Neuigkeiten vom Bachmann-Preis in Klagenfurt

Sonntag, 08.07., 12:30
Die Bachmannpreisträgerin 2018 steht fest! Tanja Maljartschuk gewinnt mit dem Text Frösche im Meer. Darin erzählt die aus der Ukraine stammende und in Wien lebende Autorin das Schicksal des osteuropäischen Geflüchteten Petro. Es sei ein "doppelbödiger Text über die vielen Gründe, seine Heimat zu verlassen", lobte Juror Stefan Gmünder, der Maljartschuk eingeladen hatte, in seiner Laudatio: "Schlank und schön ist er geworden, ohne Schnörkel, ein Glücksfall." 

Auf der Shortlist, für die die Jury im Vorfeld sieben der ursprünglich vierzehn teilnehmenden Autor_innen nominiert hatte, fanden sich neben Tanja Maljartschuk: Bov Bjerg, Özlem Özgül Dündar, Raphaela Edelbauer, Joshua Groß, Ally Klein und Anna Stern. Gegen sie konnte sich Maljartschuk im zweiten Wahlgang mit den Stimmen von Hildegard E. Keller, Hubert Winkels, Stefan Gmünder und Insa Wilke durchsetzen.

Zudem vergab die Jury drei weitere Auszeichnung: Bov Bjerg gewann den Deutschlandfunkpreis, Özlem Özgül Dündar den KELAG-Preis und Anna Stern den 3sat-Preis. Letzteres ist wohl die größte Überraschung des Tages, denn Stern hatte in der Jurydiskussion nach ihrer Lesung viel Kritik einstecken müssen. Über den Publikumspreis, der in einer Online-Abstimmung vergeben wurde und mit einem Stadtschreiberinnenstipendium in Klagenfurt verbunden ist, kann sich Raphaela Edelbauer freuen. 

In seiner Abschlussrede resümierte der Juryvorsitzende Hubert Winkels, dass die Tage der deutschsprachigen Literatur 2018 von relativ klassischen, gut gebauten Geschichten geprägt gewesen seien, die gekonnt mit Konventionen jonglierten. Das stark Experimentelle sieht Winkels hingegen auf dem Rückzug. Insgesamt ist sein Fazit ein positives: "Es war viel Arbeit. Es war ein Fest."

Sonntag, 08.07., 12:26
Die Gewinner stehen fest!
Alle Preise der diesjährigen TddL sind nun vergeben.

Auf der Shortlist der Jury waren:

Bov Bjerg (Serpentinen)

Özlem Özgül Dündar (und ich brenne)

Raphaela Edelbauer (Das Loch)

Joshua Groß (Flexen in Miami)

Ally Klein (Carter)

Tanja Maljartschuk (Frösche im Meer)

Anna Stern (Warten auf Ava)

Die Preise wurden wie folgt vergeben:

Ingeborg-Bachmann-Preis: Tanja Maljartschuk

Deutschlandfunk-Preis: Bov Bjerg

KELAG-Preis: Özlem Özgül Dündar

3sat-Preis: Anna Stern

BKS-Bank-Publikumspreis: Raphaela Edelbauer

Sonntag, 08.07., 11:20
Tanja Maljartschuk gewinnt den Bachmannpreis 2018!

Samstag, 07.07., 20:43:
In unserem Bericht blicken wir zurück auf den letzten Lesungstag der diesjährigen TddL.

Samstag, 07.07., 13:30
14. Lesung, Lennardt Loß

Als letztes liest Lennardt Loß, geboren 1992, der jüngste Autor bei den TddL 2018.

Sein Text Der Himmel über 9A handelt von einem gesuchten Ex-RAF-Terroristen, der unter dem falschen Namen Hannes Sohr auf dem Weg nach Argentinien ist, als sein Flugzeug abstürzt. Der Protagonist gehört, ebenso wie eine Frau namens Carla, zu den wenigen Überlebenden. Die beiden treiben nun in Flugzeugsitz 9A auf dem Meer:

"Dass er Carla seinen echten Namen verschwieg, dachte Sohr, dass er nach einem gegen jede Wahrscheinlichkeit überlebten Flugzeugabsturz und auf dem Ozean treibend weiterlog, war: geisteskrank. Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Nur ein Geisteskranker würde jetzt nicht lügen. Seine Paranoia hatte ihn vor Stammheim bewahrt. Oder noch schlimmer: vor der DDR."

Beim Public Viewing vor dem ORF-Studio macht sich schon während des Vortrags Unruhe breit: "So ein komischer Text!", heißt es. Die Jury findet hingegen positive Worte: Insa Wilke gefielen die Figuren, Hubert Winkels der Humor und Michael Wiederstein das leicht Ironisierte, Absurde des Textes. Hildegard E. Keller lobt die saubere Recherchearbeit, findet Der Himmel über 9A aber auch "unheimlich zusammengezwungen". Als größter Gegner des Textes erweist sich Klaus Kastberger: Komplett überladen, keinesfalls lustig und "unglaubwürdig dahingerammelt", lautet sein Urteil.

Samstag, 07.07., 12:00
13. Lesung, Özlem Özgül Dündar

Nach der Pause geht es mit Özlem Özgül Dündars Lesung von und ich brenne weiter. Ein Text ohne Satzzeichen und Großschreibung, von der Autorin eindrucksvoll gelesen. Dündar erzählt aus der Sicht verschiedener Mütter von den Sorgen um ihre Kinder, die Geschichten der Familien sind um einen Gebäudebrand herum miteinander verwoben.

„alles hat ein ende und dennoch hat es kein ende denn im feuer verharrst du für immer und wenn deine tränen alle verweint sind dein körper erschöpft ist und leer dann wirst du zur ruhe selbst“

Die Jury befindet den Text einstimmig für gut, Nora Gomringer ist dankbar. Winkels spricht von einer "bedrängenden Schleifenform", durch die Differenzen der Figuren verschwämmen. Kastberger lobt die Offenheit des Textes, die es jedem Leser selbst überlasse, sich die Zusammenhänge und Hintergründe zu erschließen. Michael Wiederstein bemängelt jedoch, dass es einige Redundanzen und zu explizite Ausführungen gäbe.

Samstag, 07.07., 11:00
12. Lesung, Stephan Groetzner

"Dieser Text ist blöd. Was ihn rettet, ist, dass er blöd sein will“, ist Klaus Kastbergers Urteil zu Stephan Groetzners Romanauszug Destination: Austria.

Diese vielschichtige Parodie, unter anderem auf Österreich und das Wettbewerbs-Setting der Tage der deutschsprachigen Literatur, sorgt für Lacher im Publikum und eine zunächst sprachlose Jury. Der Text arbeitet mit zum Teil sehr sperrigen Wörtern und Wiederholungen. Dass er sehr klischeehaft gestaltet sei, wird mehrfach kritisiert. Stefan Gmünder aber ist davon überzeugt, dass der Text viel fundierter sei, als man auf den ersten Blick meine. "Ein Steinbruch von Verweisen und Ideen", so auch Michael Wiederstein.

"Ich finde es toll, dass so ein Text hier gelesen werden kann", sagt Hildegard Keller. Ihr habe die Lesung ganz ausgezeichnet gefallen. Eine "schöne Parodie auf die Situation hier", vertritt auch Insa Wilke.

Samstag, 07.07., 10:00
11. Lesung, Jakob Nolte

Langsam und etwas monoton liest Jakob Nolte seine Erzählung Tagebuch einer jungen Frau, die am Fall beteiligt war. Die Protagonistin, eine offenbar aus Deutschland stammende namenlose Frau, hält sich mit ihrem ebenso namenlosen Begleiter in Mexiko auf, wo sie von ihrer Angst, entdeckt zu werden, verfolgt wird.

"Alle wendeten ihre Blicke stets in meine Richtung. Selbst die Tiere beobachteten mich. Diese armseligen Geier, die genauso gut Dohlen oder Störche sein könnten. Ob ich liege oder schlafe oder esse. Ich spürte, wie die spitzen Nadeln ihrer Aufmerksamkeit ausschließlich auf mich gepolt sind, als warteten sie bloß den einen Fehler ab, der mich endgültig preisgäbe. Aber diesen Gefallen werde ich ihnen nicht tun."

Die Jury ist wieder einmal gespalten und diskutiert so hitzig wie selten zuvor in diesem Jahr. Insa Wike lobt die "tollen Formulierungen“ und sieht in der Erzählung eine "Trias aus Wissen, Gedanken und Ideen oder Anschauungen.“ Der Text sei "ein Piranha, der auf die Leser wartet“. "Da ist aber schon sehr viel guter Wille dabei“, entgegnet Hildegard Keller, die mit dem Text nicht warm wurde. Es gebe zu viele Leerstellen in der Handlung und auch die Sprache habe sie nicht berührt. Nora Gomringer beschreibt den Text als "eitel und selbstverliebt“, ist jedoch begeistert von der Schilderung eines Traums der Protagonistin, in dem Sperma zu Popcorn wird. "Das ist die schönste Beschreibung eines Traumes ever“. Auch Klaus Kastberger stört sich nicht daran, dass der Text den anfangs erwähnten Fall im Unklaren lässt: "Die sprachliche Bewegung hat mir vollkommen gereicht, ich habe mich keine Sekunde gelangweilt."

Samstag, 07.07., 10:32
Der Schriftsteller Peter Wawerzinek, selbst bereits mit dem Bachmannpreis ausgezeichnet, war mit uns hinter den Kulissen Klagenfurts und hat unsere Erlebnisse schriftlich festgehalten.

Freitag, 06.07., 21:36
Wir blicken zurück auf den zweiten Lesungstag der TddL.

Freitag, 06.07., 14:30
10. Lesung, Anselm Neft

"Ich glaube, der Text ist für eine andere Bühne gemacht."

So lautet Klaus Kastbergers deutlichste Aussage zu Anselm Nefts Lesung seines Textes Mach's wie Miltos!, die sich in ihrer Vortragsart von den vorigen abhebt: Neft versetzt sich in die unterschiedlichen Figuren hinein, gibt ihnen eigene Stimmen und scheut sich nicht, auch mal laut zu werden. Der Autor, gleichzeitig Geburtstagskind des Tages, bietet eine abwechslungsreiche, theatralische Lesung. Er erzählt die Geschichte eines obdachlosen Mannes, der in Begleitung seines vermeintlich eingebildeten Freundes Miltos das Leben auf der Straße schildert und sich dabei an ein Leben als Familienvater mit tragischem Ausgang erinnert.

"‚Warum verbrennst du meine Sachen?' ‚Weil du sie nicht mehr brauchst', sagt er. ‚Wieso brauche ich sie nicht mehr?', fragt seine Tochter, barfuß, langzehig, in ihrem blauen Schlafanzug, auf dem die gelben Schmetterlinge sitzen. ‚Weil du tot bist, Schatz', sagt er, und Miltos nickt zufrieden."

Die Meinungen der Jurymitglieder gehen in mancher Hinsicht auseinander, in einem Punkt ist man sich jedoch größtenteils einig: Der Text sei überinstrumentalisiert und versuche zu angestrengt, Mitleid zu erzeugen, so Hubert Winkels. Wie auch Winkels stört sich Stefan Gmünder an einer Überfülle der Instrumentalisierung und des Pathos und bezeugt zugleich Respekt vor Text und Figur. Kastberger, der sich offensichtlich am Posing des Textes stört, macht zugleich deutlich, dass man sich an solche Töne gewöhnen müsse, da sie in Zukunft häufiger bei den TddL auftreten würden.

Freitag, 06.07., 13:30
9. Lesung, Bov Bjerg

Bov Bjerg eröffnet den Nachmittag des zweiten Lesungstages mit seiner Erzählung Serpentinen, einer Geschichte über einen Vater und seinen Sohn, die zusammen einen Ferientag verbringen. Bjerg verbindet zeitgeschichtliche, geologische Motive mit der Genealogie der Protagonisten. Jedes Detail der Geschichte, so Klaus Kastberger, sei bedeutungstragend.

"Schautafeln mit den Erdzeitaltern: Kreide, Jura, Trias, Perm. Die Schichten gaben den Zeiten den Namen, das hatte ich schon in der Schule nicht verstanden."

Der Ton der Jury ist vorwiegend positiv. Hildegard Keller freut sich über einen „radikal erzählten Text“, sie lobt die „innere Kommentarfunktion des Vaters“, merkt jedoch an, dass die Person des Vaters unkonkret bleibe und „nicht geortet werden kann“. Stefan Gmünder sei der Text sehr nahe gegangen, er ist begeistert von der Dynamik.

"Am liebsten würde ich immer hier sitzen bleiben, an der Bushaltestelle, dachte ich. Und dann kamen die Erdzeitalter und legten sich auf mich. Das Präteritum, das Präsens, das Futur. Diese Versteinerung da, im Präteritum, schau mal, das bin ich."

Für Insa Wilke ist der Text spektakulär. Im Zentrum stehe die Frage: "Wie geben wir Dinge weiter, die wir eigentlich verhindern wollen?“

Freitag, 06.07., 12:00
8. Lesung, Tanja Maljartschuk

"Alle sind erleichtert und denken sich: Ja, endlich Literatur."

Dieser Aussage Nora Gomringers stimmen nicht alle Jurymitglieder zu. Größtenteils ist das Echo auf Tanja Maljartschuks Erzählung Frösche im Meer aber positiv. Sie erzählt die Geschichte Petros, eines osteuropäischen Geflüchteten, der seinen Pass vernichtet hat und ein einsames Nischendasein führt.

"Petro löste sich unter den Fremden auf, und niemand suchte nach ihm, noch nicht mal die Polizei, niemand wollte wissen, was mit ihm passierte."

Er tritt in Kontakt mit einer alten Dame, die trotz ganz anderer Lebensumstände ähnlich abgeschottet lebt. Petro hat keine Familie, keinen Rückhalt und wird am Ende auf Initiative von erzürnten Nachbarinnen doch von der Polizei aufgesucht.

Es sei ein abgründiger, kein freundlicher Text, so Insa Wilke.

"Eine stimmige Geschichte", urteilt der Juryvorsitzende Hubert Winkels. Es sei schwer, den Text geistreich zu umgarnen, er tue schon vieles selbst.

"Dann lass ihn doch einfach", ist darauf die Antwort von Klaus Kastberger.

Freitag, 06.07., 11:00
7. Lesung, Ally Klein

Auf Einladung von Michael Wiederstein liest Ally Klein einen Auszug aus ihrem noch erscheinenden Debütroman Carter. Mit scheinbar unendlichen Sätzen, vorgetragen in sich immer weiter steigernden Emotionen, zieht sie die Zuhörer in einen Strudel aus eindrücklich geschilderten Sinneswahrnehmungen. In einer Hütte trifft der Protagonist/die Protagonistin auf die mysteriöse Carter, die erst allmählich in Erscheinung tritt.

"Alles, was ich habe, alles, was mir ist, ist mir zur Krankheit geworden, alles, woraus ich sehe, woraus ich atme, woraus ich spreche, woraus diese Stimme erklingt, diese Stimme, in der ich lebe, in der ich sehe, in der ich atme, alles ist von dieser Krankheit verseucht, nichts ist mehr rein, nichts ist mehr real, außer dem Gesicht mir gegenüber, das vom Wind zuvor ausgestrichene, herausgestrichene Gesicht, mit der schwarzen Iris, das ich nicht aus den Augen lassen kann."

Michael Wiederstein zeigt sich begeistert und lobt Kleins Vortrag: "Das ist ein Text, der lebt." Hildegard Keller findet ebenfalls Lob für das "Crescendo", mit dem die Autorin liest, rät jedoch: "Sie haben noch viele Darlings zu killen" – und bezieht sich damit auf die zahlreich verwendeten Adjektive, die Kleins Text ihrer Meinung nach "schwächen".

Hubert Winkels und Insa Wilke bemängeln hingegen die fehlende Strukturierung des Textes: Insa Wilke findet ihn "wahnsinnig ungenau", Winkels fragt sich gar, ob Kleins kompliziertes Spiel mit den Sinneswahrnehmungen nicht vielleicht etwas "öde" wirken könnte. Die Figur Carter, die dem Text ihren Titel gibt, trete nicht lang genug in Erscheinung, um einen Spannungsbogen zu erzeugen.

Freitag, 06.07., 10:00
6. Lesung, Corinna T. Sievers

Den Tagesauftakt macht Zahnärztin Corinna Sievers. Im Vorstellungsvideo lebt sie den bürgerlich-kultivierten Traum, untermalt von ihrem Pianospiel. Dies konterkariert sie in ihrem Text Der Nächste bitte!

"Seinen Schwanz zu pflanzen, zu bearbeiten, zu bewässern, endlich zu Ertrag zu bringen": Eine erotomanische Zahnärztin, die sich im Gefälle von Macht und Devotion an ihren Patienten verlustiert: "Unter mir der Mann". Denn "Vertrauen macht vulnerabel, in diesem Fall K. Und männliche Vulnerabilität ist es, die mich anzieht".

Hubert Winkels findet den Text mutig, weil er explizit das Begehren einer Frau benennt, wie man es umgekehrt nur von Männern kenne. Hildegard Keller und Insa Wilke fehlt es an Radikalität, der Text bliebe bloß in solcher Pose stehen. Wilke bemängelt ergänzend, der Text handele nicht von Begehren und Erotik, sondern von Ekel. Mit dem Motiv der Groteske werde zwar angehoben, doch würde es nicht durchgehalten. Es solle provoziert werden, letztlich würde jedoch bloß eine männliche Phantasie der immer willigen Frau nachgespielt.

Teile der Jury finden die gesuchte Provokation in der Person Corinna Sievers' als Zahnärztin, die einen solchen Text schreibt. Nora Gomringer fordert zur Trennung von Autorin und Figur auf. Vielleicht zurecht, denn während Sievers ihre Protagonistin sagen lässt: „Auf die Brille habe ich verzichtet, aus naheliegenden Gründen: Sie steht mir nicht, verheerender noch, sie macht mich alt", tritt sie selbst mit der wohl größtmöglichen Brille vor die Jury und nimmt sich damit aus der Erzählung heraus. Oder spielt das Spiel der Autofiktion weiter.

Donnerstag, 05.07., 22:58
In unserem ausführlichen Bericht blicken wir zurück auf den ersten Lesungstag in Klagenfurt.

Donnerstag, 05.07., 14:30
5. Lesung, Joshua Groß

Joshua Groß, eingeladen von Insa Wilke, liest mit dem Text Flexen in Miami einen Romanauszug. Zumindest lexikalisch ist er bisher wohl der Auffälligste: Er schreibt von Konformität und Existenzialismus, Ficks, Hurensöhnen und Thermomixsynapsensmoothies. Die grammatische Struktur ist ähnlich vielfältig, die Rahmenhandlung eine Pärchengeschichte in Miami. Groß liest monoton, auch wenn es um ausgelassenen Spaß geht.

"Ich selbst war unsicher, ungeschützt, ständig hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Frauen, aber eigentlich unfähig, damit umzugehen, das heißt, ich lebte immer auch hypothetisch. Wir alle leben zu gewissen Teilen hypothetisch, in unterschiedlicher Ausprägung, davon abhängig, wie viel Fantasie und Aufrichtigkeit existieren und ob deren Verhältnis hauptsächlich durch Selbstlüge, Rücksicht oder Konsequenz bestimmt ist."

Die Jury ist gespalten. Es wird gelobt, wie der Text Themen der Zeit verarbeitet, z. B. medial vermitteltes Leben und Verlust des Ichs. Insa Wilke sieht ihn schon in den Schulbüchern von 2099. Michael Wiederstein empfiehlt hingegen, den Text, ebenso wie den darin erwähnten Thermomix, schleunigst vom Markt zu nehmen.

Beim Public Viewing wird die Diskussion von einer losheulenden Sirene und einem in das Geheul einstimmenden Hund beendet. Einigen Zuhörer_innen scheint das aus der Seele zu sprechen.

Donnerstag, 05.07., 13:30
4. Lesung, Anna Stern

Anna Stern liest aus Warten auf Ava - einer Erzälung, in der verschiedene Charaktere eine schwangere, im Koma liegende Frau im Krankenhaus aufsuchen und zu ihr sprechen. Die Vergangenheit der Figuren und genaue Gründe für den vorherigen Unfall verbleiben implizit, Stern stellt den Hörenden ein Rätsel.

Die Autorin liest als Erste der Nominierten stehend und setzt bewusst lange Pausen zwischen den Textabschnitten. Klaus Kastberger beschreibt diese als „langweilig", Insa Wilke verhilft die Lese-Performance zum Verstehen.

Die Jury bemängelt beinahe geschlossen die Unzugänglichkeit des Textes. Der Hintergrund des Textes werde nicht ganz klar, die Geschehnisse der Geschichte seien unwahrscheinlich. "Der Text ist für mich ein Fremder geblieben", sagt Stefan Gmünder.

Jurorin Hildegard E. Keller, die Anna Stern nominierte, verteidigt den Text als „gelungenes Spiel mit der Zeit" und als einen spannenden Auszug einer längeren Erzählung.

Donnerstag, 05.07., 12:00
3. Lesung, Stephan Lohse

Stephan Lohse liest aus Lumumbaland - einem Text, der bei der Jury viele Fragen aufwirft, die bereits bei der Textsorte anfangen. Lumumbaland erzählt von Identitätsfindung, Kolonialgeschichte und Freiheitskämpfen. Zugrundeliegend ist die historische Figur Lumumba, die zur Projektionsfläche jugendlicher Vorstädter wird.

"Er war sehr stolz. Er kam aus einem Dorf im Süden des Kongo. Sein Vater war Bauer. Nach ein paar Jahren schickte er den Sohn in die Mission. […] Lumumba lernte lesen und schreiben. Obwohl er ein fleißiger Schüler war, musste er die Mission verlassen. Er ging in den Norden und fand Arbeit bei der Post. Er wurde ein Angestellter dritter Klasse. Nachts las er Bücher."

Insa Wilke lobt die „sehr gelungenen Dialoge“. Hinreißende Figuren, so sagt sie, schaffen es, komplexe Sachverhalte einfach zu benennen. Klaus Kastberger gibt sich gelangweilt von den historischen Textpassagen - der allgemeine Ton der Jury ist hingegen positiv. Stefan Gmünder ist froh, einen Text gehört zu haben, der "humorvoll an diese Dinge herangeht."

Donnerstag, 05.07., 11:00 Uhr
2. Lesung, Martina Clavadetscher

"Im Nachhinein ist man immer schlauer – dafür auch tot". Eine 92-jährig verstorbene Schneiderin spricht über zwei Chancen in einem Moment, in dem es keine Chancen mehr gibt.

"Ich ließ mich von den ameisenhaften Dienern füttern, tränken, ließ mich waschen und herumrollen, mimte zur Tarnung das greise Weib, das ich war, aber drinnen entwickelte ich einen Plan. Als das Muster fertig und der Tag gekommen war, beendete ich die Nahrungsaufnahme, schlüpfte weiter hinein und verschloss mich der verjüngten Welt."

Klaus Kastberger sprach von einer „sehr glatten Sprache“ und einem „Exzess der Details“. Das Leitmotiv Carpe Diem – normalerweise der führende Gedanke bei Gesprächen von Toten (Hildegard E. Keller). Clavadetschers Text Schnittmuster sei jedoch etwas anderes als ein klassisches Totengespräch.

Donnerstag, 05.07., 10:00 Uhr
1. Lesung, Raphaela Edelbauer

Ein Loch, über das man aus kollektivem Schuldbewusstsein nicht spricht, droht die Gemeinde in den Abgrund zu stürzen. Ein einbestellter Statik-Techniker soll das Loch befüllen.

"Punktiert man das Herz mit einer Benzininjektion exakt, so tritt der Tod innerhalb weniger Minuten ein, wird aber die Lunge angestochen, so setzt ein viele Stunden andauernder Prozess des Krampfens, der Lähmungen und schließlich des Erstickens ein. 40 plus 40 sind 80, plus 40 sind 120, plus 40 machen 160 und so fort, das heißt, als es Nachmittag wurde, hatten die 10 Wachleute, von denen sich fünf und fünf immer mit dem Ausheben einer Grube und dem Verabreichen der Spritzen abwechselten, 200 Menschen getötet, von denen mindestens 70 noch im Todeskampf verblieben".

Hubert Winkels stört sich an der Ich-Figur des berichtenden Auffüllungstechnikers, die „danebengestellt" erscheine. Nora Gomringer befürwortet die Ausgestaltung des distanzierten Ichs als Teil des Geschehens: „Wenn man ein Loch befüllt, ist man jemand, der etwas begräbt", sie eröffnet eine vielleicht feministische Lesart: "Sind nicht alle Männer Auffüllungstechniker irgendwie". Eingeladen wurde Edelbauer von Klaus Kastberger, dieser zeigt sich angesichts der Jurykritik übellaunig.

Mittwoch, 04.07., 22:00 Uhr
Die Reihenfolge der Lesungen ist nun auch gewiss:

Do, 10:00 – Raphaela Edelbauer
Do, 11:00 – Martina Clavadetscher
Do, 12:00 – Stephan Lohse
Do, 13.30 – Anna Stern
Do, 14.30 – Joshua Groß

Fr, 10:00 – Corinna T. Sievers
Fr, 11:00 – Ally Klein
Fr, 12:00 – Tanja Maljartschuk
Fr, 13:30 – Bov Bjerg
Fr, 14:30 – Anselm Neft

Sa, 10:00 – Jakob Nolte
Sa, 11:00 – Stephan Groetzner
Sa, 12:30 – Özlem Özgül Dündar
Sa, 13:30 – Lennardt Loß

Mittwoch, 04.07., 20:30 Uhr
Die Tage der deutschsprachigen Literatur 2018 sind eröffnet.

Zum Auftakt hielt der Bachmannpreisträger von 2003, Feridun Zaimoğlu, die traditionelle Klagenfurter Rede zur Literatur. Unter dem Titel Der Wert der Worte wurde er politisch: „Es gibt keinen redlichen rechten Intellektuellen, es gibt keinen redlichen rechten Schriftsteller“.

Mittwoch, 04.07., 14:00
Im Robert-Musil-Institut finden sich Nachwuchsliterat_innen zur Lesung eigener Texte zusammen. Sie alle sind Stipendiat_innen, die in dieser Woche ein Intensiv-Coaching mit bereits etablierten Autor_innen erfahren haben.

Interessant: Ausgeteilt werden frühere Arbeitsfassungen der Texte, beim Mitlesen lässt sich die Genese der Texte nachverfolgen, denn gelesen wird eine überarbeitete Version. Mal fehlt ein Wort oder eine Flexion, Absätze verschwinden, neue kommen hinzu. Oft sind es Auszüge aus Romanprojekten. Es dominieren autobiographisch anmutende Texte über junge Großstadtexistenzen, einzelne Texte mit Krimi- und Phantastikelementen heben sich davon ab.

Es lasen: Svenja Viola Bungarten, Thilo Dierkes, Olga Galicka, Svenja Gräfen, Valentin Moritz, Ronya Othmann, Jochen Veit

Es coachten: Annette Hug, Ludwig Laher, Julia Schoch

Moderiert von Heimo Strempf

Der Trend geht weg von der Hypotaxe, Zeichensetzung hat keine Zukunft.

Mittwoch, 04.07., 11:50
Heute Abend um 20:30 werden die 42. Tage der deutschsprachigen Literatur im ORF-Theater eröffnet. Die Lesungen beginnen morgen, die Reihenfolge entscheidet sich heute Abend per Los.

Dienstag, 03.07.
Die Redaktion Gegenwartskulturen berichtet aus Klagenfurt!
Ab morgen sind wir mit Literatur-Studierenden vor Ort und teilen hier im Live-Ticker die aktuellen Geschehnisse. Zusätzlich gibt es ab Donnerstag jeweils einen ausführlichen Tagesrückblick, und schon jetzt stellen wir unter "Neu erschienen" lesende Autor_innen in Portraits vor. Wir freuen uns auf spannende Tage der deutschsprachigen Literatur!