Fortschritte durch Bologna?

"Kerncurriculum BA-Germanistik" - Georg Meins Dokumentation einer Bielefelder Tagung

Von Heinrich KaulenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Kaulen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Umsetzung des Bolognaprozesses ist an den meisten deutschen Universitäten auf beträchtliche Widerstände gestoßen. Die Skepsis gegenüber der von der staatlichen Bildungspolitik oktroyierten Reform, den teilweise sehr engen bürokratischen Vorgaben und ihre hastige Umsetzung zu Lasten gut eingeführter 'älterer' Studiengänge war und ist groß und hat in nicht wenigen Fachbereichen zu einer Verweigerungshaltung geführt, welche die Realisierung der neuen modularisierten Studiengänge dem Zufall, nervenaufreibenden und unnötig viel Energie absorbierenden Gremienkämpfen oder der Initiative von wenigen Einzelkämpfern überließ.

Gegen den Kulturpessimismus, der im Zuge des Bolognaprozesses an den deutschen Universitäten Einzug gehalten hat, richtet sich der vorliegende schmale Band zum "Kerncurriculum BA-Germanistik". Zwar ist im Untertitel von den "Chancen und Grenzen des Bologna-Prozesses" die Rede, doch ist die Auslotung der "Chancen" in den dann folgenden Beiträgen, die auf eine Bielefelder Tagung im Januar 2006 zurückgehen, eindeutig überrepräsentiert. Gegen die lautstarke Schar der Kritiker und Skeptiker wird eine Perspektive eröffnet, welche den Bolognaprozess - trotz all seiner Mängel - in erster Linie als Chance für eine Reorganisation und Neustrukturierung der kulturwissenschaftlichen Disziplinen begreift und ganz konkrete, pragmatische Vorschläge für eine produktive Umsetzung der Bologna-Strukturen entwickelt. Es ist sicher kein Zufall, dass neben einem Vertreter des DAAD, der sich schon früh auf die Seite der 'Reformer' geschlagen hat, vor allem Bielefelder Wissenschaftler zu Wort kommen, die im Rahmen eines Modellprojekts seit Ende der 1990er Jahre die Vorbereitung und Ausgestaltung der neuen Studiengänge konsequent in Angriff genommen haben. Erfahrungsberichte aus anderen Universitäten hätten sich wahrscheinlich zum Teil anders angehört.

In seinem Einführungsbeitrag beklagt Georg Mein zu Recht den anhaltenden Widerstand der Geisteswissenschaften gegenüber allen pragmatischen Zwecksetzungen, der dazu tendiert, sich abzeichnende Funktionsverluste und Marginalisierungstendenzen geradezu als "Signum des Außenseitertums" zu nobilitieren. In den bildungspolitischen Zwängen, die sich hinter dem Stichwort "Bolognaprozess" verbergen, sieht Mein vor allem die Chance, die Bildungs- und Ausbildungsziele der beteiligten Fächer einmal radikal auf den Prüfstand zu stellen und neu zu reflektieren. Voraussetzung dafür sei freilich, dass dabei nicht nur alter Wein in neue Schläuche gefüllt werde oder lediglich trendige Labels von - wie er es treffend nennt - "programmatische[r] Unschärfe" entworfen würden, die ihre inhaltliche Dürftigkeit hinter modischen Etiketten wie 'Medien', 'Kommunikation' oder 'Europa' mühselig zu kaschieren suchen. Vor allem die Germanistik sieht Mein aufgrund ihrer Stellung im Fächerspektrum und ihrer Tradition durch derartige Verlockungen gefährdet.

Als Philologie, die sich seit ihren Anfängen über spezifische nationale Identitätsprogramme definiert, steht sie den Internationalisierungs- und Europäisierungsbestrebungen per se mit einer gewissen Distanz gegenüber. Definiert sie sich zum Ausgleich jedoch über neue Allgemeinbegriffe (wie etwa "Kultur" oder "Medienkultur"), gerät sie sofort mit ihren herkömmlichen Kernkompetenzen in Konflikt. Weitere Probleme ergeben sich aus der innerfachlichen Separierung und Ausdifferenzierung sowie aus dem Gegensatz zwischen dem traditionellen Selbstverständnis der Fächer und ihrer Teilgebiete und den bürokratischen Vorgaben der staatlichen Hochschulpolitik. Die Lösung sieht Mein in der Entwicklung eines Kerncurriculums, das wenigstens die Mindeststandards einer wissenschaftlichen Ausbildung verbindlich formuliert und im Rahmen der Bolognareformen durchzusetzen sucht. Nur am Rande erwähnt er die Defizite der bisherigen Studiengänge, vor allem ihre "enorm hohen Abbruchquoten" und die Misere auf dem Arbeitsmarkt der Studienabsolventen.

Werner Roggausch vom DAAD nimmt im Blick auf diese Fragen kein Blatt vor den Mund. Er proklamiert, ohne um den heißen Brei herumzureden, die Abkehr von der "illusionären Bildungspolitik" der vergangenen Jahrzehnte. Die Universitäten sollten sich, statt überholten Idealen einer elitären Wissenschaftsrepublik nachzutrauern, endlich illusionslos ihre alten Schwächen bewusst machen und sich den neuen Herausforderungen stellen: Eine hohe Abiturquote mit vielen deutlich leistungsschwächeren Studienanfängern und eine ebenso hohe Studierquote von 40% eines Jahrgangs verlange die Abwendung von der Fixierung auf wenige Spitzenbegabungen und eine völlige Neuausrichtung der universitären Lehre.

Heraus kommt dabei eine universitäre Zwei-Klassengesellschaft, die an die uralte Hierarchisierung von Proseminaren und Oberseminaren erinnert: einerseits die breite Masse der weniger qualifizierten Bachelor-Studenten, die aber nach sechs Semestern nicht mehr nur ein Zwischenprüfungszeugnis, sondern einen berufsqualifizierenden akademischen Abschluss (samt Titel) besitzen sollen, andererseits die kleine Minorität der handverlesenen Master-Studierenden, mit denen die Lehrenden ihre Vision von der Arbeit mit den höher Begabten und wissenschaftlich Qualifizierten endlich auch in die Tat umsetzen können.

Zum Ausgleich für das breite Mittelmaß winkt den Skeptikern unter den Lehrenden am Ende die Arbeit mit einer schmalen Elite. Ob die Lehrenden an diese Vision wirklich glauben können und den - recht hohen - Preis dafür tatsächlich zahlen wollen? Und ob die BA-Zeugnisse, die die Mehrzahl der Studierenden nach sechssemestrigem Massenstudium in Händen hält, das Papier wert sind, worauf sie gedruckt sind? Zweifel sind angebracht, zumal man angesichts der vorgeschlagenen Selektions- und Hierarchisierungskonzepte von einer 'Demokratisierung' von Bildungsprozessen kaum sprechen kann.

Denn die neue Klassengesellschaft wird sich, wie es unmissverständlich heißt, auch in der Arbeitswelt fortsetzen, ist es doch "handgreiflich illusionär, zu erwarten, für 35-40% eines Jahrgangs könnten berufliche Spitzenpositionen mit entsprechendem Gehaltsniveau bereit stehen." Für die Träger des BA-Titels ist in Zukunft Bescheidenheit angesagt; ihre Chancen werden, so wird unterstellt, durch den Arbeitsmarkt von selbst auf gerechte Weise geregelt. Warum brauchen Sie dann mehr als ein bescheidenes und durchschnittliches Wissen?

Roggausch argumentiert sehr offen und redet Klartext. In der Debatte um die konsekutiven Studienmodelle ist das leider immer noch die Ausnahme. Aber die von ihm vorgeschlagene Verlagerung der Wissenschaftsorientierung von der primären auf die sekundäre Studienphase und die Ausrichtung des BA-Studiums auf anwendungsbezogene Grundqualifikationen auf "mittlerer Höhe" lösen die Probleme nicht und widersprechen dem begründeten wissenschaftlichen Selbstverständnis der deutschen Universität. Der "Qualitätsverlust", den er für das Abitur aufgrund des sinkenden Anspruchsniveaus mit Recht konstatiert, wird durch das von ihm vorgeschlagene konsekutive Studienmodell nur in die erste BA-Studienphase hineinverlagert.

Hier sollen den Studierenden hauptsächlich jene "Grundqualifikationen" vermittelt werden, welche die Arbeitswelt braucht, und außerdem jene Kompetenzen "nachgeliefert" werden, deren Vermittlung die Schule seit einiger Zeit versäumt hat (und beim Abitur nach zwölf Jahren künftig noch stärker versäumen wird), nämlich die "Beherrschung der deutschen Sprache", die "Allgemeinbildung" und die "Wissenschaftspropädeutik". So berechtigt die Kritik an den in der Tat allzu lange ignorierten Defiziten der 'alten' Studiengänge sein mag - die Erwartung, dass ausgerechnet ein primär kompensatorisch und propädeutisch ausgerichtetes Bachelor-Studium "die zum Teil sehr schwachen Leistungen der Absolventen" wirksam beheben könnte, sind illusionäres Wunschdenken. Die Probleme der Universitäten liegen ganz anderswo: in ihrer Überlastung durch Studentenmassen trotz begrenzter Personalkapazitäten, ihrer chronischen Unterfinanzierung und ihrer bürokratischen Dauergängelung - und sie sind nur auf diesen Ebenen zu lösen.

Während Roggausch den bildungspolitischen Kontext des Bolognaprozesses thematisiert und daraus dezidierte hochschulpolitische Forderungen ableitet, sind die weiteren Beiträge des Tagungsbandes hauptsächlich auf innerfachliche Fragen und Perspektiven der germanistischen Teildisziplinen konzentriert. Für die Literaturwissenschaft (Rolf Parr), die Lingustik (Rüdiger Weingarten) und die Mediävistik (Hans-Jochen Schiewer) werden jeweils ganz konkrete Modelle entwickelt, die entscheidende Grundfragen ansprechen und der Umsetzung der Bologna-Vorgaben nützliche Anregungen geben können. Den Abschluss bildet ein Beitrag von Klaus-Michael Bogdal, der den Bologna-Prozess gerade als Chance für die zwischen fachwissenschaftlichen Ansprüchen und pädagogischen Zielsetzungen hin- und hergerissene Fachdidaktik begreift. Bogdal sieht die fachliche Anbindung der Bereichsdidaktiken an ihre jeweiligen wissenschaftlichen Bezugsfelder durch die Reformbemühungen gestärkt und entwickelt anregende Ideen für das Selbstverständnis einer künftigen Literaturdidaktik, die sich nicht länger als Anhängsel der Pädagogik, sondern als integraler und eigenständiger Teilbereich der germanistischen Literaturwissenschaft begreift.

Am Ende des Bandes steht der Entwurf eines "Kerncurriculums BA-Germanistik", der im Blick auf die bereits vollzogene Umstrukturierung der meisten Studiengänge vielleicht etwas zu spät kommt und sicher von Ort zu Ort stärker zu variieren wäre, aber dennoch erwägenswerte und größtenteils plausible Vorschläge für die Verständigung über "Kernkompetenzen" und "Schlüsselqualifikationen" nach der Wissenschaftslogik der beteiligten Disziplinen liefert. Das Konzept demonstriert, dass auch unter den restriktiven Bedingungen des Bolognaprozesses durchaus ein anspruchsvolles, aktuellen Wissenschaftsansprüchen genügendes Fachstudium möglich ist - sofern, was in diesem Kontext nicht thematisiert wird, die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Etwas zu weit geht freilich der Versuch, selbst die Leistungspunkte für die Lehrveranstaltungstypen vorab festzulegen.

Man fragt sich bei der Lektüre des Buches, wie künftige Leser, etwa in zehn Jahren, die Thesen und Erwartungen, die hier festgehalten sind, aufnehmen werden. Die Kritik an der inhaltlichen Beliebigkeit, mangelnden Strukturierung und den vielerorts allzu lässig gehandhabten Leistungsanforderungen der dann längst überholten Magisterstudiengänge wird vermutlich von vielen geteilt werden. Aber wahrscheinlich werden auch nicht wenige den Kopf schütteln über die euphorischen Erwartungen, die manche Akteure des Bolognaprozesses mit ihrem eigenen Reformwerk verbunden haben. Wenn sich von den proklamierten und versprochenen Zielen - der Reintegration der Teilfächer, der Reorganisation der Forschung und der Verbesserung der Fachkommunikation durch verstärkte Kooperation - bis dahin auch nur Einiges verwirklichen ließe, wäre schon viel gewonnen.


Titelbild

Georg Mein (Hg.): Kerncurriculum BA-Germanistik. Chancen und Grenzen des Bologna-Prozesses.
Transcript Verlag, Bielefeld 2006.
90 Seiten, 11,80 EUR.
ISBN-10: 3899425871

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