Herausfinden. Als gäb es ein Draußen
Drei Jahre nach dem Tod Barbara Köhlers hat Marie Luise Knott mit dem Band „Schriftstellen“ eine Auswahl aus dem literarisch-künstlerischen Werk der Dichterin herausgegeben
Von Gabriele Wix
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBarbara Köhler, 1959 geboren, wuchs in der ehemaligen DDR auf. Nach dem Abitur erlernte sie den Beruf einer Facharbeiterin für textile Flächenherstellung. Sie arbeitete fachfremd in verschiedenen Berufen, bevor sie von 1985 bis 1988 am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ studierte, dem heutigen Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Nach der Wiedervereinigung veröffentlichte sie 1991 gleich drei Bücher: ihren ersten Gedichtband Deutsches Roulette. Gedichte 1984–1989 bei Suhrkamp, Frankfurt a. M., den Band Retrospektive, Augustinermuseum Freiburg,und das Buch Ostberlin 1983-1986 bei Connewitz, Leipzig, eine Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin Jayne-Ann Igel und mit Illustrationen der Fotografin Karin Wieckhort.
In diesen drei Veröffentlichungen zeichneten sich bereits die unterschiedlichen Stränge in Barbara Köhlers Schaffen ab, die Sprache und die bildende Kunst, die Poesie und die Prosa. Es folgten weitere Gedichtbände – mit einem intermedialen Band, Istanbul, zusehends, erwarb sie den Peter-Huchel-Preis –, aber auch Essays, Kooperationen mit Schriftstellern und Künstlern sowie eine Reihe eigener Ausstellungen. Doch blieb der bildkünstlerische Weg in der Rezeption ihres Schaffens eher im Hintergrund, obwohl Barbara Köhler ihre Schrift-Installationen regelmäßig vor allem im Rheinland und Ruhrgebiet zeigte: in der Galerie m, im Museum DKM in Duisburg, in der Universität Witten/Herdecke, im Museum Kunstpalast, in der Buchhandlung Literatur bei Müller in Düsseldorf, aber auch in Chemnitz oder in der Pinakothek München. 2012 war sie Thomas Kling-Poetikdozentin an der Universität Bonn, von 2018 bis 2020 Gastprofessorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Ihren Wohnort hatte Barbara Köhler schon 1994 von Leipzig nach Duisburg verlegt. 2021 starb sie in Mülheim an der Ruhr.
In diesem Rezensionsforum wurde Barbara Köhler noch nicht besprochen. Die 2024 erschienene Auswahl aus ihrem Werk bietet den Anlass, die widerständige Dichterin, Essayistin, Übersetzerin und Künstlerin hier erstmals vorzustellen. Der programmatische Titel der Sammlung gibt den Einstieg: Schriftstellen bündelt das dichterische und bildkünstlerische Schaffen Barbara Köhlers und referiert auf ihre Poetologie ebenso wie auf ihre Ausstellungskonzepte. Zur Einführung in den Band hat Knott Auszüge aus Barbara Köhlers Antrittsvorlesung zu der Thomas Kling-Poetikdozentur aus dem Jahr 2012 abgedruckt. Hier hinterfragt Köhler radikal den Auftritt einer Dichterin im akademischen Betrieb und ebenso die Erwartungshaltung des überwiegend akademischen Publikums. In den nachfolgenden vier Kapiteln ist eine Auswahl aus ihrem Werk versammelt: Im ersten Kapitel, „Aus Monografien“, sind es Texte aus Deutsches Roulette, Blue Box, Wittgensteins Nichte, Niemands Frau, Neufundland, 36 Ansichten des Berges Gorwetsch, Istanbul, zusehends und 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss. Das nachfolgende Kapitel „Andernorts Veröffentlichtes“ gliedert sich in „Mit-Schriften“, hier handelt es sich im Wesentlichen um Gespräche, und „Einzel-Schriften“, also verstreut Veröffentlichtes. Unter dem Titel Schriftstellen, der dem Band den Namen gegeben hat, werden Abbildungen ihrer schriftbildkünstlerischen Arbeiten gezeigt. Das Kapitel „Unveröffentlichtes“ mit Texten aus dem Nachlass beschließt den Textteil. Im Anhang finden sich eine Biografie und Quellenangaben mit sehr hilfreichen Kommentaren, eine editorische Anmerkung sowie ein Nachwort der Herausgeberin, aus dem vorab einige Aspekte vorgestellt werden sollen. Knott zeigt darin auf, wie die Bedingungen des Schreibens in der damaligen DDR zu zahlreichen intermedialen Publikationen führten. Diese waren von der Genehmigungspflicht ausgenommen, doch war ein bestimmtes Verhältnis von Bild und Text vorgeschrieben. Um der Begrenzung des Textmaterials zu entgehen, sei „so manches Gedicht auf die Druckplatte geätzt oder auf Kunstwerken platziert [worden], um als Grafik zu gelten.“ Zum andern umreißt Knott die Rolle schreibender Frauen, die in der „inoffiziellen DDR-Szene“ kaum vertreten gewesen seien, und verweist auf die „nachgerade feministische Sprachpolemik“ Köhlers. In diesem Zusammenhang zitiert sie einen Text, an den Barbara Köhlers Schriftinstallation auf der Südfassade der Alice Salomon Hochschule Berlin thematisch anknüpft; auf diese Wandarbeit ist noch zurückzukommen.
Und da ich als SIE ein vitales Interesse habe DAS zu überleben, in der Schrift zu überleben, bin ich einverstanden, stimme ich zu, drehe kehre ich um, wende die Not & sage, was mir gesagt wird, nehme das Wort, spreche aus, was mir bedeutet wird: ICH ZÄHLE NICHT. ICH ZÄHLE NICHT ist IHR erster wirklicher Satz, ein Satz, der wirkt, der SIE bewirkt.
Die Schriftstellerin Annett Gröschner hatte Barbara Köhler während ihres Studiums in Leipzig kennengelernt. In einem Gespräch mit Sigrid Brinkmann, das der Deutschlandfunk im Januar 2021 zum Tod der Dichterin gesendet hat, beschreibt Gröschner diesen feministischen Ansatz aus biografischer Perspektive. Köhler und sie hätten damals nach einer Poetik gesucht, „mit der man sprechen kann als Frau“, nach einem „weiblichen Schreiben“, ohne das so zu nennen. Darüber hinaus stellt Gröschner einen weiteren Bezug der Texte zu Köhlers Herkunft aus der ehemaligen DDR her, ihre Ausbildung im Bereich der textilen Flächenherstellung. Letztendlich habe sie das ja dann auch weitergemacht, „sie hat halt Textflächen hergestellt und auch verschiedene Genres miteinander verwoben.“
Was Barbara Köhler mit Sprache macht, wie sie Schrift „stellt“, zeigt exemplarisch ein kurzer Text, der auf die Umschlagrückseite gesetzt ist. Er stammt aus dem Gedichtband Blue Box.
Ich übe das Alleinsein, und ich denke, ich habe es darin schon ziemlich weit gebracht. Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie. Ich rechne nicht mehr damit, verstanden zu werden. Mathematik ist nicht mein Fach.
Irritiert durch den letzten Satz geht man im Text zurück und liest nun das Verb „rechnen“ in seiner wörtlichen Bedeutung, die man in der idiomatischen Redewendung überlesen hat. Wenn Barbara Köhler Schrift „stellt“, führt das zur schärferen Wahrnehmung des Sprachgebrauchs. Man „stellt“ ein Glas auf den Tisch, man „stellt“ eine Frage, man „stellt“ eine Frage in den Raum, man „stellt“ einen Flüchtigen, man „stellt“ sich selbst, man „stellt“ jemanden zur Rede und so fort. Die häufige Referenz auf den Philosophen Ludwig Wittgenstein in ihrem Werk begleitet Köhlers Poetik. Wittgensteins Nichte lautet ein Buchtitel, „Wittgensteins Brücke“ ein Text in Neufundland, „Mein / lieber Ludwig Wittgenstein!“ heißt es in einem der Nachlasstexte. Wie ein Sprachspiel Wittgensteins liest sich Barbara Köhlers Beitrag zu einem Ausstellungskatalog des Chemnitzer Künstlers Osmar Osten, in dem sich die unterschiedlichen Bedeutungen von „gehen“ im alltäglichen Gebrauch der Sprache herausbilden, verschieben und überlagern. Die ersten Sätze lauten: „geht es gut? ja? geht es auf zwei beinen? auf allen vieren? auf händen? auf dreien? auf alle fälle? und keine kuhhaut?“ Nur gibt es eine entscheidende Differenz zu den Sprachspielen des Philosophen: Es fehlt der situative Kontext, es fehlt ein verbindlicher Handlungsrahmen, anders gesagt, es fehlt die Wittgensteinsche „Lebensform“, es sei denn, man fasst „Lebensform“ als Gespräch mit der Sprache. Und die gelangt nicht aus sich heraus. „Herausfinden. Als gäb es ein Draußen.“, sagt Köhler in der Bonner Antrittsvorlesung und betont später noch einmal: „[…] – aber zur Sprache kommen? Als sei es ein Ort? Als gäb es ein Draußen?“
Die Buchseite stellt einen maßgeblichen Bezugspunkt in Köhlers Schreibarbeit dar, und es ist ein großes Verdienst des Sammelbands, dass jedem Text eine Seite eingeräumt und so dem bildhaften Charakter von Köhlers Texten und Textblöcken Rechnung getragen wird. Wie Buchseiten gestaltete Köhler auch Wände, Spiegel oder Fensterscheiben mit Schrift. Dabei experimentierte sie mit unterschiedlichen Materialien, mit Wandprojektionen wie in „light“, 2015, mit sandgestrahltem Spiegelglas wie in „‘ici‘. Ici c‘est hier ist gestern“, 2017, oder mit Weißdruck auf Metallicpapier im LED UV-Direkt-Druck wie in „Seestück“, 2019; letzteres ist im Band abgebildet. Sehr konsequent präsentiert Marie Luise Knott zwei Gedichte doppelt: „Elf ½“ und „Schattenfuge“ erscheinen einmal als Buchdruck im Kapitel „Aus Monografien“ und einmal als Abbildung im Kapitel „Schriftstellen“.
Auf große mediale Aufmerksamkeit traf Köhlers Wandinstallation an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Der Text ist in Versalien gesetzt, Personal-/ Possessivpronomen und Höflichkeitsanrede sind nicht mehr zu differenzieren.
SIE BEWUNDERN SIE
BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:SIE WIRD ODER WERDEN GROSS
ODER KLEIN GESCHRIEBEN SOSTEHEN SIE VOR IHNEN
IN IHRER SPRACHEWÜNSCHEN SIE IHNEN
BON DIA GOOD LUCK
Klug und uneitel beendete Köhler mit ihrer Präsentation eine lange Diskussion um ein Gedicht von Eugen Gomringer, das seit 2011 auf der Fassade der ASH angebracht war. Sie überschrieb die Textarbeit ihres Vorgängers, der damit weitere Sichtbarkeit gegeben war. Zugleich hatte sie ihre Installation auf eine begrenzte Verweildauer angelegt.
Ein schwieriger Punkt in posthumen Anthologien ist die Auswahl der Nachlasstexte. Marie Luise Knott hat sich für sehr unterschiedliche Texte entschieden. Drei entstammen einem mit „Diverse Gedichte“ beschrifteten Ordner, die weiteren der Festplatte von Barbara Köhlers letztem Computer, verzeichnet unter „In Arbeit“ (alle Deutsches Literaturarchiv Marbach). Anders als die von Thomas Kling aus seiner Kranken- und Sterbegeschichte heraus selbst veröffentlichten Gedichte verblieben diese Texte im Privatraum der Dichterin. Den Leserinnen und Lesern wird ein Blick in die Schreibwerkstatt der schwer Erkrankten gewährt, ein Blick auf das noch nicht Abgeschlossene und nicht mehr Abschließbare.
Ziel des posthum editierten Sammelbands Schriftstellen sei, so die Herausgeberin, die Kraft der künstlerischen Energien Barbara Köhlers sichtbar zu halten. Ziel erreicht, kann das Fazit nur lauten.
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