Poet und Ermittler
Ein Nachruf zum Tod von Peter Weiss aus dem Jahr 1982
Von Marcel Reich-Ranicki
Peter Weiss ist tot: Der weltberühmte deutsche Dramatiker und Erzähler starb am 10. Mai in der Stadt, in der er einst Zuflucht gefunden hatte und in der er seit Jahrzehnten lebte – in Stockholm.
Er wurde 1916 in Nowawes bei Berlin geboren. Sein Vater war ein aus der Tschechoslowakei stammender jüdischer Textilkaufmann – und damit ist schon ein fundamentales, ein entscheidendes Element angedeutet, unter dessen Einfluss Leben und Werk des Peter Weiss standen. Wie ist das zu verstehen?
In Bremen und Berlin wuchs er auf. 1934 emigrierte er mit seiner Familie über England nach Prag. Nicht Schriftsteller wollte er werden, sondern Maler. Er studierte an der Prager Kunstakademie, eines seiner Bilder wurde preisgekrönt. 1939 kam Peter Weiss nach Schweden, 1945 wurde er schwedischer Staatsbürger.
Er wollte ein Schwede oder zumindest ein schwedischer Künstler und später auch Schriftsteller sein. Er malte und zeichnete, er drehte experimentelle Filme, er schrieb Erzählungen in schwedischer Sprache, die er makellos beherrschte. Das Echo war schwach; in dem Land, dem er verdankte, dass er den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, blieb er ein Fremdling. In einem seiner schönsten Bücher, dem „Abschied von den Eltern“, findet sich die Feststellung, von der jede Deutung des Werks von Peter Weiss ausgehen sollte: „Die Emigration war für mich nur die Bestätigung einer Unzugehörigkeit, die ich von frühester Kindheit an erfahren hatte. Einen heimischen Boden hatte ich nie besessen.“
Und als 1965 der Verleger Klaus Wagenbach viele deutsche Autoren aufforderte, den für sie wichtigsten Ort zu beschreiben, da schilderten die meisten die Stadt ihrer Kindheit oder Jugend oder irgendeinen Ort, an dem sie etwas Bemerkenswertes erlebt hatten. Auch Peter Weiss steuerte einen Beitrag für diese Anthologie („Atlas“) bei: Aber er schrieb über den Ort, für den er bestimmt und dem er entkommen war – über Auschwitz.
Immer wieder hatte Weiss die Rückkehr nach Deutschland geplant oder zumindest im Freundeskreis erörtert, zuletzt noch im vergangenen Jahr. Er konnte sich dazu nie entschließen: Ihm erging es wie jener griechischen Königstochter, von der Goethe sagt, dass ihr die Fremde nicht zur Heimat, wohl aber die Heimat zur Fremde geworden war. Überall war er erfolgreich und doch blieb er überall, auch und vor allem in dem Land seiner Sprache, ein Außenseiter, ein Fremdling.
Denn zur deutschen Sprache war Peter Weiss schon um 1950 zurückgekehrt. Seine frühen Bücher, den Mikroroman „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ und die autobiographische Erzählung „Abschied von den Eltern“, wollte kein deutscher Verlag publizieren. Als sie aber Anfang der sechziger Jahre erschienen, erkannte die junge Generation, auch wenn sich der Publikumserfolg zunächst in bescheidenen Grenzen hielt, in dem Emigranten Weiss einen Erzähler, der ihr Lebensgefühl und ihre Ängste zu artikulieren imstande war.
Er, zu dessen Vorbildern so unterschiedliche Schriftsteller wie Kafka und Hesse gehörten, hatte in diesen Büchern (auch im „Fluchtpunkt“) von der eigenen Heimatlosigkeit und Entfremdung, von seiner Verlorenheit und Entwurzelung erzählt. Doch die von ihm, dem Verstoßenen, dem ewigen Außenseiter erzählten persönlichen Erlebnisse wurden von den Lesern, deren Zahl ständig wuchs, als Extrembeispiele der menschlichen Existenz verstanden. Anders ausgedrückt: als Parabeln von der Situation des Individuums nach dem Zweiten Weltkrieg.
Aber erst das dramatische Werk machte Weiss zu einem europäischen Schriftsteller, dessen Bühnenstücke schließlich in allen Erdteilen gespielt und leidenschaftlich diskutiert wurden. Unvergesslich ist für alle, die daran teilgenommen hatten, jener Abend im Herbst 1963, als Weiss auf der Tagung der „Gruppe 47“ mit einer Trommel zwischen den Beinen den Versammelten lesend, singend und trommelnd ein Stück präsentierte, dessen Titel schon die Zuhörer verblüffte: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“. Wenige Monate später, im April 1964, fand die Uraufführung im Schiller-Theater in Berlin statt: Es war, wie ein Kritiker damals schrieb, eine Sternstunde des deutschen Dramas, des deutschen Theaters.
Im Jahre 1808 werden in der Irrenanstalt Vorgänge aus dem Jahr 1793 aufgeführt, aus der Zeit der Revolution also. Doch spielt das Stück von Peter Weiss nicht auf zwei, sondern auf drei verschiedenen Zeitebenen – die dritte, das ist unsere Gegenwart.
Mit dem zentralen Konflikt, verkörpert in den Personen des Marat und des de Sade, hatte Weiss unsere Zeit mitten ins Herz getroffen. Denn dem unbeirrbaren Revolutionär Marat, der nur an die Sache und die Idee glaubt, stellte Weiss de Sade gegenüber, den Verfechter des Individualismus, der die Veränderbarkeit der Welt skeptisch beurteilt.
Eine solche Wiedergabe dieses Stückes kann freilich den Eindruck erwecken, es handele sich um ein zwar gedankenreiches, doch eher dürres oder trockenes, auf jeden Fall recht abstraktes Werk. In Wirklichkeit verdankt dieses Drama seine Kraft der Vielfalt und Vitalität eines außergewöhnlichen Bühnentalents, eines Autors, der gewiss viel von Brecht gelernt hatte, jedoch souverän und temperamentvoll die unterschiedlichsten Stilmittel anzuwenden und zu einer wahrhaft komödiantischen Einheit zu vereinen wusste.
In den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion geriet Weiss nicht nur durch dieses Stück, das man sehr bald in Ost und West (übrigens in verschiedenen Fassungen) spielte, sondern durch seine spektakuläre politische Entscheidung. 1965 erklärte er in dieser Zeitung, er könne an eine „unabhängige künstlerische Region“ nicht mehr glauben. Wenig später konnte man im „Neuen Deutschland“ das Kredo von Peter Weiss lesen: „Zwischen den beiden Wahlmöglichkeiten, die mir heute bleiben, sehe ich nur in der sozialistischen Gesellschaftsordnung die Möglichkeit zur Beseitigung der bestehenden Mißverhältnisse in der Welt.“
Die Schriftsteller im Westen seien, meinte damals Weiss, vom kapitalistischen System abhängig. Und in der kommunistischen Welt? Von der dort existierenden Abhängigkeit des Schriftstellers wollte Weiss lange nichts wissen, freilich erklärte er damals unmissverständlich, dass seiner Ansicht nach der Sozialismus „Selbstkritik und volle Redefreiheit“ voraussetze.
Nun hatte Peter Weiss in einem großen Kollektiv der Gleichgesinnten Zuflucht gefunden – er fühlte sich geborgen unter den Vorzeichen einer vereinenden Idee von universalem Anspruch. Weiss, der Einsame, der Ausgestoßene, der Heimatlose, glaubte die Küste des gelobten Landes zu sehen. Doch die Erkenntnis, dass jenes gelobte Land einer Fata Morgana gleicht, blieb ihm nicht erspart.
Einige Jahre lang wurde er in den östlichen Hauptstädten gespielt und gerühmt. Seine Stücke waren willkommen: so das „Oratorium in elf Gesängen“, die „Ermittlung“ (1965) nämlich, in dem Weiss, die Akten des Auschwitz-Prozesses verwendend, die einzelnen Stationen des Vernichtungslagers zu zeigen versucht hatte, so ferner das Dokumentarstück „Gesang vom lusitanischen Popanz“ (1967), das gegen das portugiesische Kolonialregime in Angola gerichtet ist, so der höchst umstrittene und von manchen Beobachtern als simple Propaganda abgelehnte „Viet Nam Diskurs“ (1968).
Nach der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei revidierte Weiss seine politischen Anschauungen – aber nicht etwa in Artikeln oder Interviews, sondern mit Hilfe eines Bühnenwerks. In dem Stück „Trotzki im Exil“ (1970) befürwortete er zwar die kommunistische Weltrevolution, aber er distanzierte sich von den Methoden des Stalinismus.
Das künstlerisch missratene und mit allzu simplen Mitteln arbeitende Stück hatte, wie nicht anders zu erwarten war, den Konflikt zwischen Weiss und der kommunistischen Welt zur Folge: In Moskau (und bald auch in Ost-Berlin) warf man ihm „ideologische Sabotage“ vor. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, Weiss habe sich von dieser Enttäuschung nie erholt. Sein Spätwerk, zumal seine Romantrilogie „Ästhetik des Widerstands“, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.
Zunächst hatte er in dem Stück „Hölderlin“ (1971) den immerhin originellen und kühnen Versuch unternommen, Hölderlin nicht nur als Revolutionär, sondern schon fast als einen Vorläufer von Karl Marx zu interpretieren. Die zwiespältige Reaktion auf dieses (wiederum in West und Ost gespielte) Bühnenwerk mag dazu beigetragen haben, dass Weiss sich in den siebziger Jahren fast ausschließlich der Epik zuwandte.
Von den drei Bänden der „Ästhetik des Widerstands“ hatte der erste, 1975 veröffentlicht, wohl das stärkste, jedenfalls das freundlichste Echo. Die Trilogie ist eine Art Erziehungsroman und zugleich die „Wunsch-Autobiographie“ des Schriftstellers Peter Weiss, der seinen tatsächlichen Lebenslauf ins Proletarische überträgt.
Sein Ich-Erzähler ist ein Mann des Jahrgangs 1917, der aus Deutschland emigriert, doch (anders als Weiss) am Spanischen Bürgerkrieg teilnimmt und später nach Schweden flieht. Was ist diese Trilogie? Ein Bewusstseinsprotokoll? Eine essayistische Auseinandersetzung mit unserer Epoche? Eine Chronik? Oder vielleicht eben doch – der Begriff ist ja weit genug – ein Roman? Auf jeden Fall eine strenge und streckenweise fast monomane Selbstanalyse, geschrieben von einem, der nicht zögert, sich selber auf die Anklagebank zu setzen.
Der zwiespältige Eindruck, den diese „Ästhetik des Widerstands“ hervorrief und hervorrufen musste, hat weniger mit den ideologischen und politischen Aspekten des Werks zu tun als mit seiner Sprache. Denn gerade da, wo er Denkprozesse wiedergibt, wo er sich mit Zeitgeschichtlichem und Politischem direkt auseinandersetzt, vermochte Weiss adäquate künstlerische Ausdrucksmittel nur selten zu finden. Die Prosa von Weiss lebt hingegen da, wo er seinen Helden mit der Kunst konfrontiert – mit dem Pergamon-Altar etwa, mit Picasso oder Breughel, mit einer Kathedrale in Barcelona.
Gleichzeitig mit dem dritten Band der „Ästhetik“ erschien 1981 ein weiteres Buch von Peter Weiss: seine „Notizbücher 1971–1980“. Es ist ein höchst intimes Journal, aufschlussreich, belehrend und ergreifend, in mancherlei Hinsicht wohl auch überzeugender als die überaus ehrgeizige, hier und da die Möglichkeiten des Autors doch wohl überschreitende Trilogie.
Ein höchst persönliches Werk ist auch das Stück, dem Weiss ebenso als Autor wie auch als Regisseur seinen letzten Erfolg zu verdanken hatte: die vor wenigen Wochen in Stockholm uraufgeführte Bühnenfassung des „Prozeß“ von Kafka, ein Drama, das, wie in unserer Zeitung zu lesen war, als „ein moderner Todestanz am Rande des Abgrunds“ zu verstehen ist.
Wie die besten seiner Werke mutet auch das Leben des Peter Weiss gleichnishaft an: Es ist die Geschichte des Mannes, der ein Leben lang auf der Suche nach einer Heimat war – und der sie schließlich gefunden hat. Aber seine Heimat war nicht ein Land und nicht etwa eine Ideologie, es war vielmehr die Kultur, die ihm schließlich Schutz bot.
Die Kritiker und Literaturhistoriker werden sich noch lange mit seinem vielschichtigen Werk befassen. Sie werden ihn zu jenen deutschen Schriftstellern zählen, die, aus Deutschland vertrieben, zum Ansehen, ja zum Ruhme der deutschen Literatur unserer Epoche beigetragen haben.
Hinweise der Redaktion
Erstdruck und Publikationsvorlage unter dem Titel Poet und Ermittler. Zum Tode von Peter Weiss Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 1982, Feuilleton, S. 25. Nachdruck in: Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Thomas Anz. München: DVA 2014. S. 398-403. Der Beitrag wurde neu veröffentlicht im Rahmen einer Sonderausgabe von literaturkritik.de mit gesammelten Beiträgen von Reich-Ranicki über Peter Weiss.