Werwolf von Hannover, Retter der Republik?
Dirk Kurbjuweit erzählt in einem Roman die Geschichte des Serienmörders Fritz Haarmann neu
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn es so etwas wie einen deutschen Jack the Ripper gibt, dann ist es Fritz Haarmann. Schließlich avancierte auch der Schlächter von Hannover umgehend zur Volksfigur, seine künstlerische Rezeption ist kaum noch zu überblicken: vom Volkslied Warte, warte nur ein Weilchen bis zu Fritz Langs Stummfilmklassiker M – eine Stadt sucht einen Mörder, von Alfred Hrdlickas Haarmann-Fries in Bronze bis zur Fassbinder-Produktion Die Zärtlichkeit der Wölfe (1973) und natürlich Romuald Karmakars Geniestreich von 1995 mit Götz George als widerlich sympathischem Totmacher. Längst gibt es Haarmann-Adaptionen im Bereich von Theater, Graphic Novel und sogar Dark Metal; nur ein Rammstein-Song über den deutschen „Werwolf“ fehlt erstaunlicherweise noch.
Zumindest ein Grund für die anhaltende Faszination dieses Falles dürfte sein, dass viele seiner Umstände nie genau geklärt werden konnten, entsprechend enorm ist das Spekulationspotenzial. So wurde Haarmann zwar am 19. Dezember 1924 für die Ermordung von 24 Jungen und jungen Männern verurteilt. Doch wie viele „Pupenjungs“, meist Stricher und Herumtreiber des Hannoveraner Bahnhofsviertels, von Haarmann in der Dachkammer in der Roten Reihe 2 im Sexrausch zu Tode gebissen wurden, weiß niemand.
Über hundert seien es gewesen, vermutete später einer der leitenden Ermittler, doch übernahm Haarmann seinerzeit wie später ein Henry Lee Lucas, vielleicht geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die Verantwortung für alle möglichen Vermisstenfälle („Schreiben Sie man dazu“). Und haben die Nachbarn wirklich nicht mitbekommen, wie nebenan nächtelang mit Hackebeil und Hammer Leichen zerstückelt wurden? Ungeklärt blieb übrigens auch der wohl berüchtigtste Nebeneffekt von Haarmanns Arbeit als „Cleaner“ in eigener Sache: dass er nur deshalb in der Not der Nachkriegszeit Hannover Lokale mit billigem Fleisch beliefern konnte.
In Dirk Kurbjuweits Haarmann-Roman macht sich der leitende Ermittler Robert Lahnstein prompt zum Gespött, als er eines Gerüchtes wegen konfiszierte Wurstscheiben untersuchen lässt; „Kommissar Wurst“, lautet fortan der Spitzname des Protagonisten. Während sich Der Totmacher ganz auf Haarmanns Befragung durch einen psychiatrischen Gutachter konzentrierte, stehen in Kurbjuweits mittlerweile achten Roman die Suche nach dem Täter und die mit dem Fall verbundenen politisch-gesellschaftlichen Umstände im Zentrum.
Lahnstein, angesichts einer immer unruhiger werdenden Öffentlichkeit extra aus Bochum nach Hannover beordert, um die wachsende Zahl von Vermisstenfällen aufzuklären, ist vom 57-jährigen Spiegel-Journalisten als Sympathieträger konzipiert: mit seiner Hintergrundtrauer um den Verlust seiner Familie und seiner seit den Monaten der Kriegsgefangenschaft unsicher gewordenen sexuellen Orientierung, mit seinem Bekenntnis zur Demokratie und nicht zuletzt seiner allmorgendlichen Angst davor, dass schon wieder ein verzweifeltes Elternpaar in seinem Büro stehen könnte. Zumal er noch die Verachtung seines dubiosen Kollegen Müller ertragen muss, der anders als der mehrfach abgeschossene Pilot im Krieg ein echter Draufgänger gewesen sein will.
Eine große Leuchte als Ermittler ist Lahnstein übrigens auch nicht, so sehr verrennt er sich zunächst in seinen Spekulationen: Ist der Täter ein Kriegsheimkehrer, der von dem an der Front erlernten Mordhandwerk nicht lassen kann? Oder wollen sich hier vielleicht die örtlichen Anhänger dieses Hitlers an jungen Kommunisten dafür rächen, dass ihr sogenannter Führer gerade in München als Putschist vor Gericht steht? Dabei raunt ihm doch schon auf den ersten Seiten seine Zimmerwirtin zu, dass er besser auf das Auf und Ab der örtlichen Fleischpreise achten solle.
Eine packende Lektüre bietet die Geschichte von Lahnsteins Jagd nach dem mutmaßlichen „Serienmörder“ durchaus – auch wenn es diesen im Roman wiederholt auftauchenden Begriff 1924 noch gar nicht gab, wurde er doch erst ein paar Jahre später von dem legendären Berliner Kriminalisten Ernst Gennat geprägt, der zumindest Volker-Kutscher-Lesern ein Begriff ist. Zudem wechselt Kurbjuweit zu Anfang und Ende eines jeden Kapitels geschickt die Perspektive und lässt den Leser miterleben, wie die Wege eines jungen Ausreißers – der wie Kafkas Karl Roßmann nach Amerika auswandern will, weil er ein Mädchen geschwängert hat – und Haarmanns unerbittlich aufeinander zulaufen.
Dabei ist dieser unglückselige Martin als Opfer ebenso fiktiv wie Kurbjuweits Ermittlerfigur. Was an sich kein Problem ist, schließlich steht auf dem Cover Roman und nicht Reportage. Und einfach nur Kolportage ist es daher, dass Kurbjuweit seinen Lahnstein unwissentlich ausgerechnet mit Haarmanns Schwester anbandeln lässt. Problematischer ist dagegen, dass der Autor mehr am Aktualisierungspotenzial des Falles interessiert ist als an diesem selbst. Mit der Folge, dass er seinen Roman heillos überfrachtet. Nicht nur den gesellschaftlichen Umgang mit den „Hundertfünfundsiebzigern“, wie man Homosexuelle damals nannte, thematisiert das Buch. Auf den Schultern seines Ermittler-Protagonisten soll buchstäblich die Zukunft der jungen Republik lasten.
Denn während in der historischen Wirklichkeit die damaligen Kriminalisten Hermann Lange und Heinrich Rätz die Ermittlungen erst aufnahmen, nachdem zufällig Schädel aus der Leine gefischt worden waren, führt im Roman die empörte Öffentlichkeit längst eine Debatte um Freiheit und Sicherheit in einer Demokratie. „Zwölf Tote in einem Jahr, und kein Täter, keine Spur?“, bekommt im Roman Lahnstein von keinem Geringeren als Gustav Noske, damals Oberpräsident der Provinz Hannover, die Lage erklärt. „Unter dem Kaiser wäre das nicht passiert, sagen sie. Kann die Demokratie nicht für unsere Sicherheit sorgen?, fragen sich die Leute.“
Dabei kann zu diesem Zeitpunkt im Roman noch niemand wissen, ob die Vermissten überhaupt ermordet worden sind. Am Ende glaubt der erleichterte Lahnstein selbst, Haarmanns Überführung – und nicht etwa der damals anlaufende wirtschaftliche Aufschwung – habe das Vertrauen in die Demokratie wiederhergestellt und die radikalen Parteien bei den Reichstagswahlen vom Dezember 1924 abstürzen lassen.
Merkwürdig widersprüchlich bleibt zudem Kurbjuweits Umgang mit der Frage, ob der Rechtsstaat zur Not seine Grenzen überschreiten darf. Also in diesem Fall, ob er, um ein Geständnis zu erzwingen und die Mordserie zu beenden, Foltermethoden anwenden darf. Diese Frage stellte immerhin schon Theodor Lessing in seinem Buch über den Fall, mit einem klaren Nein als Antwort. Kurbjuweit schenkt dem Kulturphilosophen zwar einen Gastauftritt – aber so wie er in seinem Roman die Verhöre schildert, muss man sagen: Ohne Schlafentzug und Psychoterror, vom immer ratloseren Lahnstein am Ende doch geduldet, wäre der „Werwolf“ wohl kaum eingeknickt. Dabei gehört auch die Frage, inwieweit Haarmanns Geständnis seinerzeit erzwungen wurde oder nicht, zu den nie restlos geklärten Umständen dieses Falles.
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