Der Ort des Reaktionärs

Martin Mosebach zu Literatur und Zeitkritik

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schreibt ein Schriftsteller über die Literatur Anderer, dann stets auch über die eigene. Er kann Gegensätze herausstellen und so sein Werk schärfer situieren; die schönsten bösen Sätze über große Dichter stammen fast alle von anderen großen Dichtern. Auf solchen Schwung verzichtet Martin Mosebach in seinen Essays unter dem Titel "Schöne Literatur". Schon die Überschrift verweist auf eine andere Art der Anverwandlung als die der Polemik: auf eine Sicht, die vor allem auf das Gelungene der Werke, die weltschöpfende Leistung ihrer Verfasser hinweisen soll; auf das Bedeutende, das bleibt. Eindringlich zeichnet Mosebach nach, was lesenwert ist und warum. Nur selten wendet er sich einem Werk zu, das ihm fern steht, und versucht selbst dann noch zu fassen, was ihn berührt.

Fast stets ergibt sich so ein Dialog mit der Kunst der Vergangenheit - die der Gegenwart erscheint Mosebach wohl fast durchweg unerheblich. Auf angemessene Weise vereint er die Bescheidenheit, dem Begreifen fremder Werke zu dienen, mit dem Selbstbewusstsein, ihre wesentlichen Dimensionen zu erschließen. So erscheint auch das eigene Werk als Teil einer literarischen Tradition; übrigens auch einer sprachlich vorgeformten Welt. Der Eingangsessay ist der Prägung durch die Muttersprache gewidmet.

Dabei ist Mosebach durchaus nicht auf die deutsche Literatur fixiert. Der Band enthält unter anderem Beiträge zu Julien Green, Gustave Flaubert, Madame du Châtelet, Marcel Proust, Stendhal oder Choderlos de Laclos. Ein Essay zur Frage "Was ist katholische Literatur?" ist ohnehin übernational angelegt.

Mit Ausnahme dieses Textes und vielleicht des (leider nicht nachgewiesenen) Schlussessays zum schöpferischen Verhältnis des Autors zu den Menschen aus seiner Umgebung, die er in Literatur verwandelt, sind alle Aufsätze zuvor einzeln erschienen. Dennoch, und obwohl Mosebach sensibel auf die Besonderheiten beinahe jedes Werks einzugehen vermag, ergibt der Band ein Ganzes. Zum Einen ist er auf die Gattung Epik zentriert; Lyrik fehlt ganz und Theaterstücke sind nur am Rande behandelt. Zum Anderen deutet die Reihe der deutschsprachigen Autoren, denen sich Mosebach zuwendet, auf seinen der Vergangenheit zugewandten Begriff von "schöner Literatur" hin. Zu nennen sind insbesondere Rudolf Borchardt, Gerhard Nebel, Botho Strauß, Heimito von Doderer.

Vor allem die Poetologie des Letzteren gewinnt für Mosebach Vorbildcharakter. Er zeigt nicht nur den Zusammenhang von Doderers verstreuten Äußerungen zum Roman, sondern weist an dessen wohl wichtigstem Werk, den "Dämonen" nach, dass und wie die Überlegungen in Literatur umgesetzt sind. Mosebachs Blick auf Kunst ist auch hier erhellend, und der Blick auf die Verknüpfung weniger der Handlungselemente als der Arten von Wahrnehmung eröffnet auch genauen Kennern des Romans neue Blickwinkel. Ebenso bezeichnend aber ist eine Blindstelle, die andererseits dem Werk seine historische Brisanz zu entziehen droht. Doderer, so Mosebach, "verlangte von sich, mit allem, was er beschrieb, mit den Zeiten, den Charakteren und deren Taten, auf eine grundsätzliche Weise einverstanden zu sein. Er entsagte - und man kann sich das bei seinem Temperament wahrscheinlich nicht dramatisch genug vorstellen [...] - ein für allemal aller Zeit- und Kulturkritik in seinem Werk [...]."

Das nun ist befremdlich. Nicht nur Doderers "Repertorium", auch die Romane stellen die Moderne als geistfeindlich und als Verfall dar. Folge sind Obsessionen, wie sie in den "Dämonen" keine geringe Rolle spielen, und cholerische Anfälle, wie sie als Symptom und Ausweg zugleich wenig später in den "Merowingern" ebenfalls geschildert werden. Mit nur wenig in der Welt sind der Autor und sein Erzähler einverstanden; nicht zu reden von der notwendig parteiischen Darstellung historischer Ereignisse, wie etwa in den "Dämonen" der Brand des Wiener Justizpalasts und die damit zusammenhängenden Straßenkämpfe, die als ein zentrales Ereignis der Zwischenkriegszeit in der österreichischen Geschichtsschreibung lange umstritten blieben.

Dieser Einwand betrifft kein Detail. Mosebachs Blick auf die "schöne Literatur", so zeitfern er sich gibt, ist in weiten Teilen Ausdruck einer "Zeit- und Kulturkritik", wie Doderer sie eleganter und vor allem - zumindest im Roman - selbstreflexiv zu üben vermochte. Bei Mosebach hingegen, wenn er benennt, was ihm nicht passt, kommt es zuweilen derart patzig daher, dass auch ein sonst gewinnender Text wie der zu Gerhard Nebel beschädigt wird: "Die Politisierung und gesellschaftliche Inpflichtnahme der Schule hat einen Grad erreicht, von dem die Parteipädagogen der Nazi-Diktatur auf normalen Gymnasien - nicht den 'Napolas' - nur träumen konnten. Gemeinschaftskunde - die deutsche Schande. Das Mitschwänzen, das Absondern dummer Meinungen aus dem Fernsehen, die Demagogie der Harmlosigkeit, Betroffenheitsübungen, die jeden politischen Sensus abtöten, das Verschmähen jeder Art von Maßstäben und Kenntnissen kennzeichnen die überwältigende Mehrzahl der deutschen Gymnasialschulstunden."

An wie vielen Gymnasialstunden hat Mosebach im Jahr 2003, in dem dieser Essay erschien, teilgenommen? Man sollte beklagen, dass häufig die Meinung vor dem Wissen kommt. Doch bringt diese Gemeinschaftskunde immerhin zumeist menschenfreundliche Meinungen hervor, während viele der konservativen Pädagogen, die sich den Nazis verweigerten, weil die ihnen zu proletenhaft vorkamen, kriegstaugliche Parolen verbreiteten. Mosebach überzeugt, etwa wo er im gleichen Essay konkrete Erinnerungen gibt. Die waffenklirrender Politik so gar nicht dienstbare Wahrnehmung schweißdünstender Turnhallen gehört im Schulischen in diesen Bereich. Dagegen gerät er auch sprachlich unter sein Niveau, wo er politisiert und seinen Ressentiments freien Lauf lässt. In einer Rede auf Walter Kempowski anlässlich der Verleihung des Heimito-von-Doderer-Preises irritiert nicht nur die Klage "über das, was dem Hauptmann von Doderer an diesen Orten widerfuhr", im Zweiten Weltkrieg nämlich. Es hätte den Rang von Doderers Werk nicht beschädigt, wenigstens zu bedenken, dass den Opfern der Armee, der Doderer angehörte, noch ganz andere Sachen widerfuhren, wie auch, dass Doderer eine Zeit lang den Nazis durchaus nicht fern stand. Unfrieden aber bringt aus Mosebachs Sicht erst der Bolschewik: der "geschützte Raum" von Doderers Tagebuch in Kempowskis "Echolot" "wird von den Kriegsereignissen überflutet wie das lange unberührt gebliebene Ostpreußen von den Truppen der Roten Armee."

Die gängige Flutmetapher verweist auf das gedankenlose Nachplappern eines deutschen Opfermythos. Dass, wie im Restreich, in Ostpreußen vor 1944/45 Juden, Kommunisten und wer sonst noch den Nazis nicht passte, gemordet wurden, verschwindet in der Behauptung, der Landstrich sei unberührt geblieben (statt hervorzuheben, dass er endlich befreit wurde).

Der Unfall ist kein Zufall. Das zeigt sich auch im Lob für Botho Strauß, des Verkünders völkischen Blutopfers, und da explizit nicht allein des Theaterautors, sondern auch des politischen Denkers. Vor allem zeigt es der früheste Text des Bandes, über den kolumbianischen Autor Nicolás Gómez Dávila, den eben jener Strauß in Deutschland propagiert hat. Der Essay ist eine distanzlose Apologie dieses bekennenden "Reaktionärs". Reaktionär, und nicht konservativ, will Dávila sein, weil es in der Gegenwart nichts zu bewahren gibt: "Die Konservativen der Gegenwart sind nichts anderes als von der Demokratie mißhandelte Liberale", meint er, und zum Demokraten: "Die höchste Weisheit des Reaktionäres bestünde darin, selbst für den Demokraten noch einen Platz zu finden."

Das bezeichnet keine Toleranz, sondern eine gesellschaftliche Rangordnung, die im scheinbar Unpolitischen sich zu bekräftigen meint: "Lange Zeit war Gómez Präsident des nach Pariser Vorbild geführten Jockey-Club, der die alte Oberschicht des Landes versammelt und noch niemals eine politische Veranstaltung in seinen Mauern zugelassen hat." Explizit zu politisieren ist auch gar nicht notwendig, wo die Neureichen draußen bleiben müssen und die Armen ohnehin nicht zählen. Es versteht sich dort von selbst, wie und in wessen Interesse der Staat zu führen ist.

Im Luxus dieser alten Oberschicht mag eine "katholische Philosophie der Desillusionierung" attraktiv erscheinen: "Nicht mehr vom Leben erwarten, als es geben kann, nicht mehr von menschlichen Wesen, als sie geben können; auf den Tod schauen um dessentwillen, was das Leben nicht geben kann." Von unten gesehen mag dagegen die Frage, ob nicht vielleicht das Leben doch mehr geben könne, sinnvoll erscheinen; und selbst menschliche Wesen mögen unter besseren Bedingungen mehr geben können als gegenwärtig. Von möglichem Fortschritt mag der bekennende Reaktionär Mosebach aber nichts wissen.

So bleibt auch sein Einsatz für Peter Hacks, der als einziger deutschsprachiger Autor im Buch aus dem Bereich des Konservativ-Reaktionären herausfällt, zwiespältig. Es leuchtet ein, dass Hacks' klassizistische Dramenästhetik dem Anti-Modernen Mosebach gefällt. Doch deutet er allzu leichtfertig Hacks in einen Reaktionär der eigenen Schattierung um, dem es lediglich um "Staat, Ordnung, Harmonie und ein erzogenes und gebildetes Volk" gegangen sei. Das für Hacks all dies kein Selbstzweck war, sondern Mittel zu einem Fortschritt für alle und nicht für eine Elite im "Jockey-Club", das fehlt in dieser einseitigen und vereinseitigenden Aneignung.

Die Blindstelle verweist auf das grundlegende Manko des Buches: die Abwesenheit von Geschichte, die als solche begriffen ist. Zwar taucht sie auf, als äußerer Schreibanlass oder als Bedrohung. Wie aber das Schöne von "Schöner Literatur" gerade durch die Auseinandersetzung mit historischen Widersprüchen entstehen kann, das entgleitet Mosebach. Zwar nimmt er so absolute Schönheiten wahr, die man in der Perspektive geschichtlicher Relativierung vielleicht übersähe. Doch besteht für ihn Literatur nur, indem sie sich dem historischen Konflikt entzieht, statt ihn im Werk auszutragen. Diese Sichtweise rächt sich doppelt: einmal, weil so Mosebach wesentliche Qualitäten der Dichtung entgehen, zum Anderen aber, weil der verdrängte Konflikt wiederkehrt. Das sind die dummen, auch die sprachlich missglückten Sätze in Mosebachs Sammlung, die nach außen kehren, was von der schönen Kunst ihr Autor nicht begriffen hat.


Titelbild

Martin Mosebach: Schöne Literatur. Essays.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
236 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446207112

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