Vom Besonderen zum Allgemeinen

Winfried Menninghaus' unternimmt in "Hälfte des Lebens" einen Versuch über Friedrich Hölderlins Poetik

Von Mario WenningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wenning

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Menninghaus hat sich mit "Hälfte des Lebens" dem gleichnamigen Gedicht Friedrich Hölderlins zugewendet. Dieses Gedicht gehört zu den berühmtesten und meist interpretiertesten Werken moderner Dichtung. Hölderlin, der sich den gängigen Epochenunterscheidungen von Klassik und Romantik entzieht, hat gerade mit seiner kurz vor und während der geistigen Umnachtung geschriebenen Gedichte der Nachwelt Rätsel aufgegeben. Menninghaus versucht nicht nur, eine weitere Gedichtinterpretation vorzulegen, sondern vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen. Ausgehend von einer durch äußerste Textnähe gekennzeichneten Interpretation handelt es sich um einen "Versuch über Hölderlins Poetik". Sowohl Gedichtinterpretation als auch das Ansinnen, Hölderlins Poetik als Ganzer näherzukommen, beanspruchen, Neues herausgefunden zu haben.

Hölderlin zog seine dichterische Kraft aus der Reverenz griechischer Dichter, ohne dabei seinen spezifisch modernen Ausgangspunkt zu leugnen. Seine bewusste Anbindung an antike Vorbilder unterscheidet ihn von dem sonst typischen Drang moderner Dichtung, sich durch Abgrenzung vom Überkommenen neu zu erfinden. Spätestens seit Norbert von Hellingraths einflussreicher Edition galt Pindar als zentraler Bezugspunkt und Vorbild der Dichtung Hölderlins. Menninghaus zeigt, dass für die Poetik um 1800 der griechische Dichter Alkaios und vor allem die im sechsten vorchristlichen Jahrhundert schaffende Dichterin Sappho das bislang übersehene (Anti-)Gravitationsfeld ausmachen. Gemessen an ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Lyrik um 1800 ist es verwunderlich, dass Sappho weitgehend vergessen ist. Hat man sie bei der Lektüre Hölderlins im Hinterkopf, so treten Charakteristika hervor, die dem an Pindar geschulten Auge verborgen bleiben mussten. Neben der "harten Fügung" pindarisierender Heldenverehrung tritt plötzlich der Ton "lieblicher Fügung" in den Vordergrund. Die bestechende These des am Berliner Peter Szondi-Instituts und in Yale lehrenden Literaturwissenschaftlers, die nicht weniger als eine Kurskorrektur der bisherigen Hölderlin-Deutung einleitet, wird durch ein close reading entwickelt. Der Autor, der sich unter anderem als Kenner der romantischen Ästhetik einen Namen gemacht hat, schreckt trotz der Detailschärfe seiner Analysen nicht davor zurück, den Bogen zu größeren Zusammenhängen - insbesondere der Ästhetik Hegels, Schlegels, Schillers und Goethes - zu schlagen. Trotz der kenntnisreichen, philologisch versierten Argumentation ist das Ergebnis keineswegs langweilig. Spannend wird dem Leser unter anderem vor Augen geführt, wie Hölderlin mit poetischen Mitteln über die midlife crisis reflektiert und überkommene Geschlechterklischees aufweicht.

In seiner fast religiösen Charakterisierung einer sommerlichen Idylle in der ersten Strophe ("Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser") knüpft das Gedicht an den Mythos des selbstverliebten Adonis (bzw. Narziss) an, was sich nicht nur in der Verwendung des Formelementes des Adoneus ("Hälfte des Lebens", "klirren die Fahnen" etc.), sondern auch thematisch im Umschlag von der Preisung höchster Schönheit in die Klage über deren Verfall bis zu winterlicher Kälte und Tod in der zweiten Strophe zeigt. Diese in dem Gedicht antithetisch gegenübergestellten und durch die Form vermittelten Perspektiven der Vervollkommnung und des Scheiterns sind für Hölderlins Denken charakteristisch. Versöhnungs- und tragische Motive wechseln einander ab. Mit den selbstverliebten "holden Schwänen" meint er nicht zuletzt die Profession der Dichter, die ihr Glück nur durch Verlust und Untergang erkaufen können.

Während Menninghaus' Hauptaugenmerk auf der metrischen und motivisch-mythologischen Analyse liegt, hätte man sich darüber hinaus eine Interpretation des philosophischen Gehalts auf einem ähnlich hohen Niveau gewünscht, wie sie etwa Dieter Henrich mit seiner Analyse des Hölderlinfragmentes "Urteil und Seyn" vorgelegt hat. Ist nicht der im Gedicht präsentierte Umschlag von schöner Fülle in kahlen Mangel eine mit Mitteln der Dichtung exemplifizierte Theorie der Moderne? Kann man die Wende von der ersten zur zweiten Strophe überhaupt ohne die ständig mitschwingende geschichtsphilosophische Reflexion verstehen? Bringen nicht die Schlusszeilen des Gedichtes ("Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen") lückenlose Einsamkeit und unertragbare Kälte der Zivilisation in einer radikal modernen Weise zum Ausdruck, die an Benn oder Gottfried Celan erinnern?

Menninghaus bietet trotz der überwiegenden Formanalyse wichtige Hilfestellungen, um diesen Fragen weiter nachzugehen. Abgesehen von einigen Redundanzen ist ihm auf gut 100 Seiten eine von Leidenschaft und Sachkenntnis, Fantasie und Gegenstandstreue gleichermaßen getragene Interpretation gelungen, die die Hölderlin-Forschung nachhaltig beeinflussen wird. Mit folgenden Worten fasst er seine Interpretation treffend zusammen: "[E]inen multirhythmischen Klang und eine Überblendung von Eloge und Elegie abgewonnen zu haben, gehört zum Reiz und zum Reichtum dieses so kurzen Gedichts, das zugleich Natur- und Empfindungsgedicht, eine Reflexion der midlife crisis, eine Mischung sapphischer, alkäischer und pindarischer Verselemente, eine Neulektüre von Adoneus und Adonis, ein Remake von Ovids Berühmter Episode über Schönheit, Spiegelung und Tod des Narcissus und Stellungnahme zur Poetik und Philosophie der Zeit ist". Die vielleicht größte Leistung besteht jedoch darin, vorbildlich gezeigt zu haben, wie auch gewagte, mit der Tradition brechende Thesen an Hand einer intensiven und detailgetreuen Interpretation eines äußerst kurzen Textes überzeugend entwickelt werden können. Die Freiheit des Lesens steht der Genauigkeit der Analyse nicht entgegen. Damit zeigt Menninghaus, dass der viel gescholtenen Literaturwissenschaft wertvolle Impulse abzugewinnen sind. Seinem Leser bleibt nur die verblüffte Frage: "Und all das soll wirklich in diesen Zeilen stecken?"


Titelbild

Winfried Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
144 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518417177

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