Jahrzehntelang „verschwunden“ und plötzlich zweimal „aufgetaucht“

Die Heidelberger Dissertation von Talcott Parsons aus dem Jahr 1927 ist jetzt erstmals erschienen – in zwei Fassungen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der britische Universalgelehrte Herbert Spencer einer der berühmtesten Intellektuellen in Europa und Nordamerika. Bis zum Ende des Jahres 1903 wurden allein in den USA insgesamt 386 755 Exemplare seiner Werke verkauft. Nach seinem Tod im Jahr 1903 sank diese Berühmtheit derart rapide, dass der US-amerikanische Soziologe Talcott Parsons im Jahr 1937 in seinem Buch The Structure of Social Action die rein rhetorisch gemeinte Frage stellte: „Who now reads Spencer?“ Um festzustellen, dass das kaum jemand mehr machte.

Bis zum Ende der 1960er Jahre war eben dieser Harvard-Soziologe Parsons einer der berühmtesten zeitgenössischen Sozialwissenschaftler, der als Übervater des sogenannten „Struktur-Funktionalismus“ weltweit gewürdigt wurde. Talcott Parsons muss für immer als ein „Klassiker“ der Soziologie des 20. Jahrhunderts eingeordnet werden. Vergleichbar mit Spencer jedoch sank die Berühmtheit von Parsons noch zu seinen Lebzeiten derart rapide, dass sein Fachkollege Christopher C. A. Bryant in der Zeitschrift Sociological Review bereits 1983 die ebenfalls rein rhetorisch gemeinte Frage stellte: „Who Now Reads Parsons?“

Ungeachtet vielfältiger Versuche, das Erbe von Parsons unter dem Banner des „Neofunktionalismus“ zu bewahren und weiterzuführen, müsste auf die Frage, wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch Parsons liest, lapidar geantwortet werden: „Kaum jemand“. Eine der deutschen Kolleginnen, die in vielfältiger Weise jahrzehntelang gegen dieses Vergessen ankämpfte, ist die Heidelberger Emerita Uta Gerhardt. Und so verdankt sich die Tatsache, dass es nun eine von ihr herausgegebene, eingeleitete und kommentierte Fassung der Heidelberger Dissertation des damals 25jährigen US-amerikanischen Doktoranden Talcott Parsons gibt, eben diesen jahrzehntelangen Bemühungen.

In ihrer Einleitung unter dem Titel „Parsons‘ ‚verschwundene‘ Dissertation. Eine wahre Geschichte“ rekonstruiert Gerhardt, wie es dazu gekommen war, dass dieses schmale Büchlein (140 maschinenschriftliche Manuskriptseiten) über Jahrzehnte als „verschollen“ galt. Das angeblich auf dem Weg von Europa nach den USA verlorengegangene (im Meer versunkene? auf dem Postweg abhanden gekommene?) Manuskript lag seit 1927 unversehrt in der Schublade des „Instructors“ für Soziologie an der Harvard University in Cambridge (ab 1927), der im Jahr 1939 dortselbst eine Professorenstelle erlangte und ab 1944 als Chairman des dortigen Department of Sociology fungierte, das er zwei Jahre später zu einem interdisziplinären Department of Social Relations erweiterte.

Zu seinem Rigorosum am 29. Juli 1927 legte Parsons nicht das deutsche Originalmanuskript mit dem Titel „Der Kapitalismus bei Sombart und Max Weber“ der Heidelberger Promotionskommission vor, sondern einen zweiteiligen englischsprachigen Aufsatz, den er im Journal of Political Economy unter dem Titel „Capitalism“ in Recent German Literature: Sombart and Max Weber veröffentlicht hatte. Der Betreuer der ursprünglichen, nicht publizierten Fassung war der Wirtschaftshistoriker Edgar Salin (Heidelberg, später Basel) gewesen, der Kommission gehörten zudem Karl Jaspers und Alfred Weber an.

Der amerikanische Austauschstudent Talcott Parsons, der mit Hilfe eines Stipendiums ab 1924 zuerst an der London School of Economics, dann an der Universität Wien studiert hatte und im September 1925 in Heidelberg eingetroffen war, verbrachte gerade einmal zwei Semester an der Heidelberger Universität. Angeblich kurz vor seiner Abreise übergab er das deutschsprachige Manuskript seiner geplanten Dissertationsschrift, das zur Einreichung bei der Fakultät bestimmt war, dem damaligen Fakultätsassistenten Arnold Bergstraesser. Da diese Fassung nach Parsonsʾ Auskünften angeblich „verschollen“ war, zog die Fakultät die erwähnten beiden Aufsätze für das weitere Verfahren heran. Warum die Kommission sich mit den beiden genannten Aufsätzen zufrieden gab, anstatt die aus sechs Kapiteln bestehende deutschsprachige Dissertationsschrift zugrunde zu legen, ist unklar. Jedenfalls wurden die Aufsätze durch Beschluss der Philosophischen Fakultät im Jahr 1929 als schriftliche Leistung anerkannt und Parsons zur Führung des Titels Dr.phil. berechtigt.

Fünfzig Jahre später, im Mai 1979, fand die feierliche Erneuerung der Promotionsurkunde im Rahmen einer Heidelberger Tagung – an der Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Wolfgang Schluchter teilnahmen – statt. Das Schicksal wollte es, dass Parsons, nur wenige Tage nach dieser Heidelberger Feier, am 8. Mai 1979 in München starb. In jener Stadt also, in der Max Weber im Juni 1920 gestorben war.

Nun also, neunzig Jahre später, kann man die Fassung des ursprünglichen Manuskripts, das angeblich „verschollen“ war und durch Victor Lidz, den Nachlassverwalter von Parsons, im Archiv der Harvard Universität aufgefunden wurde, lesen. Ob man dabei gleich so weit gehen muss, wie das die Parsons-Interpretin Uta Gerhardt tut – „Man kann durch den Rückgriff auf ‚Der Kapitalismus bei Sombart und Max Weber‘ ein neues Kapitel der Soziologiegeschichte aufschlagen oder schreiben“ –, mag dahingestellt sein. Bemerkenswert ist der Text allemal, denn er zeigt, dass die Rezeption der Kapitalismus-Analysen von Werner Sombart und Max Weber auch vollkommen anders hätte verlaufen können als sie das tatsächlich tat. Sowohl im deutschsprachigen als auch, und ganz besonders, im englischsprachigen Raum.

Der Inhalt des Textes von Parsons ist leicht rekapituliert: Kapitel I („Einleitung“) erläutert das Erkenntnisinteresse des Doktoranden, dem es um den „Geist“ des Kapitalismus bei Sombart und Weber ging. Kapitel II („Vorhergehende Meinungen über den Kapitalismus“) kritisiert die vorangegangenen Analysen des Kapitalismus bei Richard Passow, Georg von Below und Lujo Brentano, die alle von Parsons als ungenügend abgetan werden. Kapitel III („Der Kapitalismus bei Sombart“) referiert einigermaßen ermüdend die „historisch-soziologische“ Kapitalismus-Theorie Sombarts. Kapitel IV („Der Kapitalismus bei Max Weber“) unternimmt das Gleiche für Weber. Kapitel V („Der Tatbestand des Kapitalismus“) enthält den Versuch eines Vergleichs beider Autoren und ihrer nicht deckungsgleichen Kapitalismus-Theorien. Kapitel VI („Schlusskapitel“) fasst zusammen und markiert Übereinstimmungen und Unterschiede beider Theorien. Konstatiert wird abschließend, dass beide Theoretiker „den großartigsten Versuch darstellen, die wirtschaftliche Entwicklung des Abendlandes als eine Einheit zu erfassen und in ein großes theoretisches Gebäude einzubauen.“ Alle diese Themen werden – nicht nur aus heutiger Sicht – in einer proseminaristischen Manier abgehandelt, noch dazu in einem überaus holprigen Deutsch. So lautet gleich der Einleitungssatz: „In der letzten Zeit hören wir viel am Marktplatz in allerlei Beziehungen vom Kapitalismus reden.“ Man darf sich schon wundern, womit man im Jahr 1927 mit dem Prädikat „summa cum laude“ an der Ruperto-Carola Universität zu Heidelberg promoviert wurde.

Das eigentlich Bemerkenswerte steht jedoch nicht in dem Text, sondern hat mit dessen Bedeutung für Parsons selbst zu tun. Dabei wird auch verständlich, warum er diese ursprüngliche Fassung als „verschollen“ in seiner Schublade verschwinden ließ. Und man versteht, warum er in seinem Schreiben an die „hohe Philosophische Fakultät“ behauptete, dass ihm die beiden ersten Kapitel seiner Arbeit „abhanden“ gekommen seien. Er habe sein Manuskript vor seiner Abreise Arnold Bergstraesser übergeben und nun seien die Kapitel über Sombart und Weber – das eigentliche Kernstück der Arbeit also – „auf noch nicht erklärte Weise in Verlust geraten und ich stehe nun vor der Tatsache, dass ich zwar die Schlusskapitel der Arbeit hier [in Cambridge] fertig gestellt habe, aber aus Zeitmangel nicht im Stande bin, die beiden ersten Kapitel neu zu schreiben.“ Uta Gerhardt macht deutlich, dass etwas ganz Anderes hinter dem „Verschwinden“ der ursprünglichen Fassung stand. In ihr hatte Parsons nämlich noch den Ansatz von Sombart in höchsten Tönen gelobt und die Webersche Kapitalismuskonzeption hingegen einer harschen Kritik unterzogen. Bereits in seinen Ausführungen über Sombart – dessen monumentale Darstellung Der moderne Kapitalismus in drei Bänden in den Jahren nach 1902 die zeitgenössische Diskussion beherrschte – und zwei Jahre vor der  Veröffentlichung von Max Webers  Aufsätzen über Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, hatte Parsons sich überaus kritisch über Weber geäußert: „Bei Max Weber […] kommt ein Kapitalismus heraus, der mit einem bestimmten Wirtschaftssystem nichts zu tun hat.“ Im Weber-Kapitel selbst wird diese Kritik noch wesentlich entschiedener, indem Parsons Weber „eine schlimme begriffliche Unklarheit“ vorwirft, verursacht durch die mangelnde Konsistenz des Weberschen Idealtypus von Kapitalismus.

Was war geschehen? Wieso „verschwand“ das Sombart-Lob und zugleich die Weber-Kritik? Uta Gerhardt erklärt es mit der Tatsache, dass Parsons bereits in seiner Heidelberg-Zeit und vor allem danach vollkommen in den Bann der Weberschen Schriften über die historische Bedeutung des Protestantismus geraten war. Vehement verstärkt wurde diese Fixierung auf eben diesen kanonischen Text durch die Tatsache, dass es Parsons gelungen war – ungeachtet seiner kärglichen Deutschkenntnisse –, die englischsprachige Übersetzung der Protestantischen Ethik übertragen bekommen zu haben. Ab dem Wintersemester 1927/28 arbeitete er an dieser Übersetzung, die durch die Unterstützung von Seiten Marianne Webers und den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zwischen dem Tübinger Verlag Mohr-Siebeck und Allen & Unwin (London) und Scribner (New York) zustande gekommen war. Uta Gerhardt schreibt dazu: „Da seine [Parsons’ ] Faszination mit der Protestantismusstudie unverändert seit seinen ersten Wochen in Heidelberg fortbestand, wäre es unklug gewesen, in seiner ersten wissenschaftlichen Schrift [der Heidelberger Dissertation] das Weber’sche Kapitalismuskonzept zu verwerfen und stattdessen das Sombart’sche zu befürworten.“

Zeitgleich mit der von Uta Gerhardt betreuten Ausgabe erschien eine zweisprachige Publikation der ursprünglichen Fassung der Dissertationsschrift von Parsons. Mit ihr haben der Wiener Soziologe Günter Stummvoll zusammen mit dem australischen Parsons-Forscher Bruce C. Wearne eine seitengenaue Übertragung des deutschen Textes in die englische Sprache vorgelegt, den sie die „the dissertation’s penultimate draft“ nennen. Sie wollen damit die „back story“ der Handlungstheorie von Parsons illustrieren.

Bei diesem Vorhaben nutzen sowohl Bruce C. Wearne als auch Günter Stummvoll die Gelegenheit zu ausführlicher Selbstdarstellung. Wearne rekapituliert anekdotenhaft seinen eigenen Weg zur lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk von Talcott Parsons, die sich vor allem in einem Buch aus dem Jahr 1989 schriftlich niederschlug. Angeblich befand sich bereits 1982 das Ursprungsmanuskript der deutschen Dissertationsschrift von Parsons in seinen Händen und schon damals hegte er den Wunsch nach einer englischen Übersetzung dieses Dokuments der „Wanderjahre“ seines Heroen. Es wird nicht ganz klar, warum es dann nochmals fast vierzig Jahre gebraucht hat, dass nun diese Seite-für-Seite-Fassung – die linke Seite ist jeweils die deutsche Originalfassung, die rechte die englische Übersetzung – vorgelegt wird, noch dazu in einem deutschen Verlag. Bruce C. Wearne, ehemaliger Soziologieprofessor an der australischen La Trobe University, teilt auf seiner Homepage mit, dass er an einer Studie arbeitet, in der es darum gehen soll, was es bedeutet zu „walken“, was ja weder einfaches „Gehen“ noch unser „Spazieren“ ist. Dieses Teilprojekt seiner „christlichen Soziologie“ soll zeigen, was es bedeutet, dem Wanderer Jesus Christus nachzufolgen. Auch darum scheint der Parsons-Interpret „a lot of walking“ am Strand von Point Lonsdale, seinem Wohnort, zu unternehmen, wie er berichtet. Auch der Weg der englischen Übersetzung des Erstlingswerks von Talcott Parsons hat ganz offensichtlich einen langen Weg hinter sich.

Der Wiener Soziologe Günter Stummvoll berichtet in seinem Beitrag Translation Matters ebenfalls von seinem eigenen, langen Weg zu diesem Vorhaben, der im Jahr 2002 am Institut für Höhere Studien in Wien begann. Wie Uta Gerhardt zeichnet er die verschiedenen Etappen des Weges nach, den Parsons nach seiner Ankunft in Heidelberg bei der Auseinandersetzung mit den deutschen Kapitalismus-Theorien gegangen ist. Hier erfahren wir auch, dass das Manuskript offensichtlich teilweise auf einer Schreibmaschine mit deutschen Umlauten und teilweise auf einer ohne diese Umlaute geschrieben wurde, was darauf hindeutet, dass Parsons den späteren Teil tatsächlich erst in den USA schrieb. Von Stummvoll erfahren wir weiterhin, dass Parsons, beeinflusst durch Emil Lederer, ursprünglich ein Kapitel über die Kapitalismus-Theorie von Karl Marx schreiben wollte: „It started with Marx, but ended with Max Weber.“ Was wohl aus diesem Kapitel geworden ist? Vermutlich ist es den gleichen Weg des „Vergessens“ gegangen wie die lobpreisenden Ausführungen über Sombart.

Was lässt sich nun summierend über die beiden Publikationen sagen?

Wer vor Augen hat, welche Bedeutung Max Weber – zumindest der von ihm konstruierte Weber – für das Gesamtwerk des soziologischen Klassikers Talcott Parsons hatte und für die von Parsons entwickelte, so überaus einflussreiche „Modernisierungs-Theorie“, kann sich nur die Augen reiben, was aus dieser Theorie wohl geworden wäre, wäre Parsons bei seiner Weber-Kritik geblieben und hätte sich seine lobpreisende Würdigung von Werner Sombart bewahrt. Möglichweise wäre dann heute Werner Sombart die Galionsfigur einer internationalen Kapitalismus-Interpretation und nicht sein zeitgenössischer Kollege Max Weber. Im Jahr 1970 fasste Parsons selbst die anhaltende Bedeutung seiner Heidelberger Dissertation folgendermaßen zusammen: „This work crystallized two primary foci of my future intellectual interests, the nature of capitalism as a socioeconomic system and, second, the work of Weber as a social theorist.“

Insofern kann die spezialisierte Soziologiegeschichtsschreibung für diese beiden Veröffentlichungen nur dankbar sein. Angesichts jedoch des enormen Bedeutungsverlusts von Parsons und auch der zunehmend abnehmenden Relevanz des Gesamtwerks Webers für die aktuelle Soziologie – jenseits der Lieferung von Stichworten und (häufig auch noch falsch zitierten) Schlagworten – muss der Wert dieses phantasievollen Spekulierens – nach dem Motto: Was wäre gewesen, wenn… – relativiert werden. Wen jedoch die Details derartiger Überlegungen interessieren, der ist mit den beiden rezeptionsgeschichtlichen Darstellungen von Uta Gerhardt und Günter Stummvoll sehr gut bedient.

Anmerkung: In der bibliographischen Angabe unten zu dem im LIT Verlag erschienenen Buch wurde ein peinlicher Fehler auf dem Buchumschlag korrigiert. Im Untertitel ist dort wie bisher auch noch auf der Homepage des Verlags der Name von Parsons falsch (ohne r) geschrieben. Es steht dort: „Talcott Pasons‘ Dr. Phil Dissertation in German and English“.

Titelbild

Talcott Parsons: Kapitalismus bei Max Weber – zur Rekonstruktion eines fast vergessenen Themas. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Uta Gerhardt.
Springer Fachmedien, Wiesbaden 2018.
167 Seiten, 37,99 EUR.
ISBN-13: 9783658101107

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Titelbild

Günter Stummvoll / Bruce C. Wearne (Hg.): Der Kapitalismus bei Sombart und Max Weber – Capitalism according to Sombart and Max Weber. Talcott Parsons‘ Dr. Phil Dissertation in German and English.
Studies in the Theory of Action, Bd. 5.
LIT Verlag, Berlin 2018.
344 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783643508713

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