Es geht um Kafka

Zu einem offenen Protestbrief an den Präsidenten der deutschen Forschungsgemeinschaft

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Empörung ist groß. An die fünfhundert Wissenschaftler und Schriftsteller aus aller Welt scheinen sie zu teilen. Sie unterzeichneten einen offenen Brief an den Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der am 12. Oktober geschrieben und am 18. verschickt wurde. Die Liste der Namen ist beeindruckend. Sie reicht von der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek über den Literaturwissenschaftler Peter von Matt bis hin zu renommierten Editionsphilologen wie Hans Zeller.

Es geht um Kafka, genauer: um die seit 1997 im Stroemfeld Verlag erscheinende "Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte". Die Herausgeber Roland Reuß und Peter Staengle hatten im Dezember 2005 einen Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft gestellt, die Fortführung der Ausgabe durch Finanzierung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters und zweier Hilfskräfte über zwölf Jahre hinweg zu fördern. Der Antrag wurde mit einem Schreiben der DFG vom 4. Oktober 2006 abgelehnt. Der ablehnende Bescheid endet mit dem Satz: "Zu den Gründen, die zur Ablehnung Ihres Antrages geführt haben, werde ich Ihnen noch einige schriftliche Hinweise geben."

Diese Hinweise mochten die Betroffenen nicht abwarten. Und betroffen von der DFG-Entscheidung zeigten sich nicht nur die Antragsteller. Am 12. Oktober verbreiteten ihre Schweizer Kollegen Wolfram Groddeck, Herausgeber der Historisch-Kritischen Robert-Walser-Ausgabe, und Walter Morgenthaler, Herausgeber der Historisch-Kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe, eine Presseerklärung. Sie ist - wie inzwischen etliche andere Dokumente zu dem Fall - auf der Homepage (www.textkritik.de) des Heidelberger Instituts für Textkritik nachzulesen, dem die Unterzeichner wie die Herausgeber der Kafka-Ausgabe angehören. Wenig später zirkulierte durch die an Kafka interessierte Welt jener nun veröffentlichte Brief an den Präsidenten der DFG, der die Ablehnung zur "wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Katastrophe" erklärt. Zu den Erstunterzeichnern gehörten neben Jelinek unter anderen der US-amerikanische Schriftsteller Louis Begley und der in Chicago lehrende Literaturwissenschaftler David Wellbery. Der Brief hat folgenden Wortlaut:

"Mit Überraschung und äußerst befremdet haben wir die Meldung zur Kenntnis genommen, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Förderung der historisch-kritischen Franz Kafka-Ausgabe abgelehnt hat.

Die Ausgabe wurde 1995 von Roland Reuß und Peter Staengle in Zusammenarbeit mit dem Stroemfeld Verlag ohne jede öffentliche Förderung begonnen und umfaßt bis heute fünf umfangreiche Bände. Sie hat im letzten Jahrzehnt weit über die Grenzen der Kafka-Forschung hinaus der neueren Philologie bedeutende Impulse gegeben und im In- und Ausland - selbst von anfänglich skeptischen Beobachtern - große Anerkennung erfahren.

Wie neuere wissenschaftliche Arbeiten zeigen, ist sie für die Erschließung des Kafkaschen Werkes unverzichtbar: Sie ist die Grundlage jeder künftigen Erforschung dieser einzigartigen Dichtung in deutscher Sprache. Es wäre eine wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Katastrophe, wenn es bei der ablehnenden Entscheidung der DFG bliebe.

Wir bitten die DFG mit Nachdruck, die für uns unverständliche Entscheidung zu überdenken. Die historisch-kritische Kafka-Ausgabe verdient eine faire Begutachtung, die auch avancierte Ansätze in Editionstheorie und Praxis berücksichtigt."

Dass dieser offene Brief innerhalb kürzester Zeit so zahlreiche und renommierte Mitunterzeichner gefunden hat, darüber könnten sich zumindest Philologen zusammen mit Roland Reuß und Peter Staengle eigentlich nur freuen. Seit wann hat eine jener "Historisch-kritischen Ausgaben", denen man gerne nachsagt, dass sie nur für wissenschaftliche Bibliotheken und für Spezialisten gemacht sind, eine so breite öffentliche Sympathiebekundung erlebt. Natürlich liegt das nicht nur an den editorischen Leistungen, sondern vor allem an Franz Kafka, einem der wenigen deutschsprachigen Autoren von wirklich weltliterarischem Rang. Aber zu den Qualitäten dieser Ausgabe gehört es gerade, dass sie uns mit ihren kontinuierlich fortschreitenden Präsentationen von Kafkas Handschriften eine physische Nähe zu dem Autor verschafft wie keine andere. Und manchem Kommentar der Herausgeber gelingt es, diese Nähe durch subtile Beobachtungen zu Kafkas Schrift und zu dem aus den Handschriften rekonstruierbaren Prozess seines Schreibens noch zu intensivieren (vgl. die Rezension in literaturkritik.de Nr 05/2000).

Vielleicht folgt die nun so massiv bekundete Sympathie mit der gefährdeten Ausgabe jedoch noch einem anderen Mechanismus: einer latenten Identifikation mit Kafka und zugleich mit seinen Herausgebern, die sich im ohnmächtigen Kampf um Selbstbehauptung einem übermächtigen bürokratischen Apparat gegenübergestellt sehen, in diesem Fall also der DFG. Hier zeigt sich eine unerfreuliche Seite der Protestaktion. Der offene Brief an den obersten Herren der Behörde benennt die Schuldigen. Er fordert "eine faire Begutachtung" und nimmt damit zumindest andeutend auf, was die vorangehende Presseerklärung noch ganz direkt anspricht: "Nach Ansicht der beiden Herausgeber kann die Ablehnung wohl nur auf die Voreingenommenheit der anonym bleibenden Gutachter zurückgeführt werden." Die Unterstellung verwickelt die spontane Protestaktion in jene verbissenen Feindschaften, die unter Editionsphilologen besonders vehement ausgetragen werden. Noch ohne etwas über die Argumente der beiden Gutachter zu wissen, zeigt man sich sicher, dass sie voreingenommen und unfair sind, dass hier Sympathisanten der Kritischen Kafka-Ausgabe des S. Fischer Verlages ihre Hände im Spiel haben - einer Ausgabe übrigens, die von der DFG gefördert wurde.

Fast zum gleichen Zeitpunkt, in dem der Protestbrief an die Öffentlichkeit ging, erhielt Reuß einen zweiten Brief von der DFG, in dem, wie angekündigt, die Gründe der Ablehnung zusammengefasst waren. In Relation zu den rund einer Millionen Euro, die die Förderung über zwölf Jahre hinweg kosten würde, erscheint den Gutachtern der Mehrwert an Erkenntnis, den die Ausgabe gegenüber der weitgehend abgeschlossenen Ausgabe bei S. Fischer erbringt, zu gering. Fraglich finden sie weiterhin, ob die Höhe der beantragten Förderung dem Arbeitsaufwand entspricht.

Darüber kann mit Argumenten gestritten werden, aber besser nicht mit Unterstellungen und vorschnellen Protestaktionen, geboren aus der Empörung, die jeder kennt, der einmal mit einem derartigen Antrag gescheitert ist und dabei paranoide Fantasien entwickelt hat. Doch um nicht missverstanden zu werden: Ich selbst halte die Einschätzung der Gutachter für falsch und die Ablehnung in dieser Form für eine fatale Fehlentscheidung. Jede der beiden Kritischen Kafka-Ausgaben hat ihre eigenen Verdienste und beide ergänzen sich gegenseitig auf produktive Weise (vgl. literaturkritik.de Nr. 03/2002). Bei einem Autor wie Kafka bedarf die Unterstützung von gleich zwei Ausgaben, wenn sie so unterschiedlich sind, nicht einer besonders skrupulösen Legitimation. Die Reaktionen zeigen, was Kafka und was die Faksimile-Editionen des Stroemfeld Verlages der Öffentlichkeit wert sind, die Unterstellungen, die dabei im Spiel sind, verhindern hoffentlich nicht, dass ein erneutes Antragsverfahren, bei der DFG oder einer anderen Institution, Erfolg hat.


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Franz Kafka: Der Process. Faksimile-Edition. 16 einzeln geheftete Entwurfs-Kapitel zusammen mit Franz Kafka-Hefte 1 und CD-ROM.
Herausgegeben von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
700 Seiten, 199,00 EUR.
ISBN-10: 387877494X

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Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes. Faksimile-Edition mit CD-ROM.
Herausgegeben von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle und Joachim Unseld.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
177 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-10: 3878774966

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Franz Kafka: Oxforder Quartheft 1 & 2. Faksimile-Edition. 2 Bände, zusammen mit Franz Kafka-Hefte 3 und CD-ROM.
Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
454 Seiten, 114,00 EUR.
ISBN-10: 3878775024

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Franz Kafka: Die Verwandlung. Faksimile-Edition. Zusammen mit Franz Kafka-Hefte 4 und CD-ROM. Beigelegt: Franz Kafka "Die Verwandlung" (Faksimile der Erstausgabe im Kurt Wolff-Verlag 1915).
Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt 2003.
200 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-10: 3878775040

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Franz Kafka: Oxforder Oktavheft 1 & 2. Faksimile-Edition. 2 Bände, zusammen mit Franz Kafka-Hefte 5 und DVD. Beigelegt: Franz Kafka "Ein Landarzt" (Faksimile der Erstausgabe im Kurt Wolff-Verlag 1919).
Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
322 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-10: 3878779380

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