letztlich auch seinen Tribut fordert. Der Unmut des Vaters über den Sohn, der in ein wichtiges Buch mit Kugelschreiber hineinkritzelt, macht sich in einer unfreundlichen Beschimpfung Luft. Akari reagiert gekränkt und zieht sich zurück, beschäftigt sich auch nicht mehr mit seiner geliebten klassischen Musik.

Dies ist wiederum der Anlass für eine verschärfte Kritik der weiblichen Linie der Chôkos am Schriftsteller und Familienoberhaupt. Dergestalt in die Enge getrieben, läuft Kogii gegen einen Laternenmast und muss die Hilfe einer jungen Frau annehmen und sich kurzfristig auf ihren Schoß setzen, um seine momentane Benommenheit abklingen zu lassen. Bei der Frau handelt es sich um Unaico, die einer Theatergruppe angehört und mit dem Romancier in Kontakt treten wollte, um die Möglichkeit eines gemeinsamen Projekts zu sondieren. Auf Anraten der Schwester Kogiis, Asa, sollte eine erste Begegnung am besten informell verlaufen – der Zwischenfall am Laternenmast hat hierfür ideale Bedingungen geschaffen. Der Schriftsteller stimmt nach diesem „bedeutungsvollen Ereignis“ einer Kooperation zu und bricht schließlich zum Waldhaus auf der heimatlichen Insel Shikoku im Süden des japanischen Archipels auf.

Dietrich Fischer-Dieskau singt

Mit der Figur des Vaters verbindet sich bei Ôe der Rückblick auf die japanische Zeitgeschichte vor und nach 1945. Kogito reflektiert die Rolle von „Chôkô Sensei“ innerhalb der ländlichen Kommune. Ihm ist nicht ganz klar, welcher politischen Überzeugung der eigentlich der Literatur zugeneigte Vater anhing – vor allem die Idee einer reaktionären Revolution beziehungsweise mittels eines in Yoshidahama stationierten Zero-Bombers einen Luftangriff auf den Wohnsitz des Kaisers in der Metropole zu fliegen, die er mit jungen, in die Region abkommandierten Offizieren bei einem feucht-fröhlichen Abend entwickelt haben soll, lassen Zweifel an dessen Rolle während des Kriegs nicht verlöschen. War der Vater wirklich dem Ultranationalismus verfallen, hatte er sich nur im Sake-Rausch in derartige Vorstellungen verstiegen oder wollte er für die Region, durchdrungen von den „Überlieferungen des Waldes“, so etwas wie einen Opfertod sterben? Schließlich begab sich – in der Welt Kogitos – sein Erzeuger mit einem Boot auf den Hochwasser führenden Fluss hinaus, ertrank dabei und wurde später ans Ufer gespült, ein Thema, das das Fundament der Familienmythologie der Chôkôs bildete. Aus den seltsamen Umständen seines Todes ergab sich der Wunsch des Sohnes, das Geschehen in einem Roman unter dem Titel Tod im Wasser aufzuarbeiten – gegen etliche Widerstände in der Familie.

Mehrere Motive sind hier miteinbezogen, unter anderem die James Frazer-Lektüre des Vaters, der Anstreichungen in einigen Bänden des Golden Bough vorgenommen hat. Frazers religionsethnologische Modelle beschreiben den Tod eines Königs, der nicht mehr im Zenit seiner körperlichen und geistigen Kräfte steht und deshalb von einem starken Nachfolger abgelöst werden muss, um das Weiterbestehen der Gemeinschaft zu garantieren. Dieses Muster betrifft sowohl den Shôwa-Kaiser wie auch Kogito, der sich mit dem Verlust seiner Bedeutung als Schriftsteller und der Endlichkeit seines Lebens auseinandersetzt. Auch eine Bach-Kantate, vorgetragen vom Kammersänger Dietrich Fischer-Dieskau spielt eine Rolle; das Lied wurde von den Offizieren im Laufe ihres Gelages von einer Schallplatte abgespielt. Die Verse, deren Inhalt man so deuten kann, als wische der Kaiser seinen treuen Untertanen die Tränen fort, repräsentieren im Verständnis der damaligen Zeit eine todesselige Ideologie. Zugleich steht ein Abschnitt des Lieds ebenfalls wieder mit dem Leitmotiv „Tod im Wasser“ in Bezug, heißt es in ihm doch: „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder / Komm und führe mich nur fort / Löse meines Schiffleins Ruder / Bringe mich an sichern Port!“

Kogito hält durch

Das Buch bietet viel Material, amüsante Wendungen und zahlreiche intertextuelle Bezüge für den eingefleischten Leser. Für jemanden, der seine Lektüre des Autors mit Der nasse Tod beginnen will, dürfte der Text eher ungeeignet sein, weil man ihn stellenweise ohne entsprechende Hintergrundinformationen nur schwer entschlüsseln kann. Darüber hinaus sind einige eingestreute Indiskretionen, selbst wenn sie nur literarische Fiktion wären, einigermaßen hinterhältig, ja fast geschmacklos: Man erfährt von Akaris Reaktion auf ihm bedrohlich scheinende Nachrichten, die sich in akutem Durchfall manifestiert. Es ist offensichtlich, dass Ôe im Chôkô-Modus mit diesen und anderen burlesken Einschüben die Konventionen des Ich-Romans (shi-shôsetsu) als Meistergenre der japanischen Moderne unterläuft.

Zugutehalten kann man Ôe, dass er die eigene Person – in Gestalt des Kogito – keineswegs schont, was Peinlichkeiten betrifft. Der alternde Schriftsteller holt sich eingangs Beulen am Laternenpfahl, wird als unverbesserlicher Schamhaarfetischist geoutet und muss sich die Kritik von Schwester Asa, der Tochter Maki sowie der Theatergruppe gefallen lassen, wobei ihm die Missbilligung seiner Mutter, die ihn daran hinderte, einen ersten Entwurf seines Wassertod-Romans zu publizieren, stets präsent ist. Generell muss sich Kogito der Gruppe der Frauen gegenüber behaupten, während ihm seine Unzulänglichkeiten als Ehemann und Vater sehr bewusst sind.

Was zunächst als recht aufdringliche Kritik Unaicos an Kogito, der Hauptfigur ihres Theaterstücks, wirkt, erweist sich dem karnevalesken Schema einer Kunst der Liminalität nach – sowohl im Roman, wie im Theaterstück und im Film innerhalb des Romans – als Moment des Aufbruchs überkommener Strukturen, der es, wie der oft zitierte Aufstand, ermöglicht, einen Neubeginn einzuleiten. Der Austausch der Vertreter der Theatergruppe mit den Akteuren aus der Chôkô-Familie liest sich teilweise schwer, da die verbale Interaktion in deutscher Übersetzung relativ banal oder betulich klingt. Dafür stößt man aber, wie bereits betont, auch auf nicht wenige anregende Passagen und originelle Einfälle: Mit Kogiis Lebensweise werden die Problemjugendlichen der Heisei-Ära, die hikikomori, assoziiert, auch fragt der Held nach einem „Heisei-Geist“, der mit dem Geist der Meiji-Epoche zu vergleichen wäre. Nicht zuletzt entfalten die über 400 Seiten des Romans (in deutscher Übersetzung) gewissermaßen eine therapeutische Dimension, die mit dem vorgeblichen Beweggrund, ihn als Aufarbeitung einer Familiengeschichte zu verfassen, in Einklang steht. Die beruhigende Wirkung, die der Band auszusenden vermag, resultiert allerdings nicht nur aus dem hartnäckigen Anschreiben gegen das Alter, das Vergessen, die Monotonie und die Hoffnungslosigkeit, sondern aus der einladenden Dichte des Textgewebes, das an so viele andere literarische Texte sowie an moderne und vormoderne Überlieferungen anknüpft.

Titelbild

Kenzaburô Ôe: Der nasse Tod. Roman über meinen Vater.
Übersetzt aus dem Japanischen von Nora Bierich.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
431 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972184

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