Die Risiken der Digitalisierung

Richard David Precht plädiert in „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ für Philosophie

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Handwerk des Denkens gehört die harte, geduldige und ausdauernde Arbeit am Begriff und die kritische Reflexion von Argumenten. Die Lektüre philosophischer Werke – von Kants Kritik der reinen Vernunft über Hegels Phänomenologie des Geistes und Heideggers Sein und Zeit bis hin zu Adornos Ästhetische Theorie – gleicht einem Ausflug ins Hochgebirge des Geistes. In der Moderne plädierten prominente Philosophen wie Karl R. Popper mit dem Diktum „Alle Menschen sind Philosophen!“ für Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit. Unter diesem Motto könnte auch das Schaffen des Philosophen Richard David Precht stehen, der 2007 mit dem Bestseller Wer bin ich – wenn ja, wie viele? bekannt wurde. Seither verfasste er zahlreiche zeitdiagnostische Streitschriften, effektvoll platziert in vielen Bereichen des Wissens, ebenso leicht verständliche Einführungen in die Geschichte der Philosophie.

Weniger die filigrane Feinarbeit des philosophischen Denkens ist Prechts Metier, sondern die pointierte Lust am Widerspruch gegenüber einem vermeintlichen oder tatsächlichen Mainstream, die politische Profilierung und die ungeniert vorgebrachte Meinung. Zudem nutzt der Philosoph mit Vorliebe schlagkräftige, zuweilen auch sehr farbenfrohe Metaphern, um die Gedanken, die ihn zuinnerst bewegen, markant vorzubringen. In seinem neuen Buch äußert er sich eloquent über die Digitalisierung und ihre Folgen. Er beschreibt eine Art gesellschaftspolitische Krise und entwirft ein umfassendes ökonomisches Bedrohungsszenario:

Kontrolliert wird der Markt nicht durch staatliche Ordnungspolitik, sondern durch eine Reihe subtiler Methoden wie Interfaces, Ratings und Trackings, durch die sich Nutzerverhalten steuern und Daten schöpfen lassen.

Die „KI“, die „künstliche Intelligenz“, dringe nun in die „feine Unterwäsche des Bewusstseins“ ein: „Textilien mit Sensoren nehmen Emotionen wahr, scannen und vermessen sie. Hirn- und Körperscanner durchpflügen die Gefühlswelt. Jeglicher Verhaltensimpuls, auch die feinsten emotionalen Regungen sollen ebenso kommerzialisiert werden wie jedes etwaige zukünftige Verlangen.“ Schneidig spricht er über eine „hochexpansive Ökonomie“ und beklagt den „Abbau der Humanität“ heute.

Precht sieht die Autonomie des Menschen in Gefahr und fürchtet, dass die Selbstverwirklichung der Person, die er existenzphilosophisch begreift, von den Plänen und Absichten der „IT-Visionäre“ bedroht ist. Die Vordenker der „Künstlichen Intelligenz“ hätten eine „Maschinenreligion“ entworfen:

Die Zukunftswelt gleicht einem entfesselten Finanzmarkt, jenem Nicht-Ort, an dem schon jetzt geschieht, was irgendwann überall passieren soll. Eine schier allmächtige Quantum-Intelligenz dreht von einer Cloud aus die Welt, sieht alles, was in finsterster Nacht passiert, hält alle Fäden mit Wertpapieren in der Hand, jagt Finanzströme um den Globus und optimiert sich dabei ins Unendliche.

Der Mensch sei nicht mehr als ein „kleines hilfreiches Werkzeug“, eine „Trägerrakete für die Erleuchtung des Universums mit der KI“. Gesetzt, diese Weltbeschreibung oder Prognose würde zutreffen, warum bleibt ein Korrektiv aus – etwa auf politischem Weg? Precht bemerkt resignierend: „In der Politik … haben hochbegabte Menschen in der Regel kaum eine Chance.“

Ein philosophisch kundiger Leser mag an den Dialog „Politeia“ denken, an das „Höhlengleichnis“, in dem Platon aufzeigt, dass weltliches Wissen nur eine Täuschung ist und dass jene Personen, die den Weg zur Wahrheit suchen und finden, von den Mächtigen – wie Sokrates – getötet würden. Dieses Beispiel führt Precht nicht an, aber über die griechische Philosophie äußert er sich gelegentlich, zumindest in Andeutungen. Es ist erlaubt, die Antike wert- und hochzuschätzen und angemessen zu würdigen. So schreibt der Verfasser über die Philosophen der Antike:

Geist, Denken, Vernunft und Kalkül waren jene Eigenschaften, die Männer an der schönen Küste Kleinasiens unweit des Ägäischen Meeres im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert zu den Wesensmerkmalen des Menschlichen erklärten. Der Logos schenkte ihnen die Teilhabe an einer höheren Sphäre des Seins, die größer ist als der Mensch selbst. Vom Himmel ins Bewusstsein geholt, wird sie zur Allzweckwaffe. Sie ist Denkmethode, Instanz, Sinnstiftung – aber vielleicht auch nur eine Fiktion, geboren in den Bewusstseinszimmern enger Wirbeltiergehirne.

Precht übertreibt absichtlich und blendet den historischen Kontext vollständig aus: Die Wiege des abendländischen Denkens, in Athen und anderswo, stand aber in einer Sklavenhaltergesellschaft, gegen die nicht ein einziger von jenen bis heute verehrten Philosophen opponierte, in einer Zeit, in der ausschweifende Lustbarkeiten unter Männern und Knaben stattfanden und in der Frauen zu Objekten des Hausstandes gehörten. Der Kontext schmälert vielleicht nicht die Ingeniösität des Denkens, aber berücksichtigt, zumindest erwähnt werden, könnten die gesellschaftlichen wie kulturellen Zeitumstände, unter denen philosophische Werke entstanden sind, durchaus. 

Precht lobt, wie viele andere, das antike Denken konsequent und setzt die Besinnung darauf gegen die Strömungen der Moderne: „Der Ehrgeiz der antiken Griechen war das souveräne Sich-Abfinden; Optimierung bedeutete, gelassener zu werden. Wie weit haben wir uns inzwischen davon entfernt, wenn Glück stets einen Kick bedeuten muss, eine challenge und wenn es stets im Neuen liegen soll und nicht im Gewohnten, Bekannten und Vertrauten?“

Precht sagt, die „heutige Generation der Logos-Sekte“ träume von etwas anderem: „Hohepriester des Silicon Valley lehren uns, in Menschen unvollständige Maschinen zu sehen, statt in Maschinen unvollständige Menschen.“ Den eilfertigen Gehorsam gegenüber den „Spielregeln unserer Ökonomie“ weist Precht ab. Der „Drang zum Mehr“ sei „kein Urtrieb“, sondern dem Ökonomismus der Gesellschaft geschuldet. Er fordert eine Besinnung auf „Lebensqualitäten“ ein, die „im antiken Griechentum“ etwa in dem „Gleichgewicht der Seelenkräfte“ wie in einer „wachen Sinnlichkeit“ ebenso vorfindlich gewesen seien wie in „fernöstlichen Glaubensrichtungen“.

Denkt Precht hier an Epikurs Philosophie der Freude? Oder orientiert er sich an der Vorstellung der Seelenruhe, wie sie in der römischen Stoa von Seneca dargelegt wurde? Das bleibt offen.

Die Stoiker etwa hegten keine Sympathien für Sinnlichkeit und Emotionen, sondern forderten die innere Haltung der Apathie – im Gegensatz zu Precht, der die „emotionale Sensitivität“ mit Recht als wichtiges Merkmal des Menschen ansieht. Dieses Bedürfnis, so der Philosoph, wollen die „IT-Apostel“ heute scheinbar nicht wahrnehmen, weil die Konstrukteure der KI in anderen Kategorien dächten und das Leben technisch als „Problemlösen“ begreifen würden. Precht fürchtet, dass eine „technische Allproblemlösungsgesellschaft“ entstehen könnte: „Die sinnfälligste Neuerung des Digitalzeitalters ist die inflationäre Vermehrung von Problemen. Was nicht der Norm entspricht oder prinzipiell optimierbar ist, wird sofort als Problem identifiziert.“ Er behauptet indessen: „Leben ist kein schablonenhaftes Problemlösen. Wenn wir die Welt erfassen, so stellen wir Beziehungen zwischen den Dingen her. Wir denken nicht in Begriffen, sondern in Relationen. Jedes Denken steht in Beziehungen und ist damit relativ. … Das Denken ist das, was sich zwischen den Wörtern und Sätzen abspielt, eine Bewegung, die sich nicht dingfest machen lässt. Insofern bildet das Denken die Welt auch nicht ab – es erzeugt sie.“

Auch in früheren Büchern hat Richard David Precht Sympathien für den Konstruktivismus gezeigt. Diese Auffassung kann philosophisch heute vertreten und angefochten werden, ebenso wie zahlreiche Philosophen – ohne deswegen wissenschaftsgläubige Positivisten sein zu müssen – den objektiven Wahrheitsbegriff nicht aufzugeben bereit wären und den postmodernen Relativismus abweisen würden, den Precht in gleicher Weise entschlossen vertritt, wie er sich zu Werten wie „Menschenwürde“ bekennt.

Als „Quintessenz aus zweieinhalbtausend Jahren abendländischer Moralphilosophie“ zieht der Philosoph die Einsicht, „dass zumindest situativ immer unsere Gefühle entscheiden“. Moralisches Handeln sei intuitiv und gefühlsorientiert, aber die Intuitionen des Menschen seien „lernfähig“: „Vernunft alleine gebiert dagegen keine Moral. … Moral ohne Subjektivität ist keine Moral und Subjektivität ohne Moral keine Subjektivität.“ Diese apodiktisch formulierten Setzungen müssten kritisch diskutiert werden, weil etwa die von Precht massiv gescholtenen Nützlichkeitsphilosophen dieser Ansicht zustimmen könnten. Die „KI-Visionäre“ seien nämlich Utiliaristen, und den Utilitarismus – trivial zusammengefasst der maximale Nutzen und das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen – lehnt Precht ab.

Wenn Moral und Subjektivität einhergehen, was spricht dagegen, dass Wohlergehen, Selbstverwirklichung und materieller Reichtum für viele Menschen als subjektiv sinnvoll und moralisch akzeptabel angesehen werden könnten? Immer wieder greift Precht die Sinnfrage auf: „Sinn ist eine höchst subjektive Kategorie, keine objektive. Mein Lebenssinn lässt sich nirgends vorfinden. Zu einem bestimmten Sinn bekennt man sich oder nicht, man wählt ihn aus, man interpretiert ihn. Sinn ist immer individuell und damit das Gegenteil von allgemein.“

Was aber bedeutet das genau? Precht beharrt auf einem Verständnis von Sinn, an dem „nichts logisch“ sei: „Alles Sinnbedürfnis geht von der Psychologie aus, aller Lebenssinn ist irrational. Und kein Depressiver lässt sich durch logische Argumente dazu bringen, seinem Leben wieder einen Sinn abzugewinnen.“ Weder mit „KI“ noch mit Philosophie und Lebenskunst, sondern mithilfe von erprobten Therapien und geeigneten Antidepressiva könnte es vielleicht nicht aussichtslos sein, einen depressiven Menschen vor dem Suizid zu bewahren.

Richard David Precht nimmt einen bedrohlichen Weltzustand wahr, wesentlich bedingt durch die „KI-Systeme der Hightech-Oligarchen“, und fürchtet die Entstehung „privatisierter Märkte in den Händen weniger IT-Konzerne“. Seine kritische Analyse der Gegenwart mündet eher in einen Appell, der offenbar als Resümee der Reflexionen verstanden werden könnte:

Millionen Jahre der Evolution haben den Menschen ziemlich gut an die Lebensbedingungen unseres Planeten angepasst, wenige Jahrzehnte der KI werden ihm kein besseres Paradies bauen können, eher eine Hölle. … Die Versprechen vom Überwinden des Menschen durch Superintelligenz und Raumfahrt sind nicht entfernt so aufregend wie das verlockende Ziel einer intakten Erde. Wie wenig haben wir von der Natur verstanden, der wir so leichtfertig eine vorbestimmte Richtung, einen objektiven Entwicklungssinn andichten, der den größten Konzernen in den Kram passt.

Der Philosoph Precht formuliert bisweilen zwar sehr salopp, aber er verfügt über eine Reihe von unbestreitbaren Vorzügen. Vor allem: Er löst, auch durch seine durchaus in einem anregenden Sinn ganz eigene Zugangsweise, Diskussionen aus und vermag denkend zu provozieren. Darum verdient dieses populärphilosophische Buch weder euphorische Zustimmung noch empörte Abweisung, sondern eine substanziell fundierte, kontroverse Diskussion – vielleicht mit Bezug auf die Frage, die Platon in der Politeia als wesentlich benannt hat: In der Philosophie gelte es nämlich darüber nachzudenken, auf welche Weise wir leben wollen.

Titelbild

Richard David Precht: Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens. Ein Essay.
Goldmann Verlag, München 2020.
256 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783442315611

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