Grenzgebiet Mensch

Mit einer Prise Hoffnung erzählt Ralf Rothmann in "Rehe am Meer" vom Sterben, Misserfolgen und Einsamkeit

Von Agnes KoblenzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Koblenzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss täglich mit ihr leben: mit der Angst, plötzlich von einem Schicksalsschlag getroffen zu werden. Weitaus schwieriger ist es aber, den Alltag nach einem solchen Ereignis zu meistern. Doch unabhängig davon, was passiert - wie Ralf Rothmann in seinem jüngst erschienenen Erzählband "Rehe am Meer" als Botschafter menschlicher Tragödien versichert - mit einem persönlichen Verlust geht die Welt noch lange nicht unter.

Eine geschiedene Frau versucht von den glücklichen Erinnerungen los zu kommen. Ein Mann belügt sich und die Welt, weil er sich nach einer intakten Beziehung sehnt. Eine dreiköpfige Familie steht plötzlich ohne Frau und Mutter da und muss - wie ein Kranker, der nach einer Beinamputation aufs Neue das Laufen erlernt - ihre Rollen innerhalb des gliedlosen Bundes neu festlegen.

Die Unglücke und Ausbrüche sind bereits passiert, als Rothmanns Beschreibung seiner Figuren einsetzt. Nicht als Zeuge der Handlung, sondern als ein nach Spuren Suchender wird der Leser vor vollendete Tatsachen gestellt. Anhand der spärlichen, doch sprachlich klaren und prägnanten Indizien mag er die Vorgeschichten der Vorfälle rekonstruieren.

Wie aus heiterem Himmel wird man gerade in dem intimsten, unpassendsten Augenblick in die kleinbürgerlichen Wohnzimmer der west- und ostdeutschen Maurer, Alleinerziehenden, Bäcker, Stallburschen oder Arbeitslosen katapultiert, die Rothmann bei den alltäglichen Situationen und über alle Jahreszeiten hinweg begleitet. Scheinbar passiert nicht viel - und dennoch krallen sich die Bilder ratloser Menschen im Gedächtnis fest.

Eine verwahrloste Wohnung, ein brauner Fleck neben der Matratze. Viele Tage lang hat hier der Leichnam einer einsam verstorbenen Frau unentdeckt gelegen. Von ihrer stillen Existenz hatte die junge Nachbarin erst erfahren, als es für eine Bekanntschaft zu spät war.

Andrea hat in den Morgenstunden ihren Mann verloren und will trauern. Kinderstimmen und Alltagsgeräusche lenken sie ab. Ein freundlicher, doch unerbittlicher Mann von der Heizungswartung drängt sich in ihre Westberliner Wohnung hinein, und hält mit ihr ein Plauderstündchen über das immer noch bestehende Berliner West-Ost-Gefälle ab. Dass er selbst die Ostberliner Plattenbauten-Hartherzigkeit überwunden hat, beweist er schließlich indem er der Zusammengebrochenen nicht nur symbolisch unter die Arme greift.

Gestört in seiner Einsamkeit wird ebenfalls der emeritierte Philosophieprofessor, der in ein verlassenes Haus im polnischen Grenzgebiet zieht und ausgerechnet auf einen geselligen und aufdringlichen deutschen Kneipenwirt trifft. Die Gegebenheiten im Nachbarland erlauben es ihm dort, einen bunten Lebensabend zu verbringen. Aus mangelnder Sprach- und Menschenkenntnis fühlt er sich jedoch von den Ostnachbarn in vielerlei Hinsicht bedroht und erhofft wenigstens von seinem Landsmann Anteilnahme. Das Desinteresse und die Zurückgezogenheit des Professors stacheln ihn zu einer Auseinandersetzung an, der der Andere schweigsam zuvorzukommen versucht.

"Das war schon hinter Dormagen, das Land wurde unglaublich weit, und ich dachte an Peru und dass es eigentlich keine Grenzen gibt, oder? Das sind nur Striche im Kopf oder auf dem Papier, das hat nichts mit dem Leben zu tun." Ein Stallarbeiter und Gegner der Tierquälerei erzählt im Zirkusjargon, wie er nach langer Ausbeutung aus einem Zirkus flieht, um endlich in Freiheit zu leben. Von seinem Freund habe er gelernt, "dass einem die Freiheit niemand geben kann. Dann wärs schon keine mehr. Freiheit muss man sich nehmen."

Die Freiheit jenseits der Grenzen nimmt sich auch der Westberliner, der gemeinsam mit Frau und Tochter seinen Urlaub im ehemaligen Osten verbringt, als er mit der attraktiven Hauswirtin intim wird. Diese nimmt gelassen alle Hürden auf sich, die mit der Vermietung ihres Hauses an Sommerurlauber verbunden sind, und weicht - dankbar für diesen Zusatzverdienst - vorübergehend in ein Wohnmobil aus. Ihr Sohn und die Frau des Urlaubers haben allerdings Schwierigkeiten, mit der unnatürlich erzwungenen Nähe zwischen Wirt und Gast umzugehen.

Der Ostseestrand im Winter ist sicherlich ein ungewöhnlicher Platz für Rehe. Ebenso wie der Balkon, auf dem die ehemalige Bewohnerin, eine potenzielle Käuferin vortäuschend, barfuss im nassen Schnee tappt, um ihnen zuzuschauen und ein letztes Mal Abschied von ihren Erinnerungen zu nehmen. Wenn es aber für beide ein beglückender Augenblick ist, inmitten des von Zweifeln und Ängsten bevölkerten Alltags, dann hat er für Ralf Rothmann eine Daseinsberechtigung.

Immer auf der Suche nach kleinen Glücksmomenten und Hoffnungsschimmern, mit einem optimistischen Blick in die Zukunft.


Titelbild

Ralf Rothmann: Rehe am Meer. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
214 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3518418254
ISBN-13: 9783518418253

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