„Empört Euch!“ oder Von der Notwendigkeit alttestamentarischen Zorns

Dirk Oschmanns leidenschaftliches Plädoyer für Gerechtigkeit und Demokratie und ein geeintes Deutschland aus sachlich-polemischer Perspektive

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aber nein: Selbstverständlich gefällt mir als einem zu kritischen Einwürfen Angehaltenen nicht alles an dem reichlich mit Literaturangaben und Anmerkungen versehenen Sachbuch Der Osten: eine westdeutsche Erfindung des 1967 in Gotha geborenen und aufgewachsenen Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann, eines ‚echten‘ Ostdeutschen also. An diesem vor allem politologisch, soziologisch und ökonomisch ausgerichteten und damit von einem freilich bestens informierten „Laien“ als einem „teilnehmende[n] Beobachter“ geschriebenen Buch, das schustermäßig bei seinen Leisten bleibt und einschlägig auch auf die Bereiche „Literatur“ und „Bildende Kunst“ eingeht.

An einem Buch, das von den bekanntermaßen dominant auf „[v]erklemmt […], verdruckst, schwach, feige, hässlich, dumm, faul, unartikuliert, verhaltensauffällig, radikal, unfähig, fremdenfeindlich, chauvinistisch und natürlich […] Nazi“ hinauslaufenden diffamierenden Zuschreibungen des Westens an den Osten, den weiteren damit verbundenen „diskursive[n] Muster[n]“ und „den Folgen dieser Imagologie für das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland“ handelt.

Das guter Gründe halber scharfzüngig von einem „enorm hierarchische[n] und zugleich perfide[n] Kommunikationsgefälle“ zuungunsten des Ostens, von „politische[r] und diskursive[r] Externalisierung des Ostens“, von einem mit Machtmissbrauch einhergehenden „systematischen, medial forcierten Totalausschluss des Ostens aus der Gesamtgesellschaft“ und einer „schamlose[n] Ungleichbehandlung auf der offenen Bühne der Demokratie“ spricht – ‚starker Tobak‘, der freilich mit einer Fülle an Zahlen und Fakten belegt – und von daher real gar keiner ist.

Ein Buch, das es seit seinem Erscheinen im Februar dieses Jahres mit dem den Westen nervenden, als randständig empfundenen Thema „Osten“ schnell und über Wochen zum SPIEGEL-Bestseller gebracht hat – bemerkenswerter Weise, muss man sagen, brennen doch den meisten Wessis offiziellen Verlautbarungen zufolge Themen wie „Diversität“, „Sprachgendern“, „Wärmepumpe“ oder „Kulturelle Aneignung“ auf den Nägeln. So dass man an dieser Stelle und zum jetzigen Zeitpunkt wohl davon ausgehen kann, dass Vielen das Buch, das auch den Titel „»So tickt der Westen«“ tragen könnte, schon bekannt ist, ebenso wie die um das Buch und dessen publizistischen Hintergrund geführte Diskussion, die nachfolgend implizit mit Thema ist.

Nicht gefallen: Mich stören allzu viele Wiederholungen, über die man nicht einfach deshalb hinwegsehen kann, weil man Wichtiges bekanntlich nicht oft genug sagen kann, mich stört eine gewisse ‚thematische Unruhe‘ in der Mehrzahl der insgesamt neun Kapitel, die zum Hin- und Herspringen nötigt und bspw. Kapitelzusammenfassungen schwierig macht, stört die eine oder andere vielleicht doch mit versteckter „Herkunftsscham“ (Didier Eribon) und ungewollten und sich dennoch reflexartig einstellenden Assimilationsangeboten in Verbindung stehende Inkonsequenz im Wortgebrauch (beispielsweise hinsichtlich der Bezeichnung der DDR als „Unrechtsstaat“), stört die oberflächliche, ‚mainstreamige‘ Selbstverständlichkeit, mit der der Ukraine-Konflikt auf die Person Putin reduziert wird (so lesen sich jedenfalls jene Sätze, die dem Konflikt gelten), stört ein bestimmte Kulturbereiche aussparendes, ansonsten ‚flächendeckendes’ Bashing der DDR, stört ein gelegentliches Kleinmachen des eigenen Themas bspw. angesichts Corona.

Jedoch: Steht es mir als ‚Altbundesrepublikaner‘ trotz u.a. DDR-Besuchen, einschlägiger persönlicher und beruflicher Erfahrungen in den sogenannten neuen Bundesländern seit den frühen 1990er Jahren sowie Lehre und Forschung über Literatur, Film und Fernsehen der DDR überhaupt zu, über eine (Kollegen-)Stimme aus dem perhorreszierten ‚Osten‘ und deren Analysen, deren erfahrungsgesättigte Bekenntnisse und Gefühle zumal, öffentlich zu urteilen – mag die in Frage stellende Kritik auch noch so konstruktiv gemeint sein? Denn angesichts der Furore, für die das hier zur Rede stehende Buch gesorgt hat – es ist aus Oschmanns am 3. Februar 2022 in der FAZ online gestellten Artikel „Wie sich der Westen den Osten erfindet“ hervorgegangen, der selbst schon hohe Wellen geschlagen hat –, läuft es in diesem Falle ungleich mehr auf ein Urteilen, ein persönliches Bekennen auch hinaus als das bei Kritiken üblicher Weise der Fall ist, der Fall zu sein hat. So wie es Oschmann mit seinen zahlreichen autobiographischen Einlassungen und Erzählungen im Buch nicht um ihn als Person, sondern um ihn als verallgemeinerbares, grundsätzliche Einsichten vermittelndes Exempel geht, selbst da noch, wo er einen Sonderfall darstellt, so ist diese selbstreflektierende Perspektivierung des Rezensenten hier notwendig. Es geht um die durch die wiederholte Lektüre des Buches bestärkte Einsicht, dass Westdeutsche über Der Osten: eine westdeutsche Erfindung und ähnlich gelagerte Texte (vgl. auf literaturkritik.de bspw. Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft von Steffen Mau) schlicht nicht ‚einfach mal so‘ in objektivistischer, transsubjektive und ‚transzonale‘ Erkenntnis oder gar Wahrheit vorgaukelnder Manier zu schreiben haben.

Anders formuliert und akzentuiert: Es geht mit Oschmann um die Zurückweisung einer wie allerorts so auch hier zu beobachtenden Anmaßung und eines auch hier forsch begangenen Übergriffs westdeutscherseits, die auf Deutungshoheit, Alleinvertretungsanspruch, Entmündigung und Verdinglichung hinauslaufen. Wie ‚ticken‘ die in erdrückender Mehrzahl aus der alten Bundesrepublik stammenden Kritiker Oschmanns eigentlich, die da glauben, sich selbst als die vermeintlich Besser- oder sogar Alleinwissenden als Norm, als Normalität setzen und, vergleichsweise harmlos, beispielsweise Ratschläge stilistisch-wirkungspragmatischer Art geben zu dürfen? Von argumentabstinenter Empörung und oberlehrerhaften Zurechtweisungen in der Sache ganz zu schweigen, zumal von solchen, die sich, gekränkt und um den selbstgewundenen Lorbeerkranz ums eigene Haupt besorgt, ebenso selbstgefällig wie selbstgerecht auf die Unfehlbarkeit eigenen Handelns sowie eigener Erfahrungen und Erinnerungen berufen zu können meinen.

Wie im genannten FAZ-Artikel schreibt Oschmann auch in diesem Buch pointiert, provokant und kompromisslos – passagenweise gleicht das Buch, für den Autor ein „polemischer Essay“, einem Pamphlet. Und ja, Oschmann geht es – darin folgt er der Zuschreibepraxis des Westen an den Osten – nicht um Relativierungen und mehr oder minder subtile Differenzierungen à la fifty shades of whatever, nicht darum, durch Hinweise auf doch ‚Gelungenes‘ oder ‚Gesundes‘ im Osten wie im Westen und im Besonderen im Ost-West-Verhältnis Entwarnungssignale zu geben und damit eine gentlemanlike Fairness an den Tag zu legen, die der Akteur „Westen“ dem Objekt „Osten“ zu keinem Zeitpunkt und in keiner Hinsicht entgegengebracht hat. Oschmann – „Auge um Auge“, heißt es an einer Stelle – will vielmehr den als solchen gefährdeten „Wald“ sehen lehren und nicht all die einzelnen „Bäume“ (darunter selbstverständlich auch für ihn solche, die – noch – gesund sind), will die Finger in klaffende, für den ganzen Körper gefährliche Wunden legen und dabei nicht beschwichtigend darauf hinweisen, wie anmutig doch dieser oder jener andere Körperteil dank selbstverständlich uneigennützig ‚vom reichen Onkel‘ bereitgestellter guter Ernährung und Pflege (noch) aussieht.

Aber was ist daran der Redeform nach unziemlich, der Sache nach verfälschend und hinsichtlich der Glaubwürdigkeit bzw. der erhofften Wirkung ‚natürlicherweise‘ kontraproduktiv? Ist es nicht nachvollziehbar, dass einem irgendwann einmal die Hutschnur zu platzen droht, wenn ein ganzes Arsenal an kollektiven Erfahrungen und an seriös ermittelten Zahlen, Statistiken und Fakten, auf denen die eigenen, nach eigenem Dafürhalten eigentlich nichts Neues aussagenden Thesen beruhen, politischer-, medialer- und gesellschaftlicherseits im Westen einfach nicht wahrgenommen oder brüsk in Abrede gestellt werden? Hilft in einer solchen Situation tatsächlich ein anempfohlenes, auf vornehme Leisetreterei hinauslaufendes gütliches Sprechen, hilft diplomatisches Antichambrieren? Wäre pure Sachlichkeit da nicht einfach nur zynisch, geht es doch eben nicht um beredte Zahlen und Fakten als solche, sondern um sehr konkrete, Jahre und Jahrzehnte lang durchlittene Einzelschicksale von Millionen von Menschen? Muss man also in einer solchen Situation nicht sprachlich zumindest ein Stück weit das tun, was Oschmann tut und den Ostdeutschen generell mit allem Nachdruck empfiehlt, nämlich „basisdemokratisch auf d[ie] Straße“ zu gehen und „sich endlich [jene] Öffentlichkeit [zu] erzwingen“, die ihnen auch Jürgen Habermas zufolge bis heute vorenthalten wird? Von daher: „So gehört der Ton als Tonstörung und neue Musik unbedingt zur Sache dazu. Sonst verkennt man das Ausmaß der ganzen Problemlage“.

Zum anderen und die Sache betreffend: Würde man es einem Lungenfacharzt, der beim Patienten Lungenkrebs festgestellt hat, als diagnostische Verfälschung zum Vorwurf machen, wenn er nicht im gleichen Atemzug auf die hervorragenden Prostatawerte, die geschmeidigen Kniegelenke und die erstaunlich gute Hörfähigkeit des Patienten hinwiese?

Was schließlich Glaubwürdigkeit und Wirkung anbelangt: Ist nur derjenige glaubwürdig, der wie ungezählte Andere auch ein lange währendes alltägliches Leiden mit „edle[r] Einfalt, und eine[r] stille[n] Größe“ (Johann Joachim Winckelmann) erträgt? Spricht es gegen ‚die Straße‘, gegen Proteste und Aufstände und gegen revolutionäres Geschehen (à la 1989) womöglich, dass dabei in der Regel Schilder wie „Rasen betreten verboten!“ übersehen, ja überrannt werden? Sagt es nicht viel über eine – terminus terribilis! – literarische Nationalkultur (und etliche von deren Gralshütern) aus, wenn in ihr nicht wie in ‚Uraltdemokratien‘ (gebrauchsliterarische) Textsorten und Argumentationstypen wie Essay, Flugblatt, Polemik, Pamphlet, Reportage oder Satire ‚flächendeckend‘ kanonisierende Anerkennung gefunden haben, stattdessen nur der ‚gute‘, der ‚gehobene‘ Ton Beifall und Geltung erwarten darf? Richtig: „Immer wird […] das ästhetisch Ungewohnte als zugleich politisch Irrationales und außerdem moralisch Defizitäres angegriffen.“

Schließlich: Was bleibt denn noch zu tun, wenn, wie seit langem zu beobachten, weder wissenschaftliche Dokumentationen noch die Erzählungen der Abervielen noch ebenso sachlich-besonnenes wie beharrliches Sprechen und Argumentieren beim Adressaten Westen verfangen, ein ‚Schrei‘ aber irgendwie als degoutant gilt und mit Blick auf die Sache der Betroffenen wie ‚überhaupt‘, für die bekanntlich ja klassenlose und herkunftsindifferente deutsche Gesellschaft als einer potentiellen Titanic nämlich, als dysfunktional eingestuft wird? Das angeblich ach so goldene Schweigen? Das Nachgeben jenes Klügeren, der am Ende dann der Dumme ist? Es ist schon „perfide“, dass demjenigen, den man sich systematisch und konsequent vom Leib gehalten hat, der Vorwurf gemacht wird, er reiße Gräben auf, dann, wenn er auf jene Gräben und deren Folgen hinweist, die die anderen ihm zur Abwehr errichtet haben.

Und nein ein weiteres Mal: Deutschland ist auch mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem zu viel Fatales zeitigenden bloßen „Beitritt“ der dann ehemaligen DDR zur alten Bundesrepublik Deutschland kein in Gerechtigkeit und Freiheit geeintes Land und in mehr als einer Hinsicht auf halbem Wege zu einer gelebten, nicht bloß formalen Demokratie steckengeblieben. Genau in diesem Nein aber liegt mein Ja zu Dirk Oschmanns zentralen Thesen und seiner Art des Vortrags begründet, erwachsen diese doch nicht zuletzt auch, nein, zuvorderst aus seiner brennenden Sorge um die Demokratie in einem nach wie vor noch zu vereinigenden Deutschland – zu vereinigen im Sinne des Miteinander-auf-Augenhöhe-seins heute in allen wichtigen gesellschaftlichen und persönlichen Belangen, zu vereinigen in dem Sinne, dass DDR-Geschichte im umfassenden Sinne Teil der deutschen Geschichte werde.

Haben diejenigen, die Oschmanns Buch und dem ihm zugrundeliegenden FAZ-Artikel ablehnend gegenüberstehen, haben diejenigen, die sich erst gar nicht der verhandelten Sachverhalte annehmen, sondern sich gleich aufs Diskreditieren und Diffamieren des Autors verlegen, diese im Buch mehrfach hervorgehobene brennende Sorge um Deutschland als Angelpunkt allen Darstellens und Argumentierens gänzlich überlesen, überlesen wollen vielleicht sogar?

Nein, Oschmann geht es weder mit seinem FAZ-Artikel noch mit dem hier zur Rede stehenden Buch um die 1990er Jahre, um Ostalgie oder gar um eine „spezifische[] »Ost-Identität«“ oder Verteidigung der DDR, wie vielfach von Kritikern sowohl der seriösen wie der selbstgerecht-selbstgefälligen wie der schlicht indiskutablen weil ad personam sprachlich gewalttätigen Art behauptet worden ist. Wo gäbe das Buch – alles andere als das „Jammern“ eines undankbaren Ostdeutschen, „der sich mit Selbstviktimisierung um die Teilnahme an der gesellschaftlichen Opferolympiade“ bewirbt – eine solche Lesart denn her? Wo immer es in diesem Buch um Vergangenheit und insbesondere um die 1990er Jahre geht, wird die nur insofern angesprochen, als damals bis heute wirkmächtige Entscheidungen getroffen wurden, die im fatalen Zusammenspiel mit großflächigem, gelinde gesagt paternalistischem Denken, Empfinden und Handeln (zu dem auch ärgerliches Schelten des bockigen Kindes gehört) bis heute dazu führten, dass auch noch mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht von einem wiedervereinigten Deutschland gesprochen werden kann.

Es geht Oschmann vielmehr um die „radikale »Des-Identifizierung«“ (Jacques Rancière) der der Herkunft nach Ostdeutschen, um eine „Zustandsbeschreibung der Gegenwart“ und mehr noch um die Zukunft der neuen Bundesrepublik Deutschland als eines (in Teilen noch zu erwirkenden) gerechten, eines freiheitlichen, eines demokratischen Gemeinwesens. Die Gegenwart dieses Gemeinwesens ist problematisch, seine Zukunft düster dann, wenn der zwar großflächig perforierte und mit gen Osten sich öffnenden Türen und Toren versehene, aber materiell wie mental nach wie vor existente eiserne Vorhang zwischen den sogenannten alten und den sogenannten neuen Bundesländern nicht in absehbarer Zeit fällt: 

Wenn […] die seit über 30 Jahren bestehenden systematischen Ächtungen und radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens nicht aufhören, hat dieses Land keine Aussicht auf längerfristige gesellschaftliche Stabilität.

Zu einzelnen Kapiteln des Buches abschließend und damit zu einigen Verhaltensweisen, Beobachtungen und Thesen des Autors, die mich überzeugt haben: Kapitel 1 „Welche Geschichte wollen wir erzählen“ versteht die „deutsch-deutsche Situation“, zu der das Erstarken der AfD insbesondere in den neuen Bundesländern (in diesen mit einer „komplett westdeutsch besetzte[n] Führungsspitze“!) gehört, als „Spezialfall der Globalisierungseffekte in den westlichen Gesellschaften“. Erinnert wird an faktisch kulturimperialistische, mit „Ontologisierung[n] und „Essentialisierungen“ einhergehende (sprachliche) Verhaltensweisen gegenüber dem sogenannten Osten seit den frühen 1990er Jahren – die lassen sich bis ins Dritte Reich zurückverfolgen.

Kapitel 2 „Anfänge: Aller guten Dinge sind drei“ zerpflückt die gebetsmühlenartig vorgetragene These, es sei der Osten, der die deutsche Gesellschaft spalte, spricht „bei all dem Positiven“ auch von einer „dreißigjährige[n] Geschichte individueller und kollektiver Diffamierung, Diskreditierung, Verhöhnung und eiskalter Ausbootung“ des Ostens und zeigt, dass und warum ostdeutsche Männer nach 1990 extrem benachteiligt wurden.

Im 3., auf eine Reihe von „»nicht fühlbaren Ausgrenzungspraktiken«“ (Bourdieu) abhebenden Kapitel „Wer oder was bin ich?“ objektiviert Oschmann sich als Sprecher, belegt, inwiefern sich für die „allermeisten“ aus dem Osten der Wunsch nicht erfüllt hat, „an dieser Gesellschaft teilzuhaben und sie mitzugestalten“, belegt die „maximale[] terminologische[] Deklassierung“ („»Buschzulage«“, „»Aufbau Ost«“ etc. pp.) des Ostens und die von den „Naturdeutsche[n]“ des Westens betriebene „radikale Umschreibung und Überschreibung von Geschichte“, zeigt, inwiefern für Ostdeutsche als „Kunstdeutsche“ die „Herkunft […] Urteil und Verurteilung“ ist, geißelt jenen „»totalitären Präsentismus«“ (Horst Bredekamp), der „gegenwärtige[] Zustände“ „abenteuerlich unhistorisch“ meint deuten zu können.

Wie der Titel bereits andeutet, verhandelt das zahlen-, daten- und faktengesättigte Kapitel 4 „Der ‚Osten‘: Zuschreibungsspiele und Essentialisierungen“ die Tatsache, dass „der Begriff ‚Osten‘“, darin „älteren Deutungsmustern“ des 19. Jahrhunderts folgend, „als infames Zeichen der Unterscheidung, Distanzierung und Ausgrenzung sowie als totalisierende Markierung“ fungiert. Herausgestellt wird, dass der Osten gegenüber dem Westen über ein „Vielfaches an politischer Erfahrung“ verfügt und keineswegs demokratiefeindlich ist, aber so seine sehr berechtigten Schwierigkeiten mit der „gegenwärtigen Spielart der Demokratie als ‚Post-Demokratie‘“ (Jacques Rancière) hat. Herausgestellt wird weiterhin der Machtmissbrauch, den Westmedien dem Osten als bloßem „Aussageobjekt“ gegenüber betreiben, sowie die Tatsache, dass „das binnendeutsche Herrschafts- und Kommunikationsgefälle […] im Gefälle zwischen West- und Osteuropa eins zu eins gespiegelt“ wird.

Literatur- und Kunstinteressierte wird vor allem das von der „Löschung des Textgedächtnisses einerseits“ und der „Löschung des Bildgedächtnisses andererseits“ handelnde 8. Kapitel „Kunst im Osten: ‚Alles Gesinnung!‘“ interessieren. Im ersten Teil geht es um den auf radikale kulturpolitische[] Ghettoisierung“ hinauslaufenden unsäglichen deutsch-deutschen Literaturstreit Anfang der 1990er Jahre und die zwar lächerliche („Geistesbankrott“), doch bis heute selbst für junge Autoren aus dem Osten verhängnisvoll bis „katastrophal[]“ nachwirkende Behauptung einer Viererbande um Ulrich Greiner, die Literatur der DDR und insbesondere diejenige Christa Wolfs sei nichts anderes gewesen als „»Gesinnungsästhetik«, ja »Gesinnungskitsch«. Dankenswerterweise hebt Oschmann in diesem Zusammenhang das hohe Maß an vorbildlichem „Mut und Schneid“ hervor, das die „angebliche ‚Staatsdichterin‘ Christa Wolf in der Diktatur und gegen die Diktatur“ aufbrachte.

Im zweiten Teil geht es u. a. am Beispiel des Weimarer Bilderstreits (1999), der Berliner Ausstellung 60 Jahre, 60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2009 (2009), des Dresdner Bilderstreits (2017) und der Auseinandersetzung zwischen Wolfgang Ulrich und Neo Rauch (2019) ebenfalls um westliche „Gedächtnispolitik“ und um die (heute bspw. in deutschen Universitäten wieder salonfähig gewordene) „Gesinnungsprüfung“. Während „Kunst aus der DDR und aus dem Osten […] diskreditiert, angefeindet und entfernt“ werde, könne „Nazi-Kunst ihren Platz in deutschen Kunsttempeln nahezu unbehelligt einnehmen“.

Unter analytischer Perspektive gehört das abschließende Kapitel „Sprechen und Sprecher: ‚Jammern‘“ zu den Höhepunkten des Buches, bspw. an jener Stelle, wo es um die irreführenderweise gerne als Beispiele für die Chancen ‚der/des Ostdeutschen‘ angeführten Angela Merkel und Joachim Gauck geht und deren Beschweigen bzw. Distanzieren von der ostdeutschen Herkunft. Der mir auch sonst suspekte Gauck, so Oschmann völlig zu Recht, hat sich mit seiner dem westlicherseits erwarteten „Modus der Daueraffirmation“, der „Selbstdemütigung“ genügenden Rede von „Dunkeldeutschland“ „[i]n einem radikalen Sprechakt der Assimilation und Überidentifikation mit dem Westen […] außerhalb des Ostens, ja förmlich über ihn gestellt.“

„Indignez-vous!“, „Empört Euch!“, rief Stéphane Hessel 2010 seinen Landsleuten mit seinem gleichnamigen, 2011 auch auf Deutsch erschienenen Millionenseller zu und ermunterte zu politischem Widerstand. Dieser Ruf, diese Ermunterung wurde nicht nur im eigenen Land gehört und befolgt. Obwohl auch in Deutschland ein Bestseller, haben hier bislang allerdings nur vereinzelt Rasenflächen unter dem allemal zumindest als Unbotmäßigkeit einzustufenden öffentlichen Aufbegehren von Empörten und Widerständigen leiden müssen. Der anscheinend unausrottbare Glaube daran, dass in Krisenzeiten „Ruhe die erste Bürgerpflicht“ (F.W. Graf von der Schulenburg-Kehnert) sei, hat vielmehr dafür gesorgt, dass hierzulande an der Oberfläche – an der Oberfläche wohlbemerkt – eine biedermeierliche Ruhe herrscht, in der selbst Friedfertige und für Frieden Werbende von höchster Stelle konsequenzlos als Höllengeburten beschimpft werden können. Wie lange noch?

Titelbild

Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung.
Ullstein Verlag, Berlin 2023.
224 Seiten , 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783550202346

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