Alles Komische hilft mir

Zum 85. Geburtstag der Schriftstellerin Ilse Aichinger

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich kann dort schreiben, ich kann machen, was ich will und bin dort ein Stück des Hauses." So beschreibt die Wiener Schriftstellerin Ilse Aichinger ihr Stammcafé, das sie fast täglich aufsucht und in dem die kleinen Feuilletons ihres letzten Buches "Unglaubwürdige Reisen" (2005, vgl. literaturkritik.de Nr. 02/2006) entstanden sind.

"Eines Tages meldete sich bei uns, auf Empfehlung des Wiener Kritikers Hans Weigel, ein bildschönes, dunkelhaariges Mädchen, krampfhaft ein Papierbündel unter dem Arm haltend." So lauteten die Erinnerungen des Verlegers Gottfried Bermann-Fischer an seine erste Begegnung mit der jungen Ilse Aichinger. Hinter dem "Papierbündel", das die Autorin beim Treffen 1947 in Wien mit sich trug, verbarg sich das Manuskript ihres bis heute einzigen Romans "Die größere Hoffnung", der ein Jahr später bei Fischer publiziert wurde.

Ein Buch zwischen Hoffen und Bangen, das um das Schicksal eines jüdischen Mädchens während der Nazi-Zeit kreist. In ihrem literarischen Debütwerk hat Ilse Aichinger nicht zuletzt ihre eigene bewegte Kindheit - leicht verfremdet - aufgearbeitet und gleichermaßen subjektive, wie kollektive literarische Trauerarbeit geleistet.

Ilse Aichinger, die vor 85 Jahren in Wien als Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin geboren wurde, hatte unter dem Stigma des "Mischlingskindes" erheblich zu leiden. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland lebte sie völlig isoliert von der Öffentlichkeit, das angestrebte Medizinstudium wurde ihr verwehrt, und sie musste miterleben, wie viele nahe Verwandte von der Gestapo deportiert und später ermordet wurden. Ihre Zwillingsschwester Helga war frühzeitig nach London geflüchtet, wo sie noch heute lebt.

Die schlimmen Erfahrungen aus Kindheit und Jugend haben sich nachhaltig auf die späteren literarischen Werke ausgewirkt. "Vielleicht schreibe ich nur deshalb, weil ich keine bessere Möglichkeit zu schweigen sehe", hatte Ilse Aichinger 1971 bei der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises erklärt.

Der literarische Durchbruch war ihr 1952 gelungen, als sie auf der Tagung der legendären Gruppe 47 nach der Lesung ihrer "Spiegelgeschichte" frenetisch gefeiert und als Nachfolgerin von Heinrich Böll und ihres späteren Ehemannes Günter Eich als dritte Preisträgerin der "meinungsbildenden" Elitegilde gekürt wurde.

Die radikale Verknappung der Texte, die beinahe lakonische Sprache und der sezierende Blick hinter die Fassaden menschlicher Antlitze prägten die Aichinger'schen Werke. Das passt vorzüglich zu den Lektürevorlieben der Schriftstellerin: "Ich lese immer wieder Joseph Conrad. Obwohl mich weder die Gegenden noch die Handlungen seiner Romane im geringsten interessieren. Aber es ist für mich eine solche Faszination, dass da kein einziger unnützer Satz steht." Hartnäckig hat Ilse Aichinger, die zuletzt 1995 den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur und 2000 den Joseph-Breitbach-Preis erhielt, allen literarischen Trendwenden der letzten Jahrzehnte die kalte Schulter gezeigt.

Respektable Erfolge hatte sie mit ihren zahlreichen Hörspielen, die ihr (und ihrem 1972 verstorbenen Ehemann Günter Eich) das materielle Überleben sicherten. Nach dem Unfalltod ihres ebenfalls als Schriftsteller tätigen Sohnes Clemens Eich im Februar 1998 hat sich die Autorin aus der literarischen Öffentlichkeit fast völlig zurückgezogen.

"Alles Komische hilft mir und macht mich glücklich. Im Kino und überall", erklärte die leidenschaftliche Cineastin. Ihre häufigen Kinobesuche dienen aber auch dazu, um die "Zeit totzuschlagen, weil mir das Leben schon viel zu lange dauert", erklärte Ilse Aichinger.


Titelbild

Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen.
Herausgegeben von Simone Fässler und Franz Hammerbacher.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
187 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3100005279

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