Dem Schwärzzwang zum Trotz
Albrecht Selge legt mit „Silence“ einen ebenso leisen wie großen Roman über das Leben vor
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKünstlertum und Lärm, das ist seit jeher eine heikle Beziehung. Um es mit Blaise Pascal zu sagen: Es braucht „nicht das Knallen einer Kanone“, um Gedanken am Entstehen zu verhindern, dazu reicht schon „das Knallen einer Wetterfahne“. Oder, Sprung ins Heute, der Lärm von Laubbläsern oder E-Scootern. Letzterer ist es, der Albrecht Selges Ich-Erzähler – zugleich das Alter Ego des Verfassers – im Berliner Großstadtalltag in den Wahnsinn treibt, ob auf dem Weg ins Museum oder zum Vater ins Pflegeheim.
Und das trotz der stets mitgeführten Noise-Cancelling-Kopfhörer oder des altbewährten Ohropax, auf das bekanntlich schon Franz Kafka schwörte. Kafka, ebenfalls ein „lebenslanger Geräuschleider und Krachhypochonder“, gehört zu den vielen Säulenheiligen in diesem gedankenreichen, bildungsgesättigten 176-Seiten-Roman, neben John Cage, Marlen Haushofer, Terry Pratchett oder Robert Musil. Silence ist dem Boom-Genre der Autofiktion zuzurechnen und gleich zu Beginn bedankt sich der Autor bei all seinen Mitmenschen, die darin vorkommen.
Das erscheint durchaus nötig, wenn man bedenkt, was für ein offenherziges Abbild seines Familienlebens und seiner Lebensumstände der 49-jährige Autor hier allem Anschein nach vorlegt, inklusive der fröhlich-einvernehmlichen Polyamorie, die er und seine Frau L demnach pflegen: sie mit dem verlässlich-straighten St, er mit H, einer besonders einfallsreichen Domina. Die herrlich-selbstironische Szene, in der der Ich-Erzähler im Finstern nackt, gefesselt und vor Angstlust glücklich zitternd an Gadamers Wahrheit und Methode denkt, dürfte einem noch lange im Gedächtnis bleiben.
In dieser Passage verdichtet sich der Grundgedanke von Selges Roman: Mögen wir uns lebenspraktisch noch so nah sein, letztlich bleiben wir uns doch einander fremd, Eheleute nicht anders als Eltern und ihre Kinder. Das wird beim glücklichen „Schweigend-beieinander-Sein“ im abendlichen Schlafzimmer ebenso deutlich wie morgens, wenn bei Selges der Hausmann das familiäre „Hauptquartier des Lärms“ (Kafka) endlich für sich hat, die Gattin zur Arbeit, die Kinder zur Schule gegangen sind und Ruhe eingekehrt ist. Es ist die Stille, die erst das intensive Nachdenken über die Menschen, mit denen man sein Leben teilt, ermöglicht.
In den Fokus des dreifachen Vaters rücken dabei gerade seine Sprösslinge, deren „jahrelanges, schrittchenweises Abschiednehmen“, vulgo Älterwerden, den Ich-Erzähler Tag für Tag aufs Neue verstört. Sein Ältester, vom Erzähler wegen seiner Ausgeglichenheit „Mittwoch“ genannt, will unversehens den Klavierunterricht hinschmeißen; die Mittlere bzw. „Schwierige“ ist gerade 13 geworden, verlässt kaum noch ihre „Spiegelfestung“ und heimst sich wegen ihrer Stimmungsschwankungen den Spitznamen „November mit Gewitter“ ein.
Und dann ist da noch „Mai“, der Jüngste, ein Ausbund an Lebensglück und innerer Zufriedenheit. Allmorgendlich wirft er dem Vater auf dem Weg zur Grundschule noch eine letzte Kusshand zu – nur wie lange noch? Und wie kann man bei seinem Anblick die Einsicht in den ewigen Kreislauf des Lebens ertragen, zumal vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe?
Von Neuem der Gedanke, wie es Menschen überhaupt gelingen kann, nicht zu verzweifeln. Und wie es Eltern überhaupt möglich ist, nicht in einem fort daran zu denken, dass ihre Kinder einmal alte Menschen sein werden, mit aller Bürde, allem Leid, und dann werden sie sterben. Die Kinder werden sterben. Uns dauernd Traurigen (mir) fehlt wohl irgendein Mechanismus, ein Trosthebel, wir haben einfach einen Defekt.
Vom „Schwärzzwang“ bestimmte Reflexionen wie diese drängen sich dem Ich-Erzähler gerade im Hin und Her zwischen Besuchen mit dem Jüngsten auf dem Spielplatz und beim langsam verdämmernden Vater im Pflegeheim auf. Dessen Vorbild in der Realität ist der 2022 verstorbene Kirchenhistoriker Kurt-Victor Selge, der in seiner Jugend noch Furtwängler erlebte und in seinem Sohn die lebenslange Liebe zur Musik entzündete.
Auch wenn dieser leise (und übrigens überraschend komische) Roman auf den Tod des Vaters zuläuft, lässt sich doch nicht von einer Handlung sprechen. Vielmehr sind die „unsystematisch streunenden Gedanken“ des melancholiegeplagten Ich-Erzählers tatsächlich „nur“ ein „loses Sinnieren“ über das Entsetzen und das Glück, die Angst und die Liebe, das sich bei Besuchen im Techno-Fetisch-Club Kitkat ebenso entzündet wie in der Oper, auf dem Friedhof, im Bad auf der Jagd nach Silberfischchen oder auf Reisen nach Bonn, Prag oder Teheran.
Um eine Formulierung von „November mit Gewitter“ aufzugreifen: Man sieht dem Ich-Erzähler gebannt einfach „beim Existieren zu“, auch wenn es dabei nur um „Nebenempfindlichkeiten und Kleinsttraurigkeiten“ gehen mag. Es spricht für Selges artistische Raffinesse, wie sehr das voll und ganz genügt. Mehr noch: Selges Sprachvirtuosität macht Silence zu einem jener seltenen Bücher, von denen man nach der Lektüre, ähnlich den Werken einer Sigrid Nunez oder Joan Didion, augenblicklich weiß, dass man sie unbedingt noch einmal lesen will.
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