Wer war Brecht?

Frank Thomsen, Hans-Harald Müller und Tom Kindt über die "geistige Physiognomie" eines Ungeheuers

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Leitfrage "Wer war Brecht?" scheint sich das Autorentrio, bestehend aus Frank Thomsen, Hans-Harald Müller und Tom Kindt, in dieser Untersuchung auf ganz dünnem Eis bewegen zu wollen - denkt man doch sofort an den listigen Dichter, der schon vor Jahrzehnten das heute gerne zitierte Bonmot prägte: "Wen immer ihr sucht, ich bin es nicht." Dennoch soll nun genau der gefunden werden, wenngleich nicht auf dem Wege der Autoren-, sondern in Form einer "Biographie seines Werks": Brecht, ebenso widerspruchsvoller Künstler wie kunstvoller Widersprecher, der doch - so heißt es in der allerdings etwas banal erscheinenden Herleitung des Untersuchungsziels - "auf Bildern [...] unschwer zu erkennen" sei. Offensichtlich sind hier Bilder im Sinne von Abbildungen, Fotografien, Gemälden, auch Karikaturen gemeint, deren Bildunterschrift auf "Bertolt Brecht, geboren 1898 in Augsburg und gestorben 1956 in Berlin Ost, Dichter, Stückeschreiber, moderner Klassiker" lautet. Bilder, die sich "50 Jahre nach seinem Tod" beinahe beliebig ergänzen lassen durch das "Detailwissen" aus einer ungeheuren Anzahl zum Teil äußerst umfangreicher biografischer Darstellungen - die sich zuweilen nicht scheuen, auch Ungeheuerliches zu verbreiten; das ebenfalls genannte Machwerk John Fuegis kann hier keine repräsentative Stellung einnehmen, da der Sachgehalt in keinem Verhältnis zum Umfang steht. Die ungeachtet der Sachdienlichkeit einer derartigen Informationsflut "zunehmende Diffusion des Gesamtbildes" ist den Autoren der vorliegenden Untersuchung Anlass, sich an der Komposition eines solchen zu versuchen.

Ihre Zuversicht in das Gelingen des Unternehmens ist zumindest zweideutig: Die selbstbewusste Ankündigung, die eingangs aufgeworfenen Fragen nach dem "integrativen" Brechtbildnis zuverlässig zu beantworten (und nicht, wie es in der Rhetorik von Vorworten weitaus üblicher erscheint, 'nur' einen Deutungsvorschlag zu unterbreiten) scheint mit dem wenig spektakulären Fazit, hier einen "neuen Typus des Klassikers: ungeheuer Brecht" umschrieben zu haben, nur unzureichend eingelöst. Zweifellos ist dieser als "nicht mutig[er], sondern listig[er]", in jedem Fall "eigensinniger Künstler" zutreffend charakterisiert, "kein Politiker, sondern ein Theoretiker", darauf wird abschließend noch einmal - und zwar zu Recht - der Schwerpunkt gesetzt: Keiner der "neuen und andersartigen Akzente", wohlgemerkt, die hinsichtlich der Theorie der Brecht'schen Werkentwicklung im Vorwort angekündigt werden, so doch eine wesentliche Prämisse für die nachfolgende Werkbetrachtung.

Diese verfolgt den Werdegang des Dichters Brecht anhand des Stückeschreibers Brecht, eine pragmatische Entscheidung, die auch dem vom Autor lancierten Selbstbild entspricht, aber dennoch den Theoretiker Brecht - zwar nicht dem des Dramas, sondern mehr den Theoretiker (und Praktiker) einer eingreifenden und damit politischen Literatur - in den Hintergrund rücken lässt. "Problemlösungsversuche im Medium der Theorie" werden kurz und knapp eingeschoben, weite Teile der bezeichnenderweise fragmentarischen Prosa, die das gestische Prinzip aus der Theaterpraxis zu adaptieren suchen, bleiben hier, bis auf den Fall Herrn Keuners, der als ehemalige Lehrstückfigur dieses Verfahren gewissermaßen inkarniert, unberücksichtigt. "Keuner ist die Personifikation des analytischen Verstandes, der es versteht, alle Problemfälle des menschlichen Lebens rational zu lösen und für die Revolution nutzbar zu machen" - und darin durchaus eine literarische Projektionsfläche von Brechts intellektuellem Selbstverständnis, das einen wertvollen Schlüssel zu "Wer war Brecht?" birgt.

Thomsen, Müller und Kindt beginnen ihre Analyse mit dem ersten greifbaren Individuum, dem Dichter Baal, und verfolgen dieses über seine demonstrative Auflösung im Kollektiv hinaus bis zu seiner 'Wiederbelebung' in der Gestalt des Dorfschreibers Azdak: von der Inszenierung eines 'systemkonformen' Asozialen aus dem letzten Kriegsjahr des Ersten bis zu dem listigen Richtspruch Keuners im vorletzten Jahr des Zweiten Weltkriegs. In einem chronologischen Durchmarsch durch zwanzig repräsentative Stücke wird stellvertretend für das Menschenbild des Autors die Entwicklung der handlungstragenden Figuren beleuchtet - entstanden ist eine Reihe erhellender und doch, wie es dieser relativ weite Blickwinkel gebietet, notwendigerweise knapp gefasster Textanalysen, die sich fast wie eine Stückeinführung nach dem Muster eines Handbuchs lesen.

Bezeichnenderweise zeigt sich dies etwa im Kapitel zu "Mann ist Mann" in einem offenbar gezielt unvoreingenommenen Deutungsversuch dieser Titelbehauptung, mit der "sicher nicht gemeint ist, daß ein Mann wie der andere ist". Wohl würde eine solche programmatische Aufhebung des Individualitätsgedankens auch das "Wer war Brecht?"-Konzept der Untersuchung untergraben, zuerst jedoch stellt dieser Ansatz auf etwas unbeholfene Weise den Dialektiker in Frage, der sich - per definitionem - einer eindeutigen Be-Deutung seiner Worte verweigert. Die Suche nach dem, "was gemeint ist" erweist sich in diesem Fall denn auch nicht als unzutreffend, verbirgt es sich doch in der Analogie zum "Materialwert" jenes "wie ein Auto ummontiert[en]" Menschen, der damit erwiesenermaßen und im sichtbaren Widerspruch zur Titelthese genau das verliert, was eine Frage "Wer war Brecht?" im anderen Fall aufzudecken verspricht.

Obgleich diese Ankündigung (wenn nicht provokant-ironisch gemeint) wenig überzeugend erscheint, weil sie einen Eindeutigkeitssanspruch suggeriert, dem Brecht sich systematisch zu verweigern suchte, gelingt den Autoren ein kohärentes Porträt eines wesentlichen und wohl des meistrezipierten, nämlich des dramatischen Teils des Brecht'schen Werks. Aus dem brüllenden und dem sich verleugnenden, dem rücksichtslosen und dem tugendhaften, schließlich dem im Rollenspiel taktierenden Individuum, das die Stücke aus über zwanzig Jahren spiegeln, spricht ein vielstimmiges Ungeheuer Brecht, zu dem dieses Buch eine aufschlussreiche Ein- bzw. Hinführung bieten kann - nicht zuletzt weil es, das mag durchaus beabsichtigt sein, an markanten Stellen einen Widerspruch herausfordert.


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Frank Thomsen / Hans-Harald Müller / Tom Kindt: Ungeheuer Brecht. Eine Biographie seines Werks.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006.
330 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3525208464

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