Am Anfang schmeckt die Freiheit immer bitter
In „Mary & Claire“ erzählt Markus Orths die Geschichte der Stiefschwestern Mary Shelley und Claire Clairmont mit Liebe zum historischen Detail und viel Phantasie
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMan schreibt das Jahr 1816, als im April vier junge Menschen in die Schweiz aufbrechen. Percy Bysshe Shelley (1792 – 1822) und George Gordon Byron (1788 – 1824), besser bekannt als Lord Byron, sind Schriftsteller. Letzterer eine Art Popstar der englischen Romantik, Shelley von seiner Mitwelt weniger enthusiastisch gefeiert. Mit Shelley begeben sich nach Cologny am Genfersee die mit dem Noch-Verheirateten seit 1814 in Liebe verbundene Mary Wollstonecraft Godwin, ihr gemeinsamer kleiner Sohn William und Marys Stiefschwester Claire Clairmont. Während Byron mit seinem Leibarzt, John Polidori, die von ihm gemietete Villa Diodati bewohnt, kommen die anderen in einem zehn Gehminuten entfernten Chalet unter.
Hier trifft man sich – Shelleys und Byrons spätere Freundschaft nimmt am Genfersee ihren Anfang –, liest sich vor, diskutiert und philosophiert. An einem der vielen gewittrigen, stürmischen und kalten Abende dieses späten Frühjahrs dann eine Idee, die sofort zündet: Ein Schreibwettbewerb soll veranstaltet werden, um die aufkommende Langeweile zu besiegen. Die Aufgabe lautet: Wer von den Anwesenden bringt die schaurigste Geschichte zu Papier? Und Mary schreibt einen kurzen Text, aus dem sich später, da ist sie schon zwei Jahre mit Shelley verheiratet, ihr berühmter, aber zunächst ohne Angabe des Namens der Autorin – der sollte erst in der Ausgabe von 1831 über dem Text stehen – erschienener Roman Frankenstein or The Modern Prometheus (1818) entwickelt.
Es ist diese Episode im Leben des Trios Byron/Shelley/Wollstonecraft, auf die man in der Literatur immer wieder stößt: die Geburtsstunde eines Literatur, Filmgeschichte und Populärkultur bis heute beeinflussenden Romans. In Markus Orths’ Mary & Claire freilich spielt sie nur eine untergeordnete Rolle. Keine zehn Seiten hat der 1969 geborene Verfasser von Romanen, Kinderbüchern und Hörspielen ihr gewidmet. Denn, und das macht schon die Titelwahl seines Buches deutlich, er hat mehr vor als nur eine Anekdote über die Entstehungsgeschichte eines Horrorromans, der das Genre veränderte, zu illustrieren. Und vor allem das Schicksal der beiden Frauen ist es, was ihn interessiert.
Mary Godwin als Tochter der kurz nach ihrer Geburt am Kindbettfieber verstorbenen Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des Schriftstellers und Sozialphilosophen William Godwin sowie ihre lebenslustige Stiefschwester Claire Clairmont aus Godwins zweiter Ehe erscheinen bei Orths als Figuren, die sich ganz im Sinne von Marys verstorbener Mutter in kein Korsett pressen lassen. Sie sagen allen überlieferten weiblichen Rollenbildern den Kampf an und sehen im Freisein ihre höchste Bestimmung. Dass das Anfang des 19. Jahrhunderts nicht konfliktfrei vonstatten gehen kann, ist ihnen bewusst, kann ihren Emanzipationsdrang aber nicht hemmen.
Kein Wunder deshalb, dass beide Frauen hingerissen sind, als sie – Claire zuerst – auf den Dichter Percy Bysshe Shelley treffen. Dessen Gedanken und Verse finden bei ihnen sofortigen Widerhall. „Es war alles so eng außerhalb der Bücherweiten. So unfrei“, urteilt der junge, unglücklich verheiratete und als Schriftsteller noch relativ erfolglose Schwärmer. Mary und Claire können ihm da nur zustimmen. Auch sie sehnen sich hinaus aus einer Existenz, die für sie als Frauen nicht die gleichen Chancen und Möglichkeiten bereithält wie für die Männer. Und als Shelley vorschlägt, zu dritt der Londoner Enge zu entfliehen und sein Glück auf dem Kontinent zu suchen, lässt sich das Trio nicht einmal davon aufhalten, dass Mary inzwischen schwanger von Shelley ist.
Allein vom Glück zu träumen, ist etwas anderes als um sein Glück in einem Alltag zu kämpfen, der einem immerzu vor neue Hürden stellt. Und auch die Liebe, müssen Mary und Claire schmerzhaft erfahren, nutzt sich ab, wenn die Kasse leer ist und niemand weiß, wie lange man sich noch ein Herbergsbett leisten kann. Dass Shelley in Erwartung eines Erbes, das ihm nach dem Tod seines Großvaters zur Verfügung stehen soll, das Geld geradezu mit beiden Händen zum Fenster hinauswirft, erleichtert dem Trio auf seiner Flucht das Leben auch nicht unbedingt. Und so bleibt ihnen letzten Endes nichts als die Rückkehr in ein Leben, das sie so nicht wollen, eine Rückkehr allerdings, die nichts weiter ist als das Atemholen vor einem nächsten großen Befreiungsversuch, bei dem dann auch Byron mit von der Partie ist.
Mary & Claire ist das ebenso gut recherchierte wie gut geschriebene Doppelporträt zweier Frauen, die aus den Rollen, die Angehörigen ihres Geschlechts scheinbar vorherbestimmt sind zu ihrer Zeit, ihr Leben lang ausbrechen. Und zwar mit solcher Entschlossenheit, dass selbst ihr eigener Vater und Stiefvater zeitweilig die Beziehung zu ihnen abbricht, obwohl dessen Radikalität der ihren in nichts nachsteht, indem er beispielsweise in seinen frühen Werken sogar die Ehe als unsinniges Monopol bezeichnet hat, das es zu überwinden gälte in der Welt von morgen. Dabei sind Mary und Claire – Letztere eigentlich nach ihrer Mutter zunächst Jane benannt – von Anfang an ganz unterschiedliche Frauen. Lebenslustig und impulsiv die eine. Still und zur Melancholie neigend die andere. Mary immer wieder in Gedanken an ihre Mutter versinkend, die in dem Moment ihr Leben verlor, als ihr Kind das seine gewann. Jane zuerst Shelley für sich erobernd und sich später ohne Zögern Byron anbietend. Gelegentlich Rivalinnen, doch immer wieder zueinanderfindend im Zeichen der Freiheit und der den Weg zu dieser vorausahnenden Literatur.
Dass ihrer beider aufs Unbedingte angelegte Lebensweise auch Opfer kosten, der „Trip in die Freiheit“ auch schmerzliche Aspekte mit sich bringen würde, hat beide nicht abgeschreckt. Zu verlockend war das Bild, dem sie entgegenlebten, auch wenn sich die Welt, in die sie sich literarisch hineinphantasierten, von jener unterschied, in der sie ihr irdisches Leben zu verbringen hatten. In der überlebt von den Kindern, die Mary zur Welt bringt, nur ein einziges die Mutter. In der sterben sowohl Shelley – am 8. Juli 1822 bei einem Segelunfall im Ligurischen Meer vor der toskanischen Küste – als auch Byron – am 19. April 1824 im westgriechischen Messolongi –, beide zum Zeitpunkt ihres Todes noch keine vierzig Jahre alt.
Mary wird Shelley um fast drei Jahrzehnte überleben, Claire Byron um mehr als ein halbes Jahrhundert. Und doch bleibt den Frauen vieles versagt, was den Männern in diesem Quartett auch aufgrund ihres Geschlechts fast selbstverständlich zufiel, konnten sie sich beileibe nicht ebenfalls all das nehmen, worauf Byron und Shelley ganz selbstverständlich Anspruch erhoben.
Mary Shelley und Claire Clairmont wollten beide gegen alle Widerstände ihrer Zeit Schriftstellerinnen sein. Die eine kennt man bis heute, wenn auch hauptsächlich nur noch aufgrund jenes einen Buches unter vielen, das dem Horrorgenre eine neue, zukunftsweisende Richtung gab. Die andere taucht in modernen Lexika und Enzyklopädien in der Regel nur noch als in der Welt umherziehende Gouvernante und als jene junge Frau auf, mit der zusammen Byron eine Tochter besaß, die bereits im Alter von fünf Jahren verstarb. Vor allem ihr setzt Markus Orths‘ Roman ein Denkmal, indem er sie zur Initiatorin von fast allem macht, wofür ihre Stiefschwester später bekannt werden sollte. Ohne Claire Clairmont keine Bekanntschaft mit Shelley und Byron, ohne sie keine Reise an den Genfersee und vielleicht kein Frankenstein, kein Sich-Stürzen auf die Literatur als Möglichkeit auch für Frauen, Sehnsüchte, die gesellschaftlich tabuisiert waren, auszudrücken.
Außerordentlich gelungen ist in diesem Zusammenhang die Szene, mit der Mary & Claire endet. Sie spielt nach Marys Tod und imaginiert ein Totengespräch der Tochter mit ihrer Mutter und ihrem Vater im gemeinsamen Familiengrab auf dem Friedhof St. Peter’s in Bournemouth. Hier darf noch einmal das schlussendlich verschollene Buch The Idiot eine Rolle spielen, an dem Claire Clairmont ein Leben lang geschrieben hat. Es ist die romantisch überhöhte, exemplarische Geschichte eines Frauenschicksals in der Zeit, ein Roman, der mit den Worten „Ich bin hier.“ beginnt. Auf dieses Hiersein in einer Welt, die Frauen immerzu von allem ausgrenzte, was Männern fraglos zustand, hatten es Mary Shelley und Claire Clairmont ihr Leben lang abgesehen. Dem gaben sie sich voller Enthusiasmus hin und opferten ihm vieles. Doch brauchte es zu ihrer Zeit wohl wirklich jenen langen Atem, von dem die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft in einem von ihrer Tochter imaginierten Dialog spricht:
Ich glaube, Mary, wir brauchen mehr Geduld, als wir denken. Bis der Tag kommen wird, da jede Frau schreiben darf, was sie schreiben kann und was sie schreiben will. Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Vielleicht werden unsere Bücher Kreise ziehen, von denen wir jetzt nichts ahnen.
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