Im Land der Hexenbanner und Wunderheiler

Helga Bürster erzählt von einer Frau, die in der Nachkriegszeit als Hexe denunziert wurde – und von desorientierten Menschen ohne Vertrauen in die Institutionen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stunde Null, Trümmerfrauen, Wirtschaftswunder: Das sind die Stichworte, die einem einfallen, wenn man an das Deutschland der unmittelbaren Nachkriegsjahre denkt. Nicht aber Erweckungsprediger, Hexenbanner oder Wunderheiler. Dabei erlebte der Okkultismus nach 1945 hierzulande einen regelrechten Boom. Erst 2021 hat die US-Historikerin Monica Black in ihrem Buch Deutsche Dämonen an diese Zeit erinnert.

Überraschend waren ihre Funde nur auf den ersten Blick. Schließlich suchten die Menschen in Umbruch- und Krisenzeiten schon immer Halt und Orientierung im Irrationalismus. Und mehr Umbruch und Krise waren selten als in diesem ausgebombten, moralisch bankrotten Land, durch das Scharen von Flüchtlingen, Kriegsheimkehrern und Holocaust-Überlebenden zogen. Jetzt erzählt die Bremer Autorin Helga Bürster, Jahrgang 1961, vom Okkultismus-Boom der Nachkriegszeit in einem Roman. Als wir an Wunder glaubten spielt im Jahr 1949, in einem ostfriesischen Dorf namens Unnermoor, in dem gleich zu Romanbeginn der Weltuntergang ansteht.

So verkündet es zumindest ein angeblicher „Professor“, der mit seiner Weissagung von Dorf zu Dorf zieht und den auch die kleine Betty gerne sehen würde:

Sie war bald zwölf und schon fast erwachsen, aber das sahen die Großen mal so, mal so, wie es ihnen gerade passte. So ging das mit allem. Heute Weltuntergang, morgen Tanztee, Hauptsache, es lenkte vom schlechten Gewissen ab, denn sie hatten alle versagt. Man musste sich nur angucken, was da auf den Professor wartete. Krüp pel und Versehrte. Darüber hinaus war noch einiges mehr angerichtet worden. All die Heimatlosen, die Waisen, das ganze vagabundierende Gesindel, das kein Zuhause mehr hatte. Eine Völkerwanderung sondergleichen.

Betty, die Hauptfigur, ist die Tochter von Edith Abels, einer Frau, die sich mit Näharbeiten durchschlägt und an die Hoffnung klammert, ihr in Russland verschollener Mann könnte doch noch zurückkehren. Weil sie aber rote Haare hat und anrüchigen Umgang pflegt, ist sie im Dorf als „Töversche“, als Hexe, verschrien. Zu ihren Freundinnen gehört etwa die „krumme Katie“, eine pfiffige Hausiererin im geflickten Mantel eines Generalmajors, die mit ihrem Glasauge die Menschen in die Zukunft blicken lässt. Bei ihr selbst scheint es zu funktionieren: Denn bald schon sattelt die „krumme Katie“ um und startet wie einst Beate Uhse einen florierenden Versandhandel mit „Artikel für Ehehygiene“ – als Stellvertreterin für all die toughen Frauen, die sich im und nach dem Krieg allein durchschlugen.

Nichts mehr von Edith wissen will dagegen ihre einst beste Freundin Anni, eine Frau voller Zorn, vor allem auf Edith, denn irgendjemand muss schließlich für das kranke Vieh verantwortlich sein, für Annis behinderten Sohn und den vom Krieg verstümmelten Alkoholiker in ihrem Ehebett. Für ihren Schutz bezahlt Anni einen Mann, der sich „Spökenfritz“ nennt und sich mit Schutzzaubern auszukennen behauptet. Für den einstigen Aufseher einer nahen Baracke mit KZ-Häftlingen ist die Arbeit als „Hexenbanner“ ein einträgliches Geschäft.

Die Handlung von Bürsters Roman ist zwar fiktiv – folgt aber bis in die bizarren Details historischen Vorbildern: So wie der Spökenfritz im Roman suchten damals diverse angebliche Hexenbanner nach unheilvollen „Federkränzen“ unter den Matratzen ihrer Klienten. Und wie am Romanende kam es auch in der historischen Wirklichkeit zu Prozessen, in denen sich als Hexen verschriene Frauen gegen ihre Denunzianten zu Wehr setzten.

Der Gang vors Gericht setzte freilich ein Vertrauen in die Institutionen voraus, und Bürsters präzise recherchierter, klug konstruierter Roman zeigt, wie sehr gerade der umfassende Vertrauensverlust nach der NS-Zeit die Menschen zum Okkulten trieb:

Anni blieb am Tisch sitzen, sie hing ihren Gedanken nach. Wann hatte das angefangen, dieses Nicht-mehr-Mitkommen und Nicht-mehr-Verstehen? Bei Willis Geburt. All die Spritzen und was sie mit ihr angestellt hatten. Dann die Ärzte, denen man ausgeliefert war. […] Das Alte war anders. Nicht unbedingt besser, aber sie kannte sich damit aus. Das machte den ganzen Unterschied.

Eine Metapher für das „Alte“, für die Vergangenheit und die Erinnerung an sie, ist im Roman das Moor – der Ort, wo die „Glöhnigen“, die Verdammten, hausen und wo man alles Unliebsame loswerden kann, auch Waffen oder tote Zwangsarbeiter. Im Roman soll 1950 das Moor dem Fortschritt weichen; ein Riesenbagger legt das Moor trocken; der Bürgermeister rühmt das Ungetüm entlarvenderweise als „Wunderwaffe“.

Zugegeben: Für Liebhaber anspruchsvoller Prosa bietet Als wir an Wunder glaubten eher wenig Reize, einzig die plattdeutschen Einsprengsel wie „oole Hex“ oder „Töversche“ verleihen dem Werk sprachliche Würze. Dafür hat Helga Bürster ein ebenso unterhaltsames wie atmosphärisch dichtes Werk vorgelegt; sein Wert liegt vor allem darin, eindringlich an ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte zu erinnern.

Titelbild

Helga Bürster: Als wir an Wunder glaubten. Roman.
Insel Verlag, Berlin 2023.
285 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783458643883

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