Kulissenklatsch auf Feministisch

Maggie O’Farrell erfindet in „Judith und Hamnet“ Shakespeares Familienleben

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum fiel mir beim Lesen ausgerechnet dieser andere Schriftsteller ein und jener 16. Juni 1904 mit einer Herrenrunde in Dublin? Ihre Unterhaltung ist gerade bei Gespenstischem angekommen, nämlich bei Shakespeares Hamlet und bei der Frage, ob der Dramatiker mit der Geisterscheinung und dem jungen Dänenprinzen nicht vielleicht sich selbst und seinem früh verstorbenen Sohn Hamnet einen Bühnenauftritt verschaffte – selbstredend in memoriam. Ist Hamnet also Hamlet? Und ist die Tragödie Hamlet ein maskiertes Drama über den allzu frühen Tod des Sohnes und somit ein mit Trauerrand versehener Blick ins Familienalbum der Shakespeares? Wo es um Shakespeare und Hamlet geht, erscheint keine interpretatorische Verwegenheit zu verwegen, um nicht doch ihre Liebhaber*innen zu finden.

Bleiben wir noch einen Moment bei der Dubliner Herrenrunde, die Sie ganz richtig als jene aus James Joyces herrlichem Ungetüm namens Ulysses erkannt haben. Diese trinkfesten, ewig palavernden Herren werfen zwar die oben erwähnte Frage des Quid pro quo in die Runde, um die Angelegenheit am Ende doch lieber ruhen zu lassen. Das sei „Herumschnüffeln im Familienleben eines großen Mannes“, nichts anderes als ein Herumspähen „im Kulissenklatsch des Tages, wie der Dichter soff, wieviel Schulden er machte“. Weg damit, schließlich haben wir sein unsterbliches Werk. Aber hatte der „große Mann“ nicht vielleicht auch eine „große Frau“ an seiner Seite? Und wenn es so wäre, worin hätte ihre Größe bestanden?

Wenn wir alle Fakten über Shakespeares Ehe, seine Frau, seine Kinder, seine Eltern zusammentragen, würden wir damit allerhöchstens zwei Seiten eines Blattes füllen. Mehr ist es nicht, was wir über William und die Seinen wissen. Das ist wirklich nicht viel und doch genug, um daraus dicke Romane zu zaubern. Es existiert kein einziger Brief des Dramatikers an seine Ehefrau Anne, eine geborene Hathaway, und wir wissen nicht einmal, woran Hamnet tatsächlich starb oder sonst etwas Privates oder gar Intimes. Aber schriftstellerische Fantasie vermag die gewaltigen Lücken mühelos zu schließen.

Maggie O’Farrell hat in ihrem jüngsten Roman gezeigt, wie das mit dem Kulissenklatsch auf gut vierhundert Seiten geht und wie daraus eine Art feministische Ehrenrettung für die uns so völlig unbekannte Anne Shakespeare wird. Immerhin stellt sie ihrem Roman eine „Historische Anmerkung“ voran, mit der sie unser spärliches Wissen auf den Punkt bringt: „In den 1580er Jahren hatte ein Paar, das in der Henley Street, Stratford, wohnte, drei Kinder: Susanna, dann Hamnet und Judith, die Zwillinge waren. Der Junge, Hamnet, starb 1596 im Alter von elf Jahren. Etwa vier Jahre später schrieb sein Vater ein Stück namens Hamlet.“

Der Originaltitel des Romans lautet schlicht Hamnet, was für die deutsche Übersetzung wohl zu wenig war, weshalb nun auf dem Buchumschlag Judith und Hamnet stehen. Die kommen selbstverständlich in dem Roman vor, aber in Wahrheit geht es um Anne Hathaway, die Mutter der Zwillinge, die jetzt kurioserweise Agnes heißt und auf jeden Fall die Hauptrolle spielt als eine recht eigenwillig wundersame, selbstbewusste, naturverbundene, seherisch begabte Ehefrau und Mutter. Diese starke Frau aus einer Epoche, die selbst nach einer Frau benannt ist und bekanntlich die Elisabethanische heißt, verdrängt ihren berühmten Ehemann mit Leichtigkeit aus unserem Blick, der ohnehin die meiste Zeit im fernen London weilt, um dort jedoch ordentlich Kohle zu machen und recht produktiv die Theatergeschichte mit einem Klassiker nach dem anderen zu beliefern. Was er dort darüber hinaus noch treibt, weiß Agnes so wenig wie wir Leser*innen, aber nehmen anstandshalber Anteil an ihrer Eifersucht. Wir wissen ja wie die Männer sind, die immer von Liebe reden, gar noch Liebessonette schreiben und doch was ganz anderes meinen. Auch wissen wir nicht einmal, wer da eigentlich angebetet wird. An diesen Spekulationen allerdings beteiligt sich die Autorin dann doch lieber nicht, schließlich soll es am Ende ein wenig versöhnlich zugehen.

Also schauen wir uns um auf der Stratforder Familienbühne und lassen das Londoner Globe links liegen. Maggie O’Farrell erzählt zwei Geschichten im steten Wechsel. Sie verlaufen im ersten Teil des Romans auf zwei sich langsam aufeinander zubewegenden Zeitspuren. Im zweiten Teil sind die Zeitschienen mit dem Tod Hamnets zu einer verschmolzen. Die eine Erzählung handelt von den Zwillingen, der tödlichen Krankheit und wie sie den weiten Weg von Ägypten bis nach England nimmt, wie die beiden Kinder den Gevatter Tod täuschen und wie durch diese Täuschung nicht Judith, die zum Sterben „bestimmt“ war, sondern ihr Zwillingsbruder Hamnet dem Sensenmann zum Opfer fällt. Dem Tod ist es gleich, wenn er holt, Hauptsache er bekommt eine Seele. 

Der zweite Erzählstrang handelt von Agnes und Will und davon, aus welchen Familien sie kommen, wie sie sich begegnen, zum ersten Mal Sex haben (wollten wir wirklich wissen, wie durch die lustvollen Stöße die Äpfel im Regal der Speisekammer zu tanzen beginnen?), wie Agnes für jedes Weh und Herzeleid ein Kraut kennt, wie sie sich im ewigen Kampf zuerst gegen die Stief- und später gegen die Schwiegermutter durchzusetzen weiß. Dazu kommt hin und wieder Bettgeflüster, ab und zu ist es ein Brief aus London, dazwischen Haushalt, Kochen, Wäschewaschen – das übliche Programm.

Wenn man so will, stand kein Geringerer als der Kulturhistoriker Stephen Greenblatt Pate für diesen Roman, denn mit seinem Vortrag The Death of Hamnet and the Making of Hamlet von 2003 (im Jahr darauf in The New York Review publiziert) liefert er O’Farrell gewissermaßen literarisch-imaginative Munition. Aber Greenblatts kulturhistorische Exkursionen waren sonst origineller als ausgerechnet in dem erwähnten Vortrag. Denn was wollte uns Shakespeare sagen, wenn er in Hamlet tatsächlich seinen Sohn ein Denkmal hätte setzen wollen? Für O’Farrell indes ist klar, der Vater habe für den Sohn sterben wollen: „Er hat getan, begreift Agnes, was sich jeder Vater gewünscht hätte: das Leiden seines Kindes gegen sein eigenes einzutauschen, sich selbst anstelle des Sohnes zu opfern, damit der Junge vielleicht lebt.“

Vielleicht wurden Romane ja schon aus dürftigeren, fadenscheinigeren Gründen geschrieben. Immerhin darf man der Autorin zugutehalten, wie sehr sie sich auf Atmosphärisches versteht, mit welcher Fülle sie Farben, Gerüche, die Natur in ihrer ganzen Pracht ins Spiel bringt und die Umgebung von Stratford in einen wilden, blumenreichen Garten verwandelt mit einer Heldin darin, die schon als Kind den Leuten in die Seele blicken konnte und die sich dabei am wenigsten um das Gerede der Leute schert. „Es ist keine Spur Härte in ihr“, weiß O’Farrell über Agnes alias Anne Shakespeare, geborene Hathaway. Die New York Times hielt diesen Roman für einen der zehn besten des Jahres 2020.

Titelbild

Maggie O'Farrell: Judith und Hamnet. Roman.
Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag.
Piper Verlag, München 2020.
415 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492070362

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch