Kolonialismus – Rassismus – Völkermord

Arthur Penns Film „Little Big Man“ hat nach 50 Jahren noch immer nichts von seiner Aktualität verloren

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

 Colonisation et civilisation?
La malédiction la plus commune en cette matière
est d’être la dupe de bonne foi d’une hypocrisie collective,
habile à mal poser les problèmes
pour mieux légitimer les odieuses solutions qu’on leur apporte.
Aimé Césaire, Schriftsteller, Martinique

Before fascism at home there was fascism abroad,
it was only named colonialism.
Salimullah Khan, Schriftsteller, Bangladesch

Am 23. Mai 1934 endete auf dem Highway 154 in der Nähe von Gibsland, Louisiana, das Leben des 25jährigen Gelegenheitsarbeiters Clyde Chestnut Barrow, Sohn verarmter Landarbeiter, und seiner Begleiterin, der 23jährigen Bonnie Elizabeth Parker, Tochter eines Maurers. Sie starben im Kugelhagel eines FBI-Kommandos, zerfetzt von über hundert Schüssen. In den Jahren der ‚Großen Depression‘, die dem Börsencrash von 1929 folgten und in denen Millionen Amerikaner arbeitslos wurden, hatten sie sich den amerikanischen Traum (‚vom Tellerwäscher zum Millionär‘) auf ihre Art zu erfüllen versucht: mit individueller Gewalt. Das konnte im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem seit jeher das Recht und die Gesetze der wirtschaftlich Stärkeren gelten, nicht gutgehen. In Barrows Taschenkalender für das Jahr 1933 fand sich dazu dieses in unbeholfenem Englisch verfasste Gedicht:

We donte want to hurt anney one
But we have to steal to eat
And if it‘s a shoot out to
To live that‘s the way it
Will have to bee

In der Dreigroschenoper wird das verehrte Publikum gefragt: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ In Arthur Penns Film Bonnie and Clyde deutet Warren Beatty auf Faye Dunaway und sagt, den Blick auf das Publikum gerichtet: „Das ist Miss Bonnie Parker. Mein Name ist Clyde Barrow. Wir rauben Banken aus.“ Ja, das Gangsterepos aus dem Jahr 1967 kann man als filmische Fortsetzung der Gangsterballade von 1928 verstehen.

Arthur Penn (1922-2010) gehörte zu den gesellschaftskritischen Regisseuren des New Hollywood der späten 1960er Jahre, der in seinem – vordergründig als Gangster-Roadmovie inszenierten – Film den hintergründigen Zusammenhang von individueller und strukturell-gesellschaftlicher Gewalt thematisierte. Ein kurzer Blick in die Statistik offenbart diesen Zusammenhang so: Aus dem 1791 im 2. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten verbrieften Recht der US-Bürger, Waffen zu tragen, um sich gegen ‚Wilde‘ und andere ‚Gesetzlose‘ zu verteidigen, wurde das Gesetz des Dschungels, dem 2018 in den USA 14.771 Menschen zum Opfer fielen. Hinzu kamen 28.236 durch Schusswaffen Verletzte (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/579175/umfrage/vorfaelle-und-todesfaelle-durch-schusswaffen-in-den-usa/ – Aufruf 1.7.2020).

Die glamouröse Mischung aus Erotik und Tod, die Arthur Penns Gangsterballade zum Kassenschlager werden ließ, inspirierte Serge Gainsbourg zur Komposition des Liedes Bonnie and Clyde, das er 1968 gemeinsam mit Brigitte Bardot zu Gehör brachte. Die Zeitschrift Rolling Stone wählte es 2014 auf Platz 15 der besten dramatischen Duette aller Zeiten. Im selben Jahr wurde die Westernburleske Little Big Man (1970) – nach Alice’s Restaurant von 1969 war das der dritte große Wurf des Regisseurs – ins National Film Registry aufgenommen (ein Verzeichnis besonders erhaltenswerter US-amerikanischer Filme, in das Arthur Penns Bonnie and Clyde, der als einer der Kultfilme der 68er gilt, bereits 1992 eingetragen wurde).

Ein Weißer, der die Farben wechselte

Im Film Little Big Man thematisiert Arthur Penn den amerikanischen Traum vom Sieg des Gesetzes über die Gewalt – dem das Trauma gesetzloser Gewalt zugrunde liegt – diesmal nicht am Beispiel gesetzestreuer Ordnungshüter, die Gesetzlose quer durchs Land jagen, um sie zur Strecke zu bringen, sondern am Beispiel des staatlich orchestrierten Krieges der weißen Siedler gegen die indigene Bevölkerung Nordamerikas. Mit dem religiös verbrämten Glauben an die Überlegenheit ihrer ‚Zivilisation‘ und ‚Rasse‘ legitimierten diese Siedlerkolonisten ihren Anspruch auf das Land – und die Verfügung über indigene und schwarze Arbeitssklaven. Gibt es ein eindrucksvolleres Sinnbild für rassistische Unterdrückung als jene Szene, die sich am 25. Mai 2020 in Minneapolis abspielte, als ein weißer Polizist einem zu Boden geworfenen schwarzen Gefangenen das Knie solange in den Nacken presste, bis er keine Luft zum Atmen mehr hatte? I can’t breathe: George Floyd war nicht der erste Afroamerikaner, der auf diese Weise zu Tode kam.

In Arthur Penns Film Little Big Man geht es um die Lebensgeschichte eines Weißen (gespielt von Dustin Hoffman), der immer wieder die Farbe wechselt. Das heißt, Jack Crabb pendelt zwischen der ‚weißen‘ und der ‚roten‘ Kultur hin und her. Die Natur hat ihn zwar nur mit einer sehr geringen Körpergröße ausgestattet, dafür gab sie ihm aber viel ungestümen Mut mit. Die Cheyenne (übersetzt: die ‚Menschenwesen‘), bei denen er seine Jugendjahre verbrachte, gaben ihm deshalb den Namen Little Big Man. Wer würde beim Klang dieses Kriegernamens nicht an die Schlacht am Little Bighorn River denken? Dort brachten die unter Sitting Bull und Crazy Horse vereinten Lakota- und Dakota-Sioux, Arapaho und Cheyenne dem 7. US-Kavallerie-Regiment unter Führung von General Custer am 25. Juni 1876 eine vernichtende Niederlage bei.

„Der Westernmythos geht aus der Siegergeschichtsschreibung hervor, als nachträgliche Rechtfertigung der Expansionspolitik und des Genozids an der indigenen Bevölkerung. Der wohl langlebigste aller amerikanischen Mythen ist der Mythos der Frontier, jener Grenzlinie, die sich bei der Landnahme durch die Europäer, die vom Osten aus das Land in Richtung Westen in Besitz nahmen, immer weiter verschob. Östlich der Frontier lag die Zivilisation, westlich von ihr die Wildnis“ (Dagmar Brunow, 2013: Western: Zwischen nationalem Kino und transnationaler Hybridkultur). Eingangs greift der Film zwar noch dieses Klischee des klassischen Hollywood-Western auf, demzufolge friedliche Siedler in ein kaum bewohntes Land einwanderten, das sie kultivieren wollten (‚wo Wildnis war, soll ein neuer Garden Eden erblühen‘), bei diesem edlen Vorhaben jedoch von blutrünstigen Wilden angegriffen wurden, gegen die sie sich in der ihnen aufgezwungenen Notwehrsituation verteidigen mussten, um ihre weiße (Kopf-)Haut zu retten, auf die es die Wilden abgesehen hatten. Dann aber wird dieses Klischee Szene um Szene hinterfragt und dem Zuschauer Schritt für Schritt die Gewalt vor Augen geführt, die mit diesem Zivilisationsprojekt verbunden war.

Jack Crabb, der multikulturelle Held des Films, war als Zehnjähriger mit seinen Eltern in der Prärie unterwegs, als der Siedlertreck von Pawnees überfallen wurde. Seine fiktive Geschichte ähnelt in vielerlei Hinsicht der wahren Geschichte des „weißen Indianers“ Hermann Lehmann (1859-1932), der in seiner Autobiographie (Nine Years Among the Indians, 1870-1879: The Story of the Captivity and Life of a Texan Among the Indians. Boeckmann-Jones Co., Austin, 1927; Nachdruck: University of New Mexico Press, Albuquerque, 1993) beschreibt, wie er als Zehnjähriger mit seinem Bruder William (der später wieder fliehen konnte) von Apachen geraubt und erst neun Jahre später im Indianerreservat der Kiowa, Comanche und Apachen in der Nähe von Fort Sill (Oklahoma) wieder aufgefunden und zu seiner Familie zurückgebracht wurde. Im Film überleben Jack und seine Schwester den Angriff der Pawnees. Sie werden in den rauchenden Trümmern des Trecks von einem Cheyennekrieger entdeckt, der sie in sein Dorf mitnimmt. Während die Schwester fliehen kann, wächst Jack als adoptierter Enkel des Häuptlings Old Lodge Skins auf. So lernt er die Lebensphilosophie der ‚Wilden‘ kennen. Als er nach einem Angriff seinen neuen Großvater fragt, warum die Weißen nicht nur Krieger, sondern auch Frauen und Kinder umbringen, erhält er die Antwort: „Sie scheinen nicht zu wissen, wo der Mittelpunkt der Erde ist.“ Als eine US-Einheit bei einem weiteren Angriff das Cheyenne-Lager überfällt, in dem Litttle Big Man  inzwischen eine neue Heimat gefunden hat – dieser Angriff ist ein Pendant zur Eingangsszene des Films, dem Überfall der Pawnee auf den Treck seiner Ursprungsfamilie – kommt Jack zum zweiten Mal mit dem Leben davon, diesmal, weil er sich einem der Mordgesellen im blauen Armeerock als ein von den Wilden geraubter Weißer zu erkennen gibt.

Jetzt überschreitet Little Big Man alias Jack Crabb die Grenze zwischen der Wildnis und der Zivilisation zum zweiten Mal, diesmal allerdings in umgekehrter Richtung. Die Abenteuer, die er bei seinen Expeditionen in das jeweils andere Territorium erlebt hat, beschreibt er Jahrzehnte später als alter Mann in einer Rückblende (mit der der Film beginnt). Dabei wird deutlich, dass er als junger Mann den Schrecken der Indianerkriege der 1860/70er Jahre in Nordamerika ähnlich naiv gegenüberstand wie Simplicissimus, der Held in Grimmelshausens gleichnamigen Schelmenroman, seinerzeit den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges.

Jacks Lebensgeschichte wird ganz ähnlich erzählt. Über weite Strecken gleicht sie einer Burleske, die sich jedoch plötzlich und unerwartet immer wieder in eine neue Hölle auf Erden verwandelt, bei deren Anblick dem Zuschauer das Lachen im Halse stecken bleibt. So etwa, wenn der Film das Massaker zitiert, das die 7. US-Kavallerieeinheit im Morgengrauen des 27. November 1868 am Ufer des Washita River verübte. Gezeigt wird jetzt, wie die Soldaten, begleitet von den Klängen der Regimentskapelle, das Lager der Cheyenne überfallen. Sie töten einige wenige Krieger und ermorden zahlreiche Frauen und Kinder. Anschließend schlachten sie die Ponys der Cheyenne ab. Ein Jahr zuvor, im Oktober 1867, hatte der Große Weiße Vater in Washington den Cheyenne noch eingeschränkte Land- und Jagdrechte zugesichert, „solange Gras wächst, Wind weht und der Himmel blau ist“. Jetzt war dieser Vertrag – wie alle anderen scheinlegalen Verträge, mit deren Hilfe das Land der First Nations Stück für Stück geraubt wurde – das Papier nicht mehr wert, auf dem er stand.

Die Szene des Überfalls auf das Cheyennelager ist als zweifaches historisches Zitat zu verstehen. Zum einen bezieht sie sich, wie gesagt, auf das Massaker am Washita River; zum anderen wird auf ein Massaker Bezug genommen, das hundert Jahre später, am 16. März 1968, stattfand. Eine US-Kompanie unter Führung von Lieutenant Calley überfiel damals das vietnamesische Dorf My Lai und brachte hunderte Zivilisten um – keine Vietcongs, sondern Frauen, Kinder und Greise. Lieutenant Calley tötete bei diesem Überfall ein zweijähriges Kind, einen Mönch und eine Frau, die auf einer Trage zum Wassergraben gebracht wurde, an dem die Dorfbewohner warten mussten, bis sie mit Maschinengewehrsalven niedergemacht wurden. Anschließend brachte die Truppe in guter alter Tradition der Indianerkriege noch die Tiere der Dorfbewohner um.

In seiner Rede am 4. Juli 2020 zum so genannten ‚Unabhängigkeitstag‘ äußerte Donald Trump, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten: „Unsere Nation wird gerade Zeuge einer mitleidlosen Kampagne, um unsere Geschichte auszulöschen, unsere Helden zu diffamieren, unsere Werte auszuradieren und unsere Kinder zu indoktrinieren.“ Damit zielte er auf die antirassistischen Demonstrationen, die nach dem Tod von George Floyd in Minneapolis begannen und mancherorts dazu führten, dass die Denkmäler von Sklavenhändlern und anderen Rassisten niedergerissen wurden. Als Beispiel für die von ihm gemeinte unpatriotische Gesinnung hätte Donald Trump aber auch das Urteil anführen können, das der Supreme Court im Juli 2020 fällte. Das oberste Gericht der Vereinigten Staaten kam darin zu dem Schluss, dass aufgrund eines 1833 geschlossenen Vertrags etwa die Hälfte des US-Bundesstaates Oklahoma rechtlich als Stammesgebiet der Creek zu gelten habe. „Der Kongress hat seitdem mehr als nur ein paar Versprechen an den Stamm gebrochen. Trotzdem besteht das Creek-Reservat bis heute“, argumentierten die Richter, die damit die Einsprüche des republikanischen Gouverneurs von Oklahoma Kevin Stitt und der Trump-Administration zurückwiesen. Trump hätte aber auch den Film Little Big Man als Beispiel für ‚Vaterlandsverrat‘ anführen können, denn Arthur Penn stellte darin ebenfalls die ‚Werte‘ infrage, die Trump bei seiner scheinpatriotischen Rede als ‚unsere‘ Werte vereinnahmte. Apropos absurdes Theater: 1947 beantwortete der vor den Nationalsozialisten in die USA geflohene Bertolt Brecht in Schwejk’scher Manier Fragen, die ihm der Anwalt eines Komitees für unamerikanische Umtriebe stellte – und brachte den biederen Mann damit an den Rand der Verzweiflung, beziehungsweise an die Grenzen seines Verstands.

Die antirassistische Botschaft des Films Little Big Man stellt die hegemoniale US-Geschichtserzählung infrage, die Trump im Juli 2020 zu Fuße des Mount Rushmore, die vier Präsidenten George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt (ich komme auf ihn noch zurück) und Abraham Lincoln im Rücken, nun abermals beschwor. In dieser Erzählung werden die Ausrottung der Ureinwohner Nordamerikas und die Sklaverei meist nur am Rande erwähnt oder, wenn überhaupt, dann oft als zeitbedingte Übel verharmlost. Der Film hingegen greift das Geschichtsverständnis der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und der Antivietnamkriegsdemonstrationen der 1960er Jahre in den USA auf – und repräsentiert damit das ‚andere‘ Amerika. Das gilt auch für den an der Boston University lehrenden Historiker Howard Zinn (1922-2010), der in A People’s History of the United States, 1980 (dt. Geschichte des amerikanischen Volkes, 2007) den Verlierern der US-Geschichte – den Ermordeten, den Versklavten, den Unterdrückten – wieder eine Stimme und damit ein Recht auf Gehör gab.

Die Wildnis, die Barbarei, der Fortschritt – quo vadis?

Mit Hilfe der scheinwissenschaftlichen Konstruktion unterschiedlicher Menschenrassen ließ sich im 19. Jahrhundert der Preis, der für den Fortschritt zur Zivilisation zu entrichten war, vermeintlich rechtfertigen. Man sprach jetzt von der Überlegenheit der weißen ‚Rasse‘ und ergänzte auf diese Weise die althergebrachte These von der Überlegenheit der Christenheit, deren heilsgeschichtlicher Auftrag es sein sollte, die ‚Heiden‘ zu bekehren, um sie vor der Verdammnis zu bewahren. Eine Geschichtskonstruktion dieser Art, die half, den Fortschritt, wenn nicht als göttlichen Auftrag, so doch als begrüßenswertes Resultat historischer Evolution darzustellen, lieferte unter anderen der US-Anthropologe Lewis Henry Morgan. In seinem Buch Ancient Society (1877) stellte er den Fortschritt der Menschheit vom Zustand der Wildheit über die Barbarei bis hin zur Zivilisation so dar, dass „die eigene Gesellschaft wie selbstverständlich an der Spitze der Menschheitsgeschichte“ stehen musste – wie Aram Mattioli in Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas (2018) kritisch anmerkt. Dieser an der Universität Luzern lehrende Historiker hat im Vorwort seines Buches auf den Film Little Big Man hingewiesen, weil der dazu beigetragen habe, dass er sein wissenschaftliches Interesse der Erforschung von Siedlungskolonialismus, Rassismus und Massengewalt widmete.

In einem Kapitel seines Buches geht Mattioli auf die Weltausstellung ein, die 1893 in Chicago stattfand, bei der die ‚Entdeckung‘ Amerikas, die sich am 14. Oktober 1492 ereignet haben soll, mit Pomp und Gloria gefeiert wurde. Die mit dieser Entdeckung für die Entdeckten verbundene Tragik hat Georg Christoph Lichtenberg in einem Aphorismus treffend so zum Ausdruck gebracht: „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“ Die Stimme der Vernunft, die, wie Freud meinte, stets nur leise zu hören ist, war auch in Chicago nur am Rande zu vernehmen. Sie gehörte Simon Pokagon, einem Potawatomi, dessen Vater den Vertrag mitunterzeichnen musste, durch den die Herren der Geschichte das Land in Besitz nehmen konnten, auf dem Chicago erbaut wurde. Die Nachkommen der Opfer der weißen „Rassenexpansion“ – mit dieser Bezeichnung hat Theodore Roosevelt, der von 1901 bis 1909 amtierende 26. Präsident der Vereinigten Staaten, den Kern des Fortschritts zur Zivilisation unfreiwillig offenherzig bloßgelegt – hatten gewiss keinen Grund, die ‚Entdeckung‘ ihrer Vorfahren auch noch zu feiern. Pokagon, der in mehreren Petitionen vergebens die Bezahlung der im Vertrag genannten finanziellen Entschädigung eingefordert hatte, meldete sich anlässlich der Chicagoer 500-Jahrfeier der Entdeckung Amerikas im Namen der noch lebenden Nachkommen der Entdeckten so zu Wort: „Nein, eher würden wir einen hohen Festtag über den Gräbern unserer Verstorbenen begehen als unsere eigene Beerdigung, die Entdeckung Amerikas, zu feiern“ (zit. n. Mattioli).

Musste man sich ehedem noch auf den jeweiligen nationalen Gott berufen, wenn man Völkermord und Landraub rechtfertigen wollte, so gab es im 19. Jahrhundert endlich ‚wissenschaftliche‘ Argumente, die der Evolutionstheorie und der Rassenlehre entnommen wurden, mit deren Hilfe nun ‚vernünftig’ begründet werden konnte, wem das Recht zustand, sich die Erde und mit ihr alle anderen Völker untertan zu machen. Dass das nicht ohne Blutvergießen durchzuführen war, wusste Roosevelt, der 1906 für seine Vermittlung im Russisch-Japanischen Krieg den Friedensnobelpreis erhielt und auch sonst bisweilen ein recht feinfühliger Mensch sein konnte. Zum Beispiel 1902, als er durch die Wälder Mississippis streifte, aber keinen Bären zu Gesicht bekam, den er als Trophäe mit nach Hause hätte nehmen können. Deshalb habe man ihm schließlich ein an einen Baum gebundenes Bärenbaby vor die Flinte gesetzt, lautet eine Überlieferung, doch Theodore (‚Teddy‘) Roosevelt habe sich geweigert, das Tier zu erschießen. Dieser barmherzigen Tat verdanke – so geht die Legende weiter – der ‚Teddybär‘ seinen Namen. Wenn es um Menschen und nicht um einen kleinen niedlichen Bären ging, war Roosevelt weniger sentimental: „Der am meisten gerechtfertigte Krieg ist der Krieg mit den Wilden, auch wenn er dazu neigt, der grausamste und inhumanste zu sein. Die ganze zivilisierte Menschheit steht in der Schuld des rauen Siedlers, der den Wilden das Land weggenommen hat […]. [E]s ist von unermesslicher Bedeutung, dass Amerika, Australien und Sibirien aus den Händen der roten, schwarzen und gelben Ureinwohner genommen und zum Erbe der dominanten Rassen der Welt“ wurden (Roosevelt: Winning of the West, 1889 – zit. n. Rünzler: Im Westen ist Amerika. Die Metamorphose des Cowboys vom Rinderhirten zum amerikanischen Helden, 1995).

Ja, der „Krieg mit den Wilden“, wie Roosevelt die Vernichtungs- und Ausrottungsfeldzüge gegen die indigenen Völker beider Amerika nannte – womit er sich und seinesgleichen sprachlich zu exkulpieren versuchte – war an Grausamkeit nicht zu überbieten. Das im November 1868 am Washita River an den Cheyenne verübte Massaker durch das von General Custer gegründete 7. US-Kavallerie-Regiment wurde bereits erwähnt. Zwölf Jahre später richteten die Angehörigen dieses Regiments ein weiteres Blutbad an, das man wohl als Rache für den Sieg der Sioux am Little Bighorn River 1876 verstehen kann (in dieser Schlacht war General Custer gefallen). Jetzt, im Dezember 1890, ermordeten die Soldaten des 7. US-Kavallerie-Regiments am Wounded Knee Creek in South Dakota hunderte wehrlose Angehörige der Sioux-Stämme. Als das Massaker vorbei war, so berichtete es später Häuptling American Horse‚ „‚lag eine Frau auf dem steinhart gefrorenen Boden, ein Baby in ihren Armen. Sie war getötet worden, als sie die weiße Flagge der Waffenruhe fast schon berühren konnte. Das Kind, nicht ahnend, dass seine Mutter tot war, saugte noch immer an ihrer Brust.‘ Frauen, die mit ihren Söhnen und Töchtern zu fliehen versuchten, seien gejagt und erschossen worden. Als die meisten leblos auf der Erde lagen, hätten Offiziere gerufen, wer sich jetzt noch irgendwo verkrieche, solle sich zeigen, es werde keinem etwas geschehen. ‚Kleine Jungen wagten sich aus ihren Verstecken. Sobald sie in Sichtweite waren, wurden sie umzingelt und abgeschlachtet‘“ (Rheinische Post, 19.12.2019). Für die Teilnahme an dieser Schlachterei erhielten die Mörder die höchste militärische Auszeichnung, die die amerikanische Regierung zu vergeben hat: die Medal of Honor. Angehörige der Cheyenne River Sioux forderten 2001, diese Auszeichnungen seien zu widerrufen. Debra Haaland, mit Sharice Davids eine der beiden ersten Abgeordneten indianischer Abstammung im Repräsentantenhaus, brachte dort 2018 eine entsprechende Resolution ein. Elisabeth Warren, Abgeordnete der US-Demokraten im Senat, schloss sich 2019 – vorerst ebenfalls vergebens – dieser Forderung an. Solange ein Rassist im Weißen (sic!) Haus sitzt, ist mit der Aberkennung der Ehrenzeichen für Rassisten wohl kaum zu rechnen. Schließlich denkt Donald John Trump genauso wie sein südamerikanisches Pendant Jair Messias Bolsonaro, der in den 1990er Jahren öffentlich bedauerte, dass es nicht gelungen sei, die indigene Bevölkerung Brasilien auszulöschen. Bei dieser Gelegenheit blickte er neidvoll auf die Geschichte Nordamerikas und meinte: „Die US-Kavallerie war dazu fähig, die haben die amerikanischen Ureinwohner dezimiert“ (https://www.welt.de/debatte/kommentare/article186019368/Indigene-Gemeinden-Die-stummen-und-unsichtbaren-Voelkermorde-im-Regenwald.html  – Aufruf 18.7.2020).

An dieser Stelle sei Tzetan Todorovs Buch Die Eroberung Amerikas, das Problem des Anderen (1985) genannt, in dem das Ergebnis der Vernichtung der amerikanischen Völker durch die Horden, die aus Europa kamen, so zusammengefasst wird: „Wenn das Wort Völkermord jemals wirklich zutreffend verwandt worden ist, dann zweifellos in diesem Fall. Es handelt sich dabei […] nicht nur in relativen Zahlen (Vernichtung in der Größenordnung von 90 Prozent und mehr) um einen Rekord, sondern auch in absoluten, da wir es mit einer Dezimierung der Bevölkerung von schätzungsweise 70 Millionen Menschen zu tun haben. Keines der großen Massaker des 20. Jahrhunderts kann mit diesem Blutbad verglichen werden.“ Hätte es ‚unsere‘ Zivilisation ohne die ihr innewohnende Barbarei überhaupt geben können? Will man ‚unsere‘ Geschichte mit den Augen der Anderen lesen, kann man – zum Beispiel – dieses Buch einer Nachkommin schwarzer Sklaven und indigener Einwohner Südamerikas zur Hand nehmen: Weiße Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis (2004). Nach Auffassung der Autorin Rosa Amelia Plumelle-Uribes sei es „höchste Zeit […] anzuerkennen, dass die Opfer der weißen Vorherrschaft der Menschheit angehörten“. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen – die Menschenwürde gilt schließlich für alle. Nein! Jahrhundertelang war es selbstverständlich, in Nicht-Weißen keine oder allenfalls minderwertige Menschen zu sehen. Bevor wir also wieder gedankenlos vom ‚Rückfall in die Barbarei‘ oder von einem ‚Zivilisationsbruch‘ reden, sollten wir nachdenken: Was wollen wir damit sagen … und was müssen wir dabei verschweigen?

Zurück zum klassischen US-Western. Die rassistische Ideologie war immanenter Bestandteil der Erzählungen, die er bebilderte. Das latent schlechte Gewissen der Nachkommen der Täter sollte mit Hilfe einer mehr oder weniger plumpen Täter-Opfer-Umkehr beruhigt werden. Das geschah, indem man Völkermord und Landraub als Notwehrdramen und Heldenepen inszenierte. Und mit Hilfe der schöngefärbten Bilder der angeblich unberührten Natur des weiten Landes im Westen wurde die tatsächliche Naturzerstörung kaschiert. Gab es in der nordamerikanischen Prärie vor der Ankunft der Weißen schätzungsweise dreißig Millionen Bisons, lebten am Ende des 19. Jahrhunderts noch achthundert dieser Tiere, zweihundert davon im Yellowstone Nationalpark. Die Selbstgerechtigkeit, mit der sich die Weißen im Hollywood-Western der Geschichte der Kolonisierung bemächtigten, hat keiner besser zur Schau gestellt als John Wayne, nach dem noch heute ein Flughafen südlich von Los Angeles benannt ist, der nach Auffassung der US-Demokraten längst umbenannt werden sollte. In der Rolle des Indianerjägers, des Kavalleriekommandanten oder des Sheriffs trat John Wayne im ‚Wilden‘ Westen für die ehernen Gesetze der Zivilisation ein. Und im wirklichen Leben? Auch da nahm er kein Blatt vor den Mund – beziehungsweise für sich und seinesgleichen das Recht der Stärkeren in Anspruch. So sagte dieser unbeugsame Vertreter ‚unserer‘ Werte in einem Interview, das er 1971 dem Playboy gab: „Unser so genannter Raub dieses Landes war schlicht eine Frage des Überlebens. Es gab eine große Anzahl von Menschen, die neues Land benötigte; und die Indianer versuchten selbstsüchtig, dieses für sich […] zu behalten“ (zit. n. Mattioli).

40 Pfund Sterling für einen Skalp

Im Film Little Big Man, der zum Genre der ‚Anti-Western’ gehört, werden die gängigen Hollywoodwesternklischees aufgegriffen, um sie in ihrer moralischen Doppelbödigkeit zu entlarven. Das geschieht zum Beispiel, als Jack Crabb, nachdem er den Überfall auf das Cheyennelager heil überstanden hat, wieder in der weißen Welt beziehungsweise in der des Predigers Pendrake lebt, der das Gegenbild seines indianischen Großvaters ist. Dieser fromme Mann bedauert den kleinen Wilden, weil der bei den Indianern gewiss „nichts von Gott, Sitte und Moral“ gehört habe. Jetzt aber soll Jack endlich ein zivilisierter Mensch werden. Zu diesem Zweck kommt er in die Hände der Ehefrau des Predigers, die ihn erst einmal lüstern in die Badewanne steckt, einseift und abschrubbt. In der Rolle dieser ehrenwerten Frau sehen wir Faye Dunaway wieder, die in Arthur Penns Gangsterfilm Bonnie and Clyde noch Banken ausrauben durfte. Jetzt vertritt sie Anstand und Moral und darf Jack Lesen und Schreiben beibringen. Sie lehrt ihn – unfreiwillig – aber noch viel mehr, nämlich: wie man Tugendhaftigkeit in der Öffentlichkeit heucheln und ‚sündige‘ Wünsche im Hinterzimmer ausleben kann. Der alte Jack Crabb schildert, als er auf sein Leben zurückblickt, diese Szene, in der er als junger Mann die fromme Frau in den Armen des Krämers überraschte, mit dem sie den ihr angetrauten Gottesmann betrog. An dieser Stelle hört man aus dem Off den Kommentar: „Damit war mein Bedarf an Religion gedeckt.“ Um das Gewicht dieser Aussage zu ermessen, muss man die Bedeutung kennen, die die Religion in der US-Politik hatte – und noch immer hat.

Nachdem die so genannten Pilgerväter, Angehörige einer besonders radikalen Strömung des Puritanismus, im Dezember 1620 in der ‚neuen‘ Welt ankamen, gründeten sie dort (im heutigen Massachusetts) eine Kolonie. Ein Jahr später, im Herbst 1621, feierten sie – so lautet eine Erzählung, die erklären soll, wie es zum Thanksgiving Day kam – mit den Ureinwohnen, den Wampanoag, ein Erntedankfest, da sie im Winter zuvor von den Angehörigen dieses Stammes Lebensmittel erhalten hatten, wodurch sie sich vor dem Hungertod retten konnten. Die Dankbarkeit der Neuankömmlinge währte jedoch nicht ewig. Später, als sie genug zu essen hatten, töteten, vertrieben oder versklavten sie die Wampanoag. „Die Behandlung der Eingebornen war natürlich am tollsten in den nur zum Exporthandel bestimmten Pflanzungen, wie Westindien, und in den dem Raubmord preisgegebenen reichen und dichtbevölkerten Ländern, wie Mexiko und Ostindien. Jedoch auch in den eigentlichen Kolonien [in ‚Neuengland‘, den heutigen US-Staaten Connecticut, New Hampshire, Maine, Massachusetts, Rhode Island und Vermont] verleugnete sich der christliche Charakter der ursprünglichen Akkumulation nicht. Jene nüchternen Virtuosen des Protestantismus, die Puritaner Neu-Englands, setzten 1703 durch Beschlüsse ihrer Assembly eine Prämie von 40 Pf[un]d. St.[erling] auf jedes indianische Skalp und jede gefangene Rothaut, 1720 Prämie von 100 Pfd. St. auf jedes Skalp, 1744 […] folgende Preise: für männliches Skalp, 12 Jahre und darüber, 100 Pfd. St. neuer Währung, für männliche Gefangne105 Pfd. St., für gefangene Weiber und Kinder 50 Pfd. St., für Skalps von Weibern und Kindern 50 Pfd. St.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd.1http://ciml.250x.com/archive/marx_engels/german/kapital1.pdf – Aufruf 4.7.2020).

Die innige Verbindung von tatsächlicher oder auch nur vorgespielter Gottesfurcht und Geschäftssinn hält in den USA bis heute an: Achtzig Prozent der Evangelikalen stimmten bei der Präsidentschaftswahl 2016 für Donald Trump. Dessen Vizepräsident Mike Pence gehört zur ‚christlichen Rechten‘, deren Vertreter – wie der Präsident selbst – die kapitalistische Wirtschaftsordnung als Ausdruck göttlichen Willens deklarieren und den Klimawandel leugnen, um die Ressourcen der Natur weiterhin ungehemmt für sich nutzen zu können. In der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels, die Trump durchgesetzt hat, sehen diese radikalen Bibeltreuen einen Baustein für den Weg, der zum Ende aller Tage führt: „Und viele, die in der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande“ (Daniel 12, 2-3). Fragt sich nur, ob der liebe Gott am Jüngsten Tag die Auserwählten und die Verstoßenen nach eben den Kriterien beurteilen wird, die seine militanten Anhänger vertreten.

Für die Native Americans war die Natur ein beseeltes Wesen, mit dem sie in religiösen Zeremonien Kontakt aufnehmen konnten. Für die christlichen Siedler war sie eine grenzenlos ausbeutbare Ressource. Alles, was die Natur hervorbringt, also auch Land und Menschen, konnte man kaufen und verkaufen. Diese Ausbeuter- und Händlermentalität verkörpert im Film Little Big Man exemplarisch Mister Merriweather, der als Mittel gegen allerlei Beschwerden eine Mixtur anpreist, die teuer ist – und nichts bewirkt, weshalb er von seinen ge- und enttäuschten Kunden schließlich geteert und gefedert wird. Jack, der bei ihm arbeitet, wird von Merriweather mit diesen aufmunternden Worten in die merkantile Welt eingeführt: „Du machst Fortschritte Jack, nur ist da noch ein letzter Rest Ehrlichkeit in dir.“ Soll heißen, solange Jack Crabb nicht verlernt hat, was er als Little Big Man gelernt hat, wird er in der Welt der Weißen keinen Erfolg haben.

Die Native Americans wurden von den Hippies der 1960er Jahre gleichsam neu ‚entdeckt‘ und nun als ‚edle Wilde‘ romantisiert. Diese Blumenkinder kleideten und schmückten sich oft so, als lebten sie selbst in Wigwams. Es ist daher wohl auch kein Zufall, dass eine 1854 gehaltene Rede des Duwamish-Häuptlings Si’ahl (die englische Verballhornung seines Namens wurde zu Seattle und damit zum Namen der Hauptstadt des heutigen US-Bundesstaates Washington), die Henry A. Smith aufgrund der Notizen, die er sich als Ohrenzeuge gemacht haben will, drei Jahrzehnte später (1887) zu Papier gebracht hatte, Ende der 1960er von dem Literaturwissenschaftler William Arrowsmith unter Rückgriff auf alte indianische Ausdrucksweisen neu ins Englische übersetzt wurde. Auf diese Weise verwob er den Geist der Rede des Häuptlings mit den Idealen der Woodstock-Generation. Historischer Hintergrund der Rede war ein 1854 gefasster Beschluss des Gouverneurs des Washington-Territoriums, der den Stamm der Duwamish in einem Reservat konzentrieren wollte. Darauf antwortete Sea-at-la als Vertreter seines Volkes: „Der große […] Weiße Häuptling gibt uns Nachricht, daß er unser Land kaufen möchte. Aber er will genug davon für uns vorsehen, damit wir ein angenehmes Leben führen können. Das scheint großzügig, denn der rote Mann hat keine Rechte mehr, die zu achten wären. […] Es ist nicht so wichtig, wo wir unsere letzten Tage verbringen. Es sind nicht mehr viele. Die Nacht der Indianer wird schwarz. Kein heller Stern wird in der Ferne leuchten. Der Wind ist traurig. Den roten Mann ereilt das Verhängnis. […] Noch wenige Monde, noch wenige Winter, und keines der Kinder der großen Stämme, die einst in dieser Weite lebten […], wird noch leben, um an den Gräbern eines Volkes zu trauern, das einst so mächtig und hoffnungsvoll wie eures war. […] Wenn der letzte rote Mann von der Erde verschwunden ist und sich die Weißen an ihn nur noch erinnern, wie man sich an eine Geschichte erinnert, dann werden diese Gestade noch von den unsichtbaren Toten meines Volkes wimmeln […]. Der weiße Mann wird nie allein sein. So möge er gerecht und freundlich mit meinem Volk umgehen. Auch Tote besitzen Macht“ (http://www.indianer-web.com/haeuptling-seattles-beruehmte-rede/ – Aufruf 1.8.2019).

Auch Tote können ewig leben

For let a man, as most men do,
rate themselves at the highest value they can,
yet their true value is no more than it is esteemed by others.
To have done more hurt to a man than he can or is willing to expiate
inclineth the doer to hate the sufferer.
For he must expect revenge or forgiveness; both which are hateful.
Thomas Hobbes, Leviathan (Of the Difference of Manners)

Der Häuptling hatte recht: Tote sind unsterblich, solange sie im schlechten Gewissen der Täter und ihrer Nachkommen überleben. Erst dann, wenn sie dort zur Ruhe gekommen sind, haben sie ihre letzte Ruhe gefunden. Aber wie sollte das möglich sein? Das wäre wohl nur dann möglich, wenn die Nachkommen der Täter, die in Häusern wohnen, die – bildlich gesprochen – auf blutgetränktem geraubten Boden stehen, ihr Gewissen nicht länger durch fortgesetztes Leugnen des Unrechts und immer neue Selbstrechtfertigungsversuche beruhigen müssten.

In der Bibel beginnt die Menschheitsgeschichte mit Mord und Totschlag – sprich: mit Kain und Abel. Bei Freud heißt es in einem Text, den er während des Ersten Weltkriegs niederschrieb: „Das dunkle Schuldgefühl, unter dem die Menschheit seit Urzeiten steht […], ist wahrscheinlich der Ausdruck einer Blutschuld, mit welcher sich die urzeitliche Menschheit beladen hat“ (Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915). Freud bezog sich dabei zwar nicht auf den Brudermord, sondern auf den – von ihm angenommenen – (Ur-)Vatermord, doch die Konsequenzen sind gleich: Das dem Ur-Mord folgende, jedoch verdrängte Schuldgefühl verschafft sich, solange es nicht bewusst und durchgearbeitet werden kann, Ausdruck in immer neuen mörderischen Taten, durch die es auf seine Fortexistenz hinweist und sich so gleichsam rechtfertigt. Freud berief sich bei dieser These (irrtümlich) auf Nietzsche, bei dem es allerdings nicht das unbewusste Schuldgefühl ist, das den Täter plagt, vielmehr lässt in diesem Fall die bewusste Erinnerung an die Tat den Täter nicht mehr los. Der ‚bleiche Verbrecher‘ kann sich deshalb nicht von der Erinnerung an die Tat befreien, weil er sie reinen Gewissens verübt und sich selbstbewusst damit identifiziert hat. Nicht die Tat, als sie geschah, vielmehr deren Abbild im Gedächtnis, die Erinnerung an die Tat, lässt den Täter nachträglich erbleichen. Bei Nietzsche heißt es dazu: „Gleichwüchsig war er seiner Tat, als er sie tat: aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie getan war. Immer sah er sich nun als einer Tat Täter. Wahnsinn heiße ich dies: die Ausnahme verkehrte sich ihm zum Wesen“ (Also sprach Zarathustra).

Die Rahmenhandlung des Films Little Big Man beginnt mit einer Szene, in der Jack Crabb als Greis in einem Altersheim von einem Reporter aufgesucht wird. Dieser junge Mann spricht ganz ungerührt von der „Liquidation“, ja von der „totalen Ausrottung eines ganzen Volkes“, womit er die Bewohner der Great Plains meint, bei denen Jack Crabb als junger Mann jahrelang lebte. Der Reporter will ihn nun als Zeitzeuge der Indianerkriege des 19. Jahrhunderts interviewen. Der alte Mann erzählt ihm daraufhin seine Lebensgeschichte, die sich, wie dargestellt, in vielerlei Hinsicht mit der „Geschichte der Menschenwesen“ (das heißt: der Cheyenne) überschneidet, denen der Große Vater in Washington einst vertraglich ein „Land versprochen hatte, das ihnen gehören sollte, solange Gras wächst, Wind weht und der Himmel blau ist“, das er ihnen dann aber Stück für Stück wieder entriss. Gegen Ende seiner Erzählung spricht Jack Crabb dann darüber, wie er zum Kundschafter des 7. US-Kavallerie-Regiments wurde, eben jener Truppe, die vor vielen Jahren das Gemetzel in dem Lager veranstaltet hatte, in dem er mit seiner indianischen Frau lebte. Jetzt ist Jack Crabb wieder im Lager der Weißen angekommen, doch im Herzen ist er der Adoptivenkel von Old Lodge Skins geblieben. Vor der Schlacht am Little Bighorn River sagt er deshalb zu General Custer: „Wir sind hier nicht am Washitafluss und in dem Tal da unten warten keine hilflosen Frauen und Kinder auf Sie, sondern Cheyennekrieger und Sioux.“ Custer ignoriert die Warnung. Und so reitet er, von Militärmusik begleitet, einer verheerenden Niederlage entgegen.

An dieser Stelle des Films hört man aus dem Off eine Stimme über George Armstrong Custer sagen: „Er rechnete damit, dass er noch einen historischen Sieg über die Indianer brauchte, um als Präsident nominiert zu werden.“ Ja, dieser Filmheld, der seine Ansprüche auf die US-Präsidentschaft im 19. Jahrhundert durch Angriffe auf die Ureinwohner untermauern wollte, gleicht dem Maulhelden in frappierender Weise, der seine Präsidentschaft im 21. Jahrhundert durch rassistische Angriffe auf Afroamerikaner, Flüchtlinge aus Lateinamerika, Muslime und andere Minderheiten abzusichern versuchte. Beide stellten krankhaften Ehrgeiz durch machohaftes Auftreten zur Schau; beide kaschierten Fehleinschätzungen durch peinliche Phantasie- und Lügengeschichten; beide hatten deutsche Vorfahren: Paulus Küster, ein Vorfahre Custers väterlicherseits, war hessischer Offizier, Trumps Vorfahren väterlicherseits kamen aus der Pfalz.

Und Jack Crabb? Er beendet das Interview mit dem jungen Schnösel, der mehr über das „primitive Leben der Prärieindianer“ erfahren wollte, mit den Worten: „Verschwinde! Raus!“

Little Big Man (USA 1970).
Regie: Arthur Penn.
Darsteller: Dustin Hoffman, Faye Dunaway, Chief Dan George.
Länge (deutsche Synchronfassung): 147 Min.