Macht Verfolgung kreativ?
Polemische Anmerkungen aus aktuellem Anlaß: Christa Wolf und Thomas Brasch
Von Marcel Reich-Ranicki
Daß die in Ost-Berlin lebende Autorin Christa Wolf in der DDR ein hohes Ansehen genießt und auch viel Zulauf hat, ist nicht verwunderlich: Wo es an Wolle und Seide fehlt, da lassen sich auch mit Baumwolle und Kunstseide gute Geschäfte machen. Daß aber diese Schriftstellerin, deren künstlerische und intellektuelle Möglichkeiten eher bescheiden sind, im Westen ebenfalls nicht ohne Andacht behandelt wird, ja mittlerweile sogar als gesamtdeutsche Mahnerin vom Dienst gilt, ist schon weniger verständlich. Doch hat es Gründe – und sie sind keineswegs mysteriös.
Als die SED es 1976 für erforderlich hielt, den Sänger und Poeten Wolf Biermann auszubürgern, hat Christa Wolf einen unter den damaligen Verhältnissen in der DDR ganz ungewöhnlichen Protest zahlreicher Schriftsteller und Künstler sehr wohl unterzeichnet – und ihre Unterschrift rasch und in aller Form wieder zurückgezogen. Wir haben nicht das Recht, ihr dies vorzuwerfen, aber wir dürfen sagen, daß es eine für sie bezeichnende Handlungsweise war: Mit der einen Hand beanstandet sie (eher vorsichtig) gewisse Maßnahmen der SED-Kulturpolitik, mit der anderen beteuert sie (und zwar mit Nachdruck) ihre Treue und Zuverlässigkeit. Immer wieder bewährt sie sich als DDR-Staatsdichterin, die man schon zweimal mit dem Nationalpreis ausgezeichnet hat. Zugleich läßt sie gern durchblicken, sie sei gar nicht so linientreu, wie sie sich gibt, sie müsse nur – wie in Deutschland oft üblich – manches, was ihr mißfällt, hinnehmen, um Schlimmeres verhüten zu können. Mut und Charakterfestigkeit gehören nicht zu den hervorstechenden Tugenden der geschätzten Autorin Christa Wolf.
... [Weiterlesen]Aus Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Marburg 2019 (siehe Verlagsseite)