Professor Moses und die Judenfrage. Zur Fiktion eines philosemitischen ‚Katechismus der Deutschen‘ in der ‚Geschichte der Gegenwart‘
Der ‚neue Historikerstreit‘ und seine fiktionale Basis
Von Rolf Füllmann
Am 23. Mai des Jahres 2021 veröffentlichte der mütterlicherseits deutschstämmige Historiker A. Dirk Moses, geboren 1967 im australischen Brisbane, auf dem Schweizer Geschichtsportal Geschichte der Gegenwart einen vieldiskutierten Essay namens Der Katechismus der Deutschen, der hier einer Literaturkritik unterzogen werden soll. Große Aufmerksamkeit gewährt Moses in seinem Essay dem Volk Israel, obwohl er doch berechtigterweise auf die ungenügende Aufarbeitung der deutschen Süd-Kolonisation, etwa in Afrika, aufmerksam machen möchte. Der Text von Moses zum ‚deutschen Katechismus‘ in der Judenfrage wird von manchen als „geistreich, aber auch provokativ“ und überraschenderweise selbst von seinen Gegnern als „links“ eingestuft. Moses erhebt den Anspruch, die Öffentlichkeit in Geschichtsdebatten über Genozide zu „schärferem Nachdenken“ zu zwingen und zu ‚entprovinzialisieren‘, obwohl Oświęcim, bevor die Deutschen es zu Auschwitz machten, nun einmal eine Provinzstadt in Kleinpolen war.
Moses’ Sicht auf einen angenommenen deutschen Grundkonsens in Sachen deutscher „Erlösungs-Philosemitismus“, früher sprach man von ‚Judenfreundlichkeit‘, ist exzentrisch. Er sieht dunkle Mächte am Werk und soll hier in ganzer Länge zitiert werden:
Es scheint, als ob wir zunehmend zu Zeugen von nicht weniger als öffentlichen Exorzismen werden, die unter der Aufsicht selbsternannter ‚Hohepriester‘ den ‚Katechismus der Deutschen‘ bewachen. […] Dieser Katechismus besteht aus fünf Überzeugungen:
1. Der Holocaust ist einzigartig, da er die uneingeschränkte Vernichtung von Juden um deren Vernichtung willen [sic!] Im Unterschied zu den pragmatischen und begrenzten Zielen, um derentwillen andere Genozide unternommen wurden, versuchte hier ein Staat zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk ausschließlich aus ideologischen Gründen auszulöschen.
2. Da er die zwischenmenschliche Solidarität beispiellos zerstörte, bildet die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch das moralische Fundament der deutschen Nation, oft gar der Europäischen Zivilisation.
3. Deutschland trägt für die Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung und ist Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet: ‚Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson unseres Landes.‘
4. Der Antisemitismus ist ein Vorurteil und Ideologem sui generis und er war ein spezifisch deutsches Phänomen. Er sollte nicht mit Rassismus verwechselt werden.
5. Antizionismus ist Antisemitismus.
Laut Moses sollen dies alle Menschen hierzulande auf Anweisung eines priesterlichen ‚Establishments‘ glauben. Bis ihn Moses erfand und zur Sprache brachte, war der oben zitierte ‚Katechismus der Deutschen‘ diesen jedoch in Gänze völlig unbekannt. Vor diesem Hintergrund ist die Meinung von Moses über seine eigene Erfindung und ihre ‚Elemente‘ verblüffend:
Dessen fünf Elemente sind für eine ganze Generation zu Glaubensartikeln geworden. Millionen Deutsche haben während der vergangenen Jahrzehnte verinnerlicht, dass für die sündige Vergangenheit ihrer Nation nur über den Katechismus Vergebung zu erlangen ist.
Die sündentheologischen Darlegungen von Moses sind durch und durch kulturprotestantisch imprägniert. Sie sind schon aus einer italienischen Perspektive, in der man sowohl mit der faschistischen als auch mit der kolonialen Vergangenheit ganz anders (und m. E. durchaus nicht vorbildlich) umgeht, kaum nachzuvollziehen. Die Darlegungen von Moses sind zudem sämtlich fiktional, wenn auch unterschiedlich gradiert. Natürlich ist niemand bei der Selbsternennung, der Priesterweihe der ‚Hohepriester‘, die Moses fantasievoll imaginiert, zugegen gewesen, um Zeugenschaft ablegen zu können. Beim jüdischen Hohepriester müssen zudem auch immer das Schächtmesser und sein Opferlamm mitgedacht werden. Auch bei den sicher aufregenden ‚Exorzismen‘ jener Priester war noch niemand anwesend. Wie sind die einzelnen Elemente nun faktologisch einzuordnen:
Zur ersten ‚Überzeugung‘ ist zu sagen, dass die Einzigartigkeit eines Massenmordes an sechs Millionen Menschen auf industriell-systematische Weise, etwa in Gaskammern, tatsächlich beispiellos ist. Dies wird von Moses auch nicht ernsthaft bestritten. Dass die Einmaligkeit des Genozids an der Judenheit als ‚Glaubensartikel‘ eines ‚Katechismus‘ deklariert wird, ist vielmehr als irgendwie ‚britisch-humorige‘ Provokation auf Kosten der Opfer einzuschätzen.
Für jeden zur Empathie fähigen Menschen, der nicht einem Trauerverbot aus Ressentiment unterliegt, ist der Zivilisationsbruch der europäischen Judenheit von der gleichberechtigten Staatsbürgerschaft bis in den anonymisierten Massenmord innerhalb weniger Jahre ebenfalls ein Faktum und kein priesterlicher Glaubensartikel. Den Zivilisationsbruch erlebten natürlich auch mittel- und osteuropäische nichtjüdische Familien in der millionenfach mörderischen Vernichtungsmaschinerie des deutschen Ostfeldzugs als schlichte wie mörderische Tatsache.
Diese simple Faktenlage von Massenmorden, von der niemand ‚überzeugt‘ werden muss, führte wie auch im Falle Namibias zu Reparationsverpflichtungen des Aggressors, etwa an die Sowjetunion oder Israel, unabhängig von den politischen Verhältnissen in den jeweiligen Staaten.
Dass die Judenheit nach 1700 Jahren ihrer Anwesenheit in Deutschland eine ‚besondere Verpflichtung‘ der Mehrheitsgesellschaft genießen sollte, kann mit etwas Gutwilligkeit auch ohne den Holocaust nachvollzogen werden. Da genügt ein Blick in die deutsch-jüdische Kulturgeschichte, auf die Nobelpreisbilanz und das Weltkulturerbe in Worms und Speyer.
Dass der Antisemitismus folglich mit Blick auf Jahrtausende (Hoch-)Kulturgeschichte der Judenheit ein Minderwertigkeits- und Unterlegenheitskomplex und kein Überlegenheitskomplex wie viele andere Rassismen ist, kann ebenfalls ganz ohne ‚Hohepriester‘ begriffen werden. Zudem gilt: Der von Moses imaginierte deutsche „Erlösungs-Philosemitismus“ mag nerven, Antisemitismus tötet.
Niemand in Deutschland behauptet indes wie Moses in seinem ‚Katechismus‘, dass der Antisemitismus „ein spezifisch deutsches Phänomen“ sei. Vor einigen Jahren gab es etwa einen deutsch-polnischen Streit über die deutsche Fernsehserie Unsere Mütter, unsere Väter, in der der Antisemitismus polnischer Partisanen stark betont wurde.
Das Problem des Antizionismus ist ebenfalls leicht verständlich zu machen: Dass z. B. jemand, der nicht-autochthonen australischen Staatsbürger*innen Australien nicht gönnt, ein Ressentiment gegen diese Nation haben könnte, ist zumindest recht naheliegend. Obwohl die Australier*innen von heute in ihrem Land eben kein jahrtausendealtes, biblisch erklärbares Heimatrecht haben wie die Judenheit als eine ‚First Nation‘ in Israel. Was weder den leidlich demokratischen Großstaat Australien noch das leidlich demokratische Israel als jüdischen Kleinstaat vor Kritik bewahren muss.
Zugespitzt kann der hochfiktionale Aufsatz zu der Quintessenz komprimiert werden, dass das offizielle Deutschland (Moses verwendet hier ebenfalls ständig den im NT geprägten Begriff jüdischer ‚Hohepriester‘) zu viel oder zumindest irgendwie das Falsche gegen den Antisemitismus unternehme. Dabei prägt dieser wenigstens für alle, die es wissen wollen, seit Jahrzehnten von massiven Todesdrohungen bis hin zu Mikroaggressionen als „antisemitisches Grundrauschen“ hierzulande das jüdische Gemeindeleben. Ein gute Bekannte des Verfassers dieses Beitrags steht etwa zurzeit als Vorsitzende einer Synagogengemeinde unter Polizeischutz. Jüdische Einrichtungen vom Kindergarten bis zum Seniorenheim sind hierzulande fast überall unter ständiger massiver Bewachung. In Hagen wurde jetzt ein Anschlag auf die Synagoge knapp vereitelt. Kürzlich wurde in Köln ein Achtzehnjähriger krankenhausreif geschlagen, weil er eine jüdische Kopfbedeckung, eine Kippa, trug.
Für Moses ist dagegen Felix Klein, ein offizieller Amtsträger „mit dem beeindruckenden Titel Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“, ein „Hüter der erinnerungspolitischen Orthodoxie“, die „ständig Ausschau nach antisemitischen Häresien“ hält. Eine unvoreingenommene Lektüre des Textes von Moses hinterlässt mithin Erstaunen angesichts der nicht nur antisemitischen Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus und seiner Adepten bis heute. Es geht hier um diverse, oft tödliche Terroranschläge vom Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin von 1969, dem Attentat auf das jüdische Altenheim in München 1970 über den Münchner Oktoberfestterror von 1980, vom Serienmorden des NSU bis hin zum mörderischen Synagogenanschlag in Halle. Extrem philosemitisch, wie Moses behauptet, ist das Nachkriegsdeutschland bis heute nie gewesen, was auch Umfragen leider belegen können.
Moses’ problematische Wortwahl: Folge eines Moses-Traumas?
Hocherfreut genießt Moses die breite Resonanz auf seinen Artikel in einem englischsprachigen Internetportal namens New Fascism Syllabus unter dem Titel Dialectic of Vergangenheitsbewältigung (15.6.2021), wo er sich auch mit dem Beifall von rechts, etwa von dem ‚Identitären‘ Martin Sellner auseinandersetzt, der ihm zuteilwurde.
Da Moses auf Englisch noch etwas expliziter ist als auf Deutsch, soll hier auch aus diesem und anderen Beiträgen zitiert werden. Moses scheut beispielsweise vor dem abenteuerlichen Begriff „Israelification of Germany“ nicht zurück. Wäre es wirklich extrem unfair, da den deutschen Begriff der „Verjudung“ zu assoziieren, wie es auf Jungle World geschieht?
Auch das komplexe Sprachbild von den kleinen Deutschen als gegenüber einem fiktionalen jüdischen Riesen unterlegenen ‚Schrumpfgermanen‘ lässt tief blicken: Die armen Deutschen müssen sich laut Moses von der „politischen Klasse Israels und den USA anerkennend den Kopf tätscheln lassen“, weil sie jüdische Kontingentflüchtlinge wie etwa Igor Levit und Wladimir Kaminer aufgenommen haben. Das ist schon deswegen eine reine Fiktion, weil die Ansiedlung von Juden in Deutschland der Staatsdoktrin Israels widerspricht. Moses wendet sich mithin auch dann gegen ‚Judenfreundlichkeit‘, wenn sie dediziert nicht zionistisch ist. Hier geht es angeblich um die „Wiederaufforstung“ einer „deutsch-jüdische[n] Symbiose als bourgeoise Kulturbürger“, was Assoziationen zum belasteten Begriff des „Kulturjuden“ erlaubt.
Solche Worte können schmerzen. Zumal Moses, wie Alan Posener entdeckt hat, in einem Aufsatz Empire, Resistance, and Security: International Law and the Transformative Occupation of Palestine sogar den Begriff einer „elimination“ der palästinensischen Bevölkerung durch die Israelis verwendet, als sei deren Enteignung nicht schlimm genug. Palästina ist jedoch nicht das australische Tasmanien, wo der Genozid an der Ursprungsbevölkerung tatsächlich vollständig war. Auch die Moses-These in der Berliner Zeitung, dass die Politik Israels trotz linker und jetzt auch arabisch-islamischer Regierungsbeteiligung „AfD-ähnlich“ sei, erscheint doch ein wenig gewagt.
Nicht jeder scheint mithin ein so unverkrampftes Verhältnis zu einer sowohl den Islam als auch das Christentum prägenden mosaischen Leitkultur zu haben, wie der Prophet Mohammed selbst, der nach einer nicht-koranischen Überlieferung seiner ursprünglich jüdischen Ehefrau Safīya bint Huyaiy, als sie übler Rede anderer Prophetengattinnen ausgesetzt war, beschied:
„Du solltest ihnen entgegnen: Weshalb seid ihr besser als ich? Ist doch Aaron mein Vater, Moses mein Onkel und Muhammad mein Ehemann!“
Manchmal ergibt sich anscheinend bei Christen, die sich so sehr als Volk Israel bekennen, dass sie ihren Familiennamen nach einem großen jüdischen Propheten wählen, ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Original und Kopie. Fast könnte man von einem ‚Moses-Trauma‘ sprechen. Nicht allein im ‚Katechismus der Deutschen‘ des Professor Moses zeigt sich jedenfalls eine kalkulierte rhetorische Rücksichtslosigkeit insbesondere gegenüber jüdischen Kolleginnen und Kollegen wie dem Holocaust-Überlebenden Saul Friedländer (geb. 1932 in Prag), mit der im Namen der Geschichtswissenschaft erfolgreich Aufmerksamkeit erzeugt wurde. Echte Empathie für afrikanische Genozid-Opfer des deutschen Kolonialismus lässt sich so schwerlich gewinnen.
Moses’ Geschichtsfiktion als Geheimbundroman in nuce
Die Geschichtsfiktion steht hier schroff gegen die Faktenlage. Wenn bei Moses Klio, die hellenische Muse der Geschichtsschreibung, dichtet, dann stellt sich mit dem US-amerikanischen Geschichtstheoretiker Hayden White indes auch die Gattungsfrage. Welche „Plotstruktur“ benutzt Moses als Geschichtsprophet, wenn er über Jüdinnen und Juden spricht? White nennt in seinem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk gleich mehrere (ungewollt) literarische Genres des historischen Erzählens:
Der Leser erkennt nach und nach, im Verlaufe seiner Lektüre dieser Darstellung der Ereignisse durch den Historiker, daß die Geschichte, die er liest, von der einen und nicht der anderen Art ist: je nachdem Romanze, Tragödie, Komödie, Satire, Epos oder was auch immer. Und wenn er die Klasse oder den Typ der von ihm gelesenen Geschichte erkannt hat, stellt sich bei ihm die Wirkung, daß ihm die Ereignisse in der Geschichte als erklärt erscheinen; er ist dann nicht nur der Geschichte erfolgreich gefolgt, er hat auch begriffen, worum es ihr geht, er hat sie verstanden.
Wann haben wir also den historischen Gesetzgeber Moses mit seiner Rede über jüdische „selbsternannte Hohepriester“, die Abtrünnige inquisitorisch verfolgen (er nennt hier explizit etwa seinen Kollegen Dan Diner), richtig verstanden? Nach dem Motto Paul Ricœurs (1913-2005), dass die „Fiktion quasi-historisch ist, gerade wie die Geschichte quasi-fiktiv“, schlage ich vor, den Katechismus der Deutschen von Moses als verkürzten Geheimbundroman aufzufassen. Das ist ein literarisches Genre, das in Bezug auf die Judenheit mit Blick auf die Protokolle der Weisen von Zion allerdings historisch nicht ganz unproblematisch ist.
Schon Moses’ Titel Der Katechismus der Deutschen ist literarisch, weil er auf eine einer lange dominante strikt antiwestliche deutsche Tradition von Ernst Moritz Arndt bis zu Martin Heidegger anspielt. Er bezieht sich auch auf einen Text des dichterisch brillanten, aber politisch doch eher preußisch-reaktionären Junkers Heinrich von Kleist, in dessen Karibik-Novelle Die Verlobung von St. Domingo heute kaum noch zitierbare sprachliche Rassismen zu finden sind. Moses‘ vom althergebrachten christlichen Judenbild geprägte Diktion, die einer nichtchristlichen, etwa muslimischen Leserschaft eher befremdlich erscheinen mag, ist wiederum für manche Beobachter nur mit dem elitären Herkunftsmilieu des Autors erklärbar. Moses ist nicht nur von beiden Elternteilen her Professorensohn, sondern entstammt auch einem anglikanisch-protestantischen Pfarrhaus.
Moses repräsentiert mithin ein Milieu, das nicht nur in Deutschland seit 500 Jahren souveräne Diskurshoheit genießt. Das hat mit der „German White Supremacy“, die er (auch gegenüber Juden!) scheinbar selbstkritisch für sich in Anspruch nimmt, wenig zu tun, aber viel mit etablierten akademischen Machtstrukturen. Diese haben mit unwissenschaftlicher paternalistischer ‚Rassenkunde‘, die Menschen ungefragt als ‚nicht-weiß‘ rassifiziert, nichts und viel mit Klassismus zu tun. Angesichts der Tatsachen, dass Moses bei Youtube selbst gern über ‚Deutsche mit Nazi-Hintergrund‘ räsoniert und dass seine Mutter Ingrid 1941 in der ostfriesischen NSDAP-Hochburg Aurich geboren wurde, könnte zudem eine schichtspezifische Unfähigkeit zu trauern im Sinne Mitscherlichs vermutet werden. Hier sehen wir Moses in einem entsprechenden Video.
Der Bochumer Theologe Thomas Wessel hat sich im Internet-Portal Ruhrbarone dankenswerterweise der Mühe unterzogen, das für die faktenorientierte Geschichtswissenschaft exzentrische, indes genuin christlich geprägte Symbolvokabular des Pastorensohns Moses, der den Kampf gegen den Antisemitismus kritisch beleuchten will, einmal aufzulisten:
Häresieprozesse – Exorzismen – ‚Hohepriester‘ – ‚Katechismus‘ – Glaubensartikel – sündig – Vergebung – Heilsgeschichte – ‚Opferung‘ – heiliges Trauma – sakrale Erlösungsfunktion – Gott – Leiden – neue Welt – Moral – ‚erlösenden Antisemitismus‘ – ‚erlösenden Philosemitismus‘ – christologisch geprägten Erlösungsnarrativ – ‚Wiederauferstehung‘ des Opfers – ‚wiederbelebt‘ – Glauben – Hüter – Orthodoxie – Häresie – Glaubenswächter – moralische Hybris – Jagd auf Häretiker – priesterliche Zensoren – Bekenntnis zum Katechismus – theologisch imprägnierte Vorstellung – Einzigartigkeit des jüdischen ‚Opfers‘ – das Heilige – verunreinigt – Inquisition – denunzieren – herunterbeten.
Die ‚politische Theologie‘ erlebt mit diesem hochreligiösen Vokabular ihre Auferstehung. Im Kontext der Geschichtswissenschaft ergibt sich das Problem, dass mit Hilfe einer solchen literarisch-symbolistischen Sprache Geschichte eher suggestiv beschworen als transparent erklärt wird. Verdunklung statt Aufklärung könnte die Folge dieser Hohepriestererzählung sein. Die rituellen Schächtmesser der Juden von Aurich, der Heimatstadt von Moses‘ Mutter, wurden übrigens 1933 öffentlich verbrannt.
Das britische Empire, die jakobinisch-lateinische Welt und die ‚Bloodlands‘ Zentraleuropas: unterschiedliche Perspektiven historischen Erzählens
Um die Geschichte literarisierende Schrift von Moses verstehen zu können, muss zudem berücksichtigt werden, dass er, wenn er vom ‚Westen‘ spricht, auf das Territorium des feudalistischen britischen Empire fokussiert zu sein scheint. Dieses war selbst in seiner insulären Metropole am Rande Europas nicht viel demokratischer und fortschrittlicher als das deutsche Kaiserreich. In der anglikanisch geprägten ‚Scharia‘ Australiens galt zudem die Todesstrafe für gleichgeschlechtlichen Verkehr bis 1949 [!]. Nicht nur das sah ab 1789 in der lateinischen Welt des republikanischen Westens anders aus. Die etwa in den karibischen und mexikanischen Erzählungen von Anna Seghers thematisierte weltweite emanzipative Wirkung der Bastille-Erstürmung kommt in Moses‘ Geschichtskonzept kaum vor. Die antikoloniale jüdische Erzählerin Seghers beschreibt in Novellen aus Mexiko wie Crisanta oder in der Erzähltrilogie Drei Frauen aus Haiti einen weltweiten jakobinischen Impuls. Dieser reichte von ihrer Heimat im Rheinland und mit antikolonial-revolutionären Strömungen jeglicher Coleur quer durch Lateinamerika. Die von Seghers literarisch behandelten Revolutionäre Toussaint Louverture (1743-1803), den Moses auch beachtet, Miguel Hidalgo (1753-1811) oder Benito Juárez (1806-1872) belegen: Kolonialismus und damit der Status des Opferlamms sind schon weit seit über zweihundert Jahren kein unentrinnbares Schicksal mehr. Das freie Mexiko half übrigens im spanischen Bürgerkrieg der 30er Jahre nachdrücklich den republikanischen Truppen im ehemaligen Kolonialland.
Aus Moses’ anglozentrischem Blickwinkel, den auch Jenny Hestermann und Johannes Becke in der Jüdischen Allgemeinen aufs Korn nehmen, entschwindet desweitern der kulturell gewichtige und flächenmäßig ausgedehnte Großteil Kontinentaleuropas, der ganz ohne Süd-Kolonisation auskam. Wenn Moses mit dem Blick nach Afrika fragt „Warum sind Straßen nach „Kolonialhelden“ benannt und warum stehen ihre Statuen auf prominenten Plätzen in europäischen Städten?“, dann kann ihm geantwortet werden, dass es östlich und südöstlich von Deutschland solche ‚Kolonialhelden‘ nicht gegeben hat. Auf einer Linie von Helsinki über Belgrad bis nach Athen, der Wiege des Abendlands, wird man mit Interesse zur Kenntnis nehmen, dass Moses die „europäische Zivilisation“ als Ganzes für „Millionen Tote“ der Südkolonisation verantwortlich macht. Dabei kann doch behauptet werden, dass etwa Jean Sibelius und Dimitri Schostakowitsch, der während der massenmörderischen Winterbelagerung durch deutsche Ost-Kolonisatoren Sätze der Leningrader Symphonie schuf, Alexander Sergejewitsch Puschkin (POC, weil Urenkel eines afrikanischen Sklaven), Nikolai Gogol, Franz Liszt und Bedřich Smetana, vor allem aber die großen Hellen*innen aller Epochen es durchaus mit Kulturtitanen wie dem schriftstellernden Kolonialbriten Rudyard Kipling oder dem Tonsetzer Ralph Vaughn Williams aufnehmen können. London lag auch vor dem Brexit weder geographisch noch kulturell im Zentrum Europas. Auch Brisbane nicht.
Europa ist faktisch nicht das zurecht zugrunde gegangene britische Weltreich. Schon hier irritiert also die zumindest streckenweise kontrafaktische Fiktionalität des Dargelegten. Das hat indes auch den Vorzug, dass bei Moses kultur- und literaturwissenschaftliche Lesarten angebracht erscheinen, wobei dem Philologen gleichzeitig die leidige Aufgabe zukommt, die Fiktionen von Moses aus allgemein bekannten Wissensbeständen faktologisch zu konterkarieren, was eigentlich nicht sein Beritt ist. Das ist wie auch Alan Posener schon festgestellt hat, v.a. deshalb ermüdend, weil eine detaillierte Faktenkenntnis bei einem renommierten Historiker wie Moses vorauszusetzen ist und er anscheinend seine Polemiken wider besseres Wissen verfasst. Was die Fakten der deutschen Geschichte betrifft, so sind die Opferzahlen des Genozids an der Judenheit (ca. 6 Millionen), aber auch die sehr hohen Opferzahlen des 2. Weltkriegs, insbesondere der Ost-Kolonisation des ‚Generalplans Ost‘ (allein hier ca. 27 Mio.), die sich propagandistisch auf mittelalterliche Feldzüge des Deutschen Ordens berief, zu berücksichtigen. Timothy Snyder hat in diesem Kontext den Begriff ‚Bloodlands‘ geprägt. Die Toten der von dem sozialdemokratischen ‚Arbeiter-Kaiser‘ August Bebel – etwa im Fall des abgesetzten Kolonial-Schlächters Carl Peters – erfolgreich kritisierten und dringend aufzuarbeitenden deutschen Süd-Kolonisation (ca. 500.000 Tote) sind ebenso zu gewichten. Hier sei etwa auch an den 1914 von den deutschen Behörden in Kamerun ermordeten König Rudolf Manga Bell und seine damals prominenten deutsch-jüdischen Verteidiger Hugo Haase und Paul Levi erinnert. Obwohl die Nazis, – etwa mit ihren auch in Europa kämpfenden indischen Verbündeten von der SS-Legion ‚freies Indien‘ – den Süden nicht aus dem Blick ließen, war ihre mörderische Hauptzielrichtung indes eindeutig nach Osten gerichtet.
Diese tatsachenbasierte deutsche Bilanz des 20. Jahrhunderts, die heute auch jenseits von Namibia sachlich begründbare Reparationsforderungen nach sich zieht, spielt bei Moses‘ Blick auf die deutsche Geschichte eine untergeordnete Rolle. Allein in Hellas war z. B. im 2. Weltkrieg durch deutsche und vereinzelt italienische Massaker und kriegsbedingte Hungersnöte eine ähnliche Opferzahl zu verzeichnen wie bei der gesamten deutschen Süd-Kolonisation, auf die Moses in Analogie zu seinem untergangenen Empire fixiert ist.
Migrantische Stimmen als Erlösung aus dem ‚Unbehagen in der Kultur‘ und der Zivilisation?
Wie bei den Jüdinnen und Juden, die „richtig deutsch“ werden sollen, hat Moses eine ebenso klare und ziemlich paternalistische Erwartungshaltung an die nicht-jüdischen Migrantinnen und Migranten und ihre Nachfahren in Deutschland. Wenn sie nicht im seinem Sinne funktionieren, wird ihnen wie im Fall des Grünen-Politikers Cem Özdemir auch mal schnell „racist demonization of Arabs“ unterstellt. Insgesamt verkennt Moses wohl, dass die meisten Menschen mit Migrationshintergrund nicht aus Gebieten der deutschen Süd-Kolonisation, sondern aus den Bloodlands der deutschen Ost-Kolonisation Europas, wie Timothy Snyder sie nennt, und vom Territorium des ehemaligen Osmanischen Reichs und aus angrenzenden, Jahrtausende alten Kulturstaaten wie dem Iran stammen. Nur so ist folgende Feststellung erklärlich:
Selbstverständlich bringen Einwanderer:innen Erfahrungen und Perspektiven auf Geschichte und Politik mit, die den von Europäern so oft rezitierten, selbstgefälligen Geschichten über die Verbreitung der Zivilisation durch die Jahrhunderte hindurch nicht anhängen. Viele von ihnen dürften die Rede vom Zivilisationsbruch als schal empfinden, selbst wenn sie die unbestreitbar spezifischen Eigenschaften des Holocaust anerkennen.
Selbstgefällige Geschichten beinhalten im romantisch zivilisationskritischen Deutschland seit Jahrzehnten eher zerknirschte Moralpredigten als die Verherrlichung von „Zivilisationsmissionen“.
Was Migrant*innen aus dem Osten betrifft, so ist die glühende Liebe zu nationalen Kulturikonen wie etwa Chopin bei ihnen „selbstverständlich“ ungebrochen. Und nicht nur zu ihnen: Eine Studentin aus Moldawien, also vom Rande der Bloodlands des 2. Weltkriegs, zeigte sich hellauf empört darüber, dass Goethes Faust im Abitur nicht mehr verbindlich sein sollte. Und auch von arabisch-deutschen Intellektuellen aus uralten Metropolen wie Damaskus können Dialogwillige Erstaunliches vernehmen: Etwa, dass der ägyptische Präsident Sadat wegen seiner Nazi-Kollaboration nicht nobelpreiswürdig und politisch problematisch gewesen sei. Ganz zu schweigen vom ‚Großmufti‘ Mohammed Amin al-Husseini, der als Hitler-Verbündeter, Holocaust-Mittäter sowie Führer ohne demokratische Legitimation die palästinensische Bevölkerung in die Katastrophe einer Isolation von West und Ost trieb. Deren Vertreibung fiel nicht zufällig in dasselbe kurze Zeitfenster wie die Vertreibung der Sudetendeutschen. Weil Israel überdies im Gegensatz zu Moses‘ These von der Israelifizierung Deutschlands nicht im Zentrum deutscher Diskussionen steht, ist für Menschen, die aus Bürgerkriegsgebieten kommen, das Phänomen des ‚Zivilisationsbruchs‘, verursacht etwa durch eine syrische Regierung, die gerne Naziverbrechern wie Alois Brunner ‚Asyl‘ gewährte, heute kein schales Abstraktum.
Aus der muslimischen Haupteinwanderergruppe in Deutschland, stammend aus dem Land von Orhan Pamuk und Fazil Say, kamen überdies in letzter Zeit gewichtige Leistungen im Sinne einer „Zivilisationsmission“. Das Mediziner-Ehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin erfand und produziert den wohl wirksamsten Impfstoff gegen das Corona-Virus. Şahin, gebürtig aus der von Alexander dem Großen als Kolonie gegründeten türkischen Hafenstadt İskenderun, ist der Sohn eines Arbeitsmigranten, in dessen Kölner Wohnzimmer der antikoloniale Kämpfer und Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hing. Von diesem unter der türkischen Jugend wieder sehr populären Verteidiger des Islams, Bekämpfer von Judenpogromen und Vorkämpfer der Moderne wie der Frauenemanzipation in Personalunion sind Zitate überliefert wie das folgende:
Es gibt nur einen echten und vernünftigen Orden – den der Zivilisation. Um ein ganzer Mann zu sein, muß man sich nach dessen Regeln richten.
Toxische Männlichkeit kann geheilt werden. Der edle Wilde, der ein zivilisationsmüdes protestantisches ‚Kulturbürgertum‘ von sich selbst erlösen soll, scheint gerade unter Migrant*innen in Deutschland ziemlich dünn gesät zu sein. Als ‚Papalagi‘ aus der Südsee ist er ohnehin eher eine literarisch-exotistische Fiktion des späteren Nazi-Blockwarts Erich Scheurmann.
Wenn das Projekt der Zivilisation nicht in einem kolonialistischen Empire gefangen ist, dann ist es angesichts der globalen Herausforderungen durchaus wegweisend. Schon der alte Thomas Mann, verheiratet mit seiner ebenso deutschen wie jüdischen „orientalischen Märchenprinzessin“ aus dem kulturbürgerlichen Hause Pringsheim, rief zu einer alle und alles verbindenden „Welt-Zivilisation“ auf. Diese müsse auch heute versuchen, ein „angemessenes Gleichgewicht von Freiheit und Gleichheit zu finden; das Völker- und Staatenleben in einen Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den Wert des Ungleichen zu ehren weiß. Die Nationalkulturen, in denen das Menschliche sich farbig bricht und denen der Humanismus so viel Liebe zuwandte, brauchen nicht zu verblassen und sterben in der Weltzivilisation der Zukunft. ‚One World‘, das muß nicht boredom heißen und ‚Friede‘ nicht Bewegungslosigkeit und die Zufriedenheit der wiederkäuenden Kuh.“ (GW XII, 966f)
Der ‚Schlüssel‘ zur Freiheit, mit dem afro-amerikanische jakobinische Revolutionäre auf Haiti eine Sklavin aus ihrem Gefängnis erlösen und der das zentrale Dingsymbol einer nach ihm betitelten späten Novelle von Anna Seghers aus der Trilogie Drei Frauen aus Haiti ist, kann seine Funktion nur erfüllen, wenn der Schmerz der anderen nicht verhöhnt wird. Dies schließt alle Opfer von Genoziden mit ein. Das „ABC des Menschenbenehmens“, wie Thomas Mann das mosaische Regelwerk in seiner biblischen Novelle Das Gesetz benannte, die zur Zeit des Holocausts entstand, ist auch heute eine Wegweisung. Auch, weil sich darin nicht allein die drei abrahamitischen Weltreligionen, Christentum, Judentum und Islam, wiederfinden können. Jene ehrlich fiktionale Geschichtserzählung über Moses aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in dem Thomas Mann auch seine warnenden, ja prophetischen Reden an die ‚Deutschen Hörer‘ über den britischen Rundfunk, die BBC, hielt, endet mit einer Verwünschung:„Aber Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: ›Sie gelten nicht mehr.‹ Fluch ihm, der euch lehrt: ›Auf, und seid ihrer ledig! […], denn so steht’s dem Menschen an, und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch Freiheit verkündete.‹“ (GKFA 6.1, 456) So endet die Moses-Novelle Thomas Manns gleichsam mit einem Bannfluch gegen Hitlers Nihilismus. Er war, gestützt von Wahlergebnissen in Aurich und anderswo, der Vernichter des Regelsystems, das Moses aufgebaut hatte, einschließlich seines Volkes. Ohne den Respekt vor diesem Volk ist auch in Zukunft eine menschlichere Welt-Gesellschaft nicht möglich. Seine Diskursbegründer*innen Karl Marx und Sigmund Freud sowie Hannah Arendt inspirieren diese Welt ohnehin bis in die Sprache des Alltags.
Das mag ‚priesterlich‘ klingen. Aber was ist daran eigentlich so schlimm?
Literatur:
https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/
http://newfascismsyllabus.com/opinions/dialectic-of-vergangenheitsbewaltigung/
https://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/59625/moses_empire_resistance_and_security.pdf
https://www.youtube.com/watch?v=HMT1RdR1WUk
Weitere Internet-Quellen:
https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/a-b/284-aurich-niedersachsen
Die Linke und der neue Historikerstreit | Jüdische Allgemeine (juedische-allgemeine.de)
Judenhass metaphorisch: Ist A. Dirk Moses der neue Achille Mbembe? | Ruhrbarone
https://jungle.world/artikel/2021/28/linkspaternalistischer-rassismus
https://starke-meinungen.de/blog/2021/08/01/a-dirk-moses-israelhass-ueber-alles/
Literatur in Druckversion:
Carola Hilmes, Ilse Nagelschmidt (Hrsg.): Anna Seghers-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2020.
Thomas Mann: Das Gesetz. In: Ders. Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe. Frankfurt/Main 2021, 381–457.
Thomas Mann: [Welt-Zivilisation]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XII. Frankfurt/Main 1990. S. 962–967.
Anthony Dirk Moses: Empire, Resistance, and Security: International Law and the Transformative Occupation of Palestine. In: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development, 8(2), 2017, S. 379–409.
Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Band 1. Zeit und historische Erzählung. München 1988.
Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Band 3. Die erzählte Zeit. München 1991.
Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986.
Hayden White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk. In: Christoph Conrad, Martina Kessel (Hrsg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994, S. 123–157.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen