Vom Dichten und Zeugen

Drei Sammelbände zur 'Generation' in Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat sich längst herumgesprochen, dass das epistemische Feld von 'Genealogie', 'Generation' und 'Familie', angesiedelt um eine mögliche Schnittstelle von 'Kultur' und 'Natur', eine günstige Operationsbasis für die heute erwünschte inter- oder transdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit bietet und dass damit auch den Geisteswissenschaften eine Anschlussmöglichkeit an die Königsdisziplin der Evolutionsbiologie zur Verfügung steht. Zu den in Deutschland zahlreich zu nennenden einschlägigen Forschungsprojekten gehört auch ein von der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel geleitetes, inzwischen abgeschlossenes DFG-Projekt am Berliner Zentrum für Literaturforschung, das den Titel trägt: "Generation. Narrative, zeitliche und biologische Konstruktionen von Genealogie". Hieraus gingen die ersten beiden der hier vorzustellenden Bücher hervor, ein Sammelband mit insgesamt zehn Einzelbeiträgen Weigels, die im Projektzeitraum seit 2000 fast ausnahmslos schon in Vorversionen an anderer Stelle erschienen, sowie ein Aufsatzband mit Originalbeiträgen von insgesamt 15 AutorInnen. Der dritte, sozialwissenschaftlich dominierte Band, herausgegeben von den Historikern Ulrike Jureit und Michael Wildt, an dem übrigens Weigel als Beiträgerin ebenfalls beteiligt ist, bietet sich zu einer komplementären Lektüre an, insbesondere da in ihm die Reflexion auf naturwissenschaftliche Fragestellungen weitgehend zurücktritt.

Weigel umreißt ihr Thema in überzeugender Weise begriffsgeschichtlich, kann sie doch schlüssig darlegen, dass sich "im Denken und in der Rede von der 'Genealogie' soziale und biologische Strukturen verschränken." Genealogie ist zunächst "die Erzählung über die Abfolge von Geschlechtern oder Generationen" und unterhält Austauschbeziehungen zu Literatur und Mythos. Genealogie "beschreibt Wege der Überlieferung und Fortzeugung, die durch die Leiber hindurchgehen; sie beschreibt das Schicksal von Körpern und Körperschaften in der Dimension der Zeit". Für den gesamten hier in den Blick genommenen Forschungszusammenhang bedeutsam ist nun der begriffliche Paradigmenwechsel, der sich für die 'Generation' um 1800 vorbereitet: Die diachrone Dimension des Begriffs, der etwa die in der Adelskultur lange Zeit schon fokussierte Herrschaftslegitimation aus der generationalen Abfolge meint, tritt langsam zugunsten einer synchronen Bedeutung zurück, die Generation als Gemeinschaft der zugleich Geborenen fasst, welche jedem einzelnen Angehörigen eine besondere generationale Identität verleiht und zugleich im Entstehungskontext einer neuen, der epigenetischen Auffassung von der Vererbung steht. Sie konzipiert Leben, so Weigel, "zum einen als Entwicklung des Organismus aus dem Keim zur ausgebildeten Gestalt, zum anderen als Weitergabe von Merkmalen vom Organismus der Eltern auf den der Kinder." Damit geht eine Neusemantisierung des Generatio-Begriffs als Zeugungstrieb und zugleich als Schauplatz von Verhandlungen über das Erbe einher: Phänomene der Abstammung und Vererbung werden in das Körperinnere verlagert. Hatten die klassifikatorischen Tableaus der Natur, wie sie Foucault in der "Ordnung der Dinge" etwa am Beispiel Linnés beschreibt, noch ahistorisch die Konstanz der Arten postuliert, so geht es von nun an darum, evolutionäre Veränderung hierzu in Bezug zu setzen, die Verzeitlichung auch in der Vorstellung vom Organischen zu denken. Die Biowissenschaften entstehen als Disziplinen, die Konzepte der Evolution von Lebewesen entwickeln. Doch dieser Paradigmenwechsel vollzieht sich als sukzessive Überlagerung, nicht als plötzliche Ablösung. Noch an Adalbert Stifters Erzählung "Die Narrenburg" erweist sich, dass die Sprache der Literatur einer schon älteren Stufe des Sprachgebrauchs verhaftet sein kann, während enzyklopädisches Wissen längst zu neuer Begriffsverwendung fortschreitet.

'Generation', so lässt sich weiterhin zeigen, wird seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu zum Kampfbegriff, der den Prozess der Ausdifferenzierung der 'zwei' Wissenskulturen begleitet und zugleich ein geeigneter Untersuchungsgegenstand für die Zirkulation von Begrifflichkeiten zwischen beiden ist. Doch wird Weigel nicht müde, auf die Aktualität der Konfrontation, damit aber auch des Gesprächs zwischen diesen Kulturen hinzuweisen. Bemerkenswert ist Weigels Anspruch, die Geisteswissenschaften seien für die Geschichte der Theoreme und der Sprache der Naturwissenschaften zuständig; mittels philologischer Techniken seien Einsichten auch in die Kulturgeschichte des Evolutionsbegriffs zu gewinnen. In zwei Kapiteln untersucht Weigel naturwissenschaftliche Texte mit "philologisch-kulturwissenschaftlichen" Methoden beziehungsweise arbeitet die kulturalistischen Anteile an naturwissenschaftlichen Texten heraus. Eine propädeutische Kulturgeschichte des Evolutionskonzeptes beleuchtet zum Beispiel die in den Naturwissenschaften ungebrochene Neigung zu großen Erzählungen: Naturwissenschaftler wie Klaus Bayer oder Michael Tomasello praktizieren längst die Integration kultureller, erworbener Verhaltensweisen in grundsätzlich biologische Evolutionsmodelle, sei es als Analogie oder gar, wie Tomasello, als Teil eines kognitionswissenschaftlich reformulierten Deszendenzmodells. Überzeugend ist ein Beitrag zur Metaphorik in den Naturwissenschaften: Metaphern sind in ihrer Ambivalenz als Strategie zu sehen, die die Integration (noch) unverstandener Aspekte neuen Wissens ermöglichen. An anderer Stelle ist Weigel daran gelegen, die vielbeschworene Differenz zwischen geisteswissenschaftlichem Verstehen und naturwissenschaftlichem Erklären zu widerlegen: Die philologischen Metaphern in Ernst Haeckels "Anthropogenie" umkreisen immer wieder den Begriff des Verstehens.

Sigrid Weigels Begriffs- und Wissensgeschichte kehrt immer wieder zur Literatur zurück, in der Genealogie als 'Thema' verhandelt wird, deren Gattungen Genealogie praktizieren - allen voran die Biografie als "Gattung der Gattung" - und deren Geschichtsschreibung als 'Nationalliteratur' sich im 19. Jahrhundert wiederum genealogisch konstituiert.

Eine Studie zum Generationskonzept (und zum Familienkonzept) des deutschsprachigen Gegenwartsromans erweist die Begrenztheit jenes seit 200 Jahren existenten, in der jüngeren Vergangenheit aber inflationär verwendeten synchronen Generationsbegriffes, dessen Gebrauch vielleicht Florian Illies mit seinem Beststeller "Generation Golf" auf die Spitze getrieben hat: Der Begriff geht davon aus, dass alle Angehörigen einer jahrgangsverwandten Alterskohorte über identitätsbestimmende Gemeinsamkeiten verfügen, und sei es über ein allen gemeinsames Erbe, das sich nun wiederum gerade nicht primär biologisch definiert, sondern als gleiches und gleichzeitig erworbenes symbolisches Kapital zu verstehen ist. Mit einigem Unbehagen nimmt man kurzschlüssige Projekte der Identitätsstiftung zur Kenntnis, sei es die Rede von den 55ern, den 89ern oder auch den 'Zonenkindern' Jana Hensels, und selbst der lang etablierte Diskurs der 68er beginnt in diesem neuen Licht fragwürdig zu werden - handelt es sich doch stets um Versuche, angesichts vermeintlich ähnlicher kognitiver und emotionaler Prägungen nach Millionen zählender Populationen die Unterschiede der sozialen und regionalen Herkunft, des Geschlechts, der Bildung zu verwischen.

Im Familienroman der Gegenwart ist die identitätsstiftende Gemeinamkeit das unheimliche, verdrängte Erbe der Nationalsozialismus, das, mit Freud zu sprechen, 'heimisch' gemacht wird durch den Dialog der Nachgeborenen mit der Vätergeneration. Somit kann 'Generation' als Medium der Genealogie zwischen natürlichem Reproduktionsprozess und kulturellem Überlieferungsprozess codiert sein, und zwar ohne dass die Gefahr besteht, dass kulturelle Erbzusammenhänge nur als den Naturgesetzen nachgeordnet gesehen werden: Das 'Erbe' des Nationalsozialismus lässt sich selbstverständlich niemals allein mit biologischem Erbe in Verbindung bringen. Dass 'Erbe' auch immer symbolisches und kulturelles Kapital betrifft, welches den Habitus der Nachgeborenen mitprägt, steht nicht nur im Generationenroman der Gegenwart außer Frage, sondern wird auch in der biowissenschaftlichen Theoriebildung nicht bestritten, wenngleich quantitative oder qualitative Relationen zwischen sozialem und biologischem Erbe nach wie vor nicht angegeben werden können.

Dennoch lässt sich vor allem aus der Generationssemantik der Gegenwart die Problematik der gleichzeitig gedachten Generation überhaupt entfalten: Unschärfen der Begriffsextension lassen sich nicht vermeiden, wenn gleichsam über Nacht neue Generationen konturiert werden; umso heikler ist die Rede von einer "2. und 3. Generation", wo sich natürlich gegebene Grenzen zwischen diesen Generationen kalendarisch nicht finden lassen, sondern allenfalls in einem traditionellen Genealogieverständnis: einzelne 'Erben' (nicht ganze Generationen!) sind eben nun mal Kind oder Enkelkind von Tätern, Mitläufern oder Opfern des Nationalsozialismus. Sobald vom einzelnen auf ein Kollektiv geschlossen wird, gerät 'Generation' zur bloßen Metapher, die sich als Begriff der wissenschaftlichen Metasprache nicht halten lässt. Denn nicht nur der Kurzschluss von der Alterskohorte zur Totalidentität ist von begrenzter Überzeugungskraft; Gleiches gilt für die allzu durchsichtige Substitution des wissenschaftlich nicht so leicht missbrauchbaren Epochenbegriffs durch den locker handhabbaren Begriff der 'Generation'. Wohlgemerkt: Weigel erliegt solchen Versuchungen nicht.

Der ebenfalls im Kontext des genannten Forschungsprojekts stehende, unter anderem ebenfalls von Sigrid Weigel verantwortete Band "Generation. Zur Genealogie des Konzepts - Konzepte von Genealogie" ging dem vorgestellten Aufsatzband in seinem Erscheinen voraus. Er versammelt ebenfalls Beiträge zur Begriffs- und Wissensgeschichte von 'Generation', setzt aber einen deutlichen Schwerpunkt in der Zeit um 1800, als 'Familie' und 'Nation' Felder des Umbruchs auch im genealogischen Denken bezeichneten. Dabei geht es zum einen um die schon angesprochenen Veränderungen in der Zeugungs- und Gattungstheorie, zum anderen aber um die Metaebene oder auch die Konstruktionsmedien dieses Wandels, um ihre Narrative, ihre spezifische Bildlichkeit und ihre Denkfiguren, um Stammbäume, Serien oder Wellen in Text und Bild also.

Ulrike Vedder und Sigrid Weigel zeigen, wie in Erzählungen von Genealogien um 1800 bis dahin als kontinuierlich gedachte Geschlechterreihen nun vom ökonomischen oder biologischen Untergang bedroht sind. Vedder benennt die Ursachen einer sich verfestigenden Literarisierung des Erbrechts in einer Phase der Infragestellung des alteuropäischen Adels und seiner Kultur. Sofern sie genealogiekritisch ist, so Weigel, ist die Literatur dem historiografischen Denken des 19. Jahrhunderts voraus, sie ist zudem ein Archiv genealogischen Wissens - wiederum ist an mögliche Szenarien familialer Untergänge zu denken, bei Texten wie Kleists "Familie Schroffenstein" angefangen bis hin zu gängigen, auch biologisch motivierten Verfallsgeschichten der Moderne wie Thomas Manns "Buddenbrooks". Den alten Genealogiebegriff findet man aber immer noch - so Kilian Heck - in Richard Wagners "Ring der Nibelungen", nun ergänzt um eine positive Codierung des Inzests, der 'reinen' Fortzeugung als anarchisches Handeln.

Um 1800 ereignet sich aber auch bereits eine Biologisierung in der ästhetischen Reflexion: "Dichten ist Zeugen" - so Novalis' Engführung von Zeugungstheorie und poetologischer Reflexion, man könnte auch von einer epigenetisch motivierten biologischen Metapher der Schöpfung von Poesie sprechen. Unter diesen Auspizien erklärt sich auch in der Welt der romantischen Universalpoesie die Ähnlichkeit von Erzeugern und Erzeugtem. Stefan Willer und Helmut Müller-Sievers belegen die Konvertierbarkeit von biologischer und ästhetischer 'Generation'; Staffan Müller-Wille und Ohad Parnes zeigen, wie sich im Diskurs der Vererbung um 1800 der Übergang von vertikalen zu horizontalen Verwandtschaftsverhältnissen vollzieht. Zwar tritt, wie weiter oben schon ausgeführt, an die Stelle der klassifikatorischen Tableaus der Lebewesen die Vorstellung von der Evolution, doch lenkt gerade das Wissen um Veränderungen in der longue durée das Augenmerk von den Varietäten (als Ausnahmen) auf die Regel und also darauf, dass die Zugehörigkeit zur gleichen Generation auch erbbiologisch 'Gleichheit' bedeutet. Unabhängig vom individuellen biologischen Ursprung und von eventuellen individuellen Abweichungen, ja Monstrositäten, findet man gewissermaßen den Mut zur Entdifferenzierung, der darin liegt, von 'Generation' als Invarianz des Gleichzeitigen zu sprechen.

Erst später im 19. Jahrhundert ermutigt sich die Genetik dazu, mit der Formulierung von Gesetzmäßigkeiten der Vererbung ein ähnlich entdifferenzierendes, von Abweichungen absehendes Modell der Generation zu entwerfen. Wo aber die Biologie voneinander abweichende Individuen vernachlässigt, sollten dies die Kulturwissenschaften gerade nicht tun, denen es ja strukturell nicht selten um die einzelnen und um die großen Ausnahmen geht. Es spricht also geradezu für die Literatur um 1800, wenn sie sich anscheinend zu den 'Generationen' als gleichzeitig zu denkenden Kollektiven (noch) weitgehend ausschweigt und bei den verqueren Individuen bleibt: noch Heines Abrechnung gilt der romantischen 'Schule', nicht einer abgelebten Generation der 1789er. Der ausgerechnet durch Adelbert von Chamisso geprägte Begriff des 'Generationswechsels' bleibt wohlweislich auf die Zoologie beschränkt, und auch Goethes Diktum "Die Natur geht ihren Gang und was als Ausnahme erscheint liegt in der Regel" beschränkt sich noch auf generationale Regelmäßigkeiten tierischer und pflanzlicher Organismen.

Auch wenn ein mehr oder weniger emphatisches Verständnis von 'Zeitgenossenschaft' als Alters- und zugleich Schicksalsgemeinschaft schon seit den fundamentalen Umbruchserfahrungen der Zeit um 1789 bereits dokumentiert ist (Friedrich Schlegel wird als frühester Schriftzeuge genannt, Adam Müller hätte übrigens hier ebenfalls Erwähnung finden müssen!) - so scheint erst mit dem Ersten Weltkrieg das Kollektivtrauma des 20. Jahrhunderts massiv einen synchronen Begriff der 'Generation' breitenwirksam hervorgebracht zu haben. Alexander Honold zeichnet das Deutungsmuster der 'Verlorenen Generation' derjenigen nach, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs um ihre Jugend betrogen sahen und deren Karrierechancen in der wirtschaftlich unsicheren Zwischenkriegszeit zudem prekär waren. Die Selbstzuschreibung einer gemeinsamen Generation durch einzelne Protagonisten ist aber zunächst einmal ein Faktum der Objektsprache, nicht ein gültiges Instrument der wissenschaftlichen Metasprache.

Tatsächlich ist zu vermuten, dass das Erleben des Ersten Weltkrieges die Biografien zahlreicher Geburtsjahrgänge entscheidend prägte, doch gab es gewiss viele Gründe, den Krieg aus höchst unterschiedlichen Perspektiven je anders zu erleben und zu verarbeiten. Das sind Unterschiede des Geschlechts, der sozialen Herkunft, der Nähe zum Kriegsgeschehen, sicherlich spielte unter anderem auch das Lebensalter der Betroffenen eine Rolle, obgleich doch das Geburtsjahr kein allein maßgebliches Datum sein dürfte. Die Rede von der 'Generation' in den zwanziger Jahren hat Gemeinschaften erst als Erinnerungsgemeinschaften gestiftet und qua Projektion aus subjektiv höchst unterschiedlichem Erleben genormte Erfahrungen gemacht. Problematisch ist es, diese Schemata von Erfahrung und Gemeinschaft fortzutradieren, von einigen Autoren und ihren Texten ausgehend auf ganze Geburtsjahrgänge zu schließen und zu resümieren: "[S]chon geringe Differenzen der Geburtsjahrgänge bedeuteten hier einen Unterschied ums Ganze." Ähnlich normierend und zugleich mythisierend heißt es von "den Weltkriegs-Generationen", sie seien "[d]urch den zeitgeschichtlichen Druck des 'Kriegserlebnisses' auf extreme Weise zu gemeinsamen Erfahrungslagen zusammengeschweißt" worden. Wer möchte ernsthaft mentale oder habituelle Brüche, bei denen es "ums Ganze" geht, mit Jahren und Jahrestagen in Verbindung bringen?

Während beispielsweise der Epochenbegriff immerhin Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen zulässt, mit dem zusätzlichen Konzept der Epochenschwelle noch einmal Differenzierungen erlaubt und damit modernen 'Normalismus' (Jürgen Link) ermöglicht, predigt der Generationenbegriff in der komplizierten Moderne plötzlich Synchronizität, Kontingenzresistenz und nimmt damit eine weitgehende Entdifferenzierung vor. Noch einmal: Als kompensatorische Strategie ist die 'Generation' beschreibbar und nachvollziehbar, nur ist damit keine tragfähige Kategorie der wissenschaftlichen Beschreibungssprache gegeben. Der Generationsbegriff als entdifferenzierender Versuch der Semantisierung historischer Zeit führt wissensgeschichtlich hinter das Konzept der Epoche zurück, das es gleichwohl mittels des 'natürlichen' Kriteriums der Geburt zu ersetzen sucht. Auf Wilhelm Dilthey und auf das ideengeschichtliche Bedürfnis der Zäsurierung historischer Zeit im frühen 20. Jahrhundert geht Karl Mannheims 1928 in seinem Aufsatz "Das Problem der Generationen" einflussreich formulierte Version des Generationenparadigmas zurück. Dort ist allerdings von den Möglichkeiten gemeinsamen Bewusstseins eines durch Alterskohorten bezeichneten Generationenparadigmas die Rede, doch steht noch nicht jenes 'Konzept' der Generation zur Verfügung, das in der Gegenwart oft fast schon fatalistisch zu nennen ist.

Folglich sollte der moderne Generationsbegriff mehr der Historiografie der Wissenschaft(en) als den einzelnen Disziplinen selbst vorbehalten sein. Hierfür liefert der Band reichhaltiges Anschauungsmaterial. Astrit Schmidt-Burkhardt analysiert 'Generation' als biologische Metapher der Kunstgeschichtsschreibung; es geht der Autorin dabei nicht um den biologischen Hintergrund, sondern um die Bilder und Diagramme der Generationenabfolge als Narrative der Fortzeugung und der kunstgeschichtlichen Evolution. Carlo Ginzburg stellt 'Familienähnlichkeit' und 'Stammbaum' als kognitive Metaphern vor, etwa in der deutschen Philologie Lachmann'scher Provenienz; ähnlich weist Simone Roggenbuck Genealogien indogermanischer Sprachen in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts nach.

Übrigens bleibt der angestrebte Dialog zwischen den Kulturen noch ein Desiderat, ist mit dem Molekularbiologen Hans-Jörg Rheinberger in dem Sammelband "Generation" doch lediglich ein einziger Naturwissenschaftler vertreten. Fraglos haben beide Bände eine Menge zu bieten, insbesondere wenn sich der Leser begriffsgeschichtlichen Aufschluss erwartet oder wenn es ihn nach Informationen darüber verlangt, welcher epistemische Status 'Genealogie' eigentlich zukomme. Gewiss ist dies nicht der der Disziplin, des systematisierten und codifizierten Wissensbestandes; Weigel wählt vielmehr den Begriff der 'Figur', der auf die Symptomatik sprachlicher und ikonischer Bildlichkeit - notorisch zu nennen ist der Stammbaum - anspielt und somit das Wissen um die Genealogie als verborgen, aber entzifferbar ausweist.

Der auf Mannheim zurückgehende Strang der Begriffsgeschichte, der ja von der Biologie gerade weg- und zu ideen- und geistesgeschichtlichem Ganzheitsdenken hinführte, ist in den Sozialwissenschaften heute noch präsent und wohl auch noch dafür verantwortlich, dass der von den Historikern Ulrike Jureit und Michael Wildt herausgegebene Band "Generationen" nach wie vor biologieabstinent ist, sich gleichwohl einem angeblichen wissenschaftlichen "Grundbegriff" widmet, der aber im wesentlichen auf die 'heroischen' Generationen der Zwischenkriegszeit sowie auf die Generationen seit der Nachkriegszeit rekurriert, deren Selbstzuschreibungen in hohem Maß für bare Münze genommen werden. Nun wollen die Herausgeber ihren Lesern durchaus den Konstruktcharakter eines Begriffs offenbaren, der verspricht, individuelle Erfahrungen identitätsstiftend zu deuten und zu ordnen, indem sich "eine auf altersspezifische Erlebnisschichtung basierende Gemeinschaft" konstituiert. Zwar registrieren die Herausgeber die teils unübersichtliche, methodisch unreflektierte Begriffsverwendung auch in der Wissenschaftssprache, doch begnügen sie sich damit, die Bandbreite dieser Verwendungen vorstellen und erweitern zu können; Metakritik findet nur bedingt statt. Als entscheidende Legitimation erkennen sie die Bezugnahme auf "historische Großereignisse", vor allem wiederum seit dem Ersten Weltkrieg.

Allzu rasch gelingt es, von gemeinsamen Erfahrungen zu einem gemeinsamen "Lebensgefühl" fortzuschreiten, eine für den Soziologen Heinz Bude offenbar zentrale Kategorie. Das erklärte Ziel Jureits und Wildts, mittels des Generationsbegriffs politische und kulturelle Prozesse zu erklären, vermag aber dort, wo wirkungsvolle Selbstzuschreibungen existieren, tautologischen Charakter anzunehmen. Bedenklich erscheint, wie schnell hier Generationen zu Subjekten, zu kollektiven Akteuren werden, die 'sich konstituieren', die nach 'Positionen der Macht' streben, 'Veränderung bewirken' wollen.

Heinz Bude hat nicht nur den um 1960 Geborenen das Label "Generation Berlin" aufgeprägt, er hat auch über das Altern der 68er gearbeitet. Für ihn ist die Generation ein Mobilisierungsbegriff des 20. Jahrhunderts. Von der Metapher des Generationenvertrags im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit ausgehend, formuliert er die These vom generationsbildenden Zusammenhang der Sozialversicherungspraxis, die nicht mehr die funktionierende Subsidiarität der familialen Geschlechterfolge in den Mittelpunkt stellt, sondern eben jede Generation für sich absichert. Für den funktionierenden wie auch für den von Krisen geschüttelten Sozialstaat gilt aber die Frage, ob er tatsächlich feste Generationenzusammenhänge ausbildet und mit welchen Jahrgängen solche Generationen beginnen oder enden sollten, zumal die Entwicklung der letzten eineinhalb Jahrzehnte lehrt, dass sich die Prognosen über das Fortleben des Sozialstaates andauernd verändern und im Grunde alle 'Generationen' betreffen, nicht nur die angeblichen künftigen Verlierer. Aus soziologischer Sicht antwortet M. Rainer Lepsius wohltuend kritisch auf die vielfach unspezifische Verwendung des Generationsbegriffes, der ihm allenfalls dazu geeignet erscheint, differenziert kulturelle Orientierungen zu erforschen, die ihren Ausgangspunkt bei Selbstzuschreibungen nehmen, doch erkennt Lepsius diesen keine Repräsentativität oder gar ontologischen Status zu.

Einige Beispiele sollen zeigen, dass von den einzelnen Beiträgen recht unterschiedliche Leseeindrücke zu erwarten sind: Gibt es die 'verlorene' Generation der Weltkriegsteilnehmer - sie ist Thema mehrerer Aufsätze -, dann kann man auch über ihre Gender-Aspekte schreiben, wie dies Christina Benninghaus unternimmt: Wie man sich mit Klaus Theweleits "Männerphantasien" und den Thesen zu den 'homosozialen' Gemeinschaften der Zwischenkiegszeit im Hinterkopf schon denken kann, ist 'Generationalität' um 1930 ein Konstrukt von Männlichkeitsentwürfen, und zwar im doppelten Sinn von diskursivem Entwurf und vermutlich auch gelebter Überzeugung.

So überraschend wie problematisch ist Ulrike Jureits These, das Holocaust-Denkmal als Objekt eines 'Generationsgedächtnisses' sei vorwiegend von den zwischen 1935 und 1945 Geborenen, also der '68er-Generation', initiiert, deren Kennzeichen immer schon eine "zwanghafte Opferidentifizierung" gewesen sei. Diese recht steile These ist meines Erachtens nicht hinreichend durch Belege aus der Denkmal-Debatte gestützt. Dass 41% der Bundestagsabgeordneten, die für das Denkmal stimmten, den genannten Jahrgängen angehörten, ist beileibe kein hinreichendes Argument, denn was ist damit schon über die vermeintliche Opferidentifizierung allein dieser Abgeordneten ausgesagt? Christina von Hodenberg wählt für ihre These von der Etablierung eines 'zeitkritischen' Journalismus in der Nachkriegs-BRD ebenfalls einen generationalen Ansatz. Das Unterfangen gelingt aber nur, indem mit den Jahrgängen 1918 bis 1935 eben viel mehr als 'eine' Generation definiert wird; zumindest würde mancher Soziologe von der Behauptung einer Einheitlichkeit dieser achtzehn Jahrgänge absehen. Umgekehrt trifft es aber sicherlich zu, dass viele derjenigen Journalisten, denen die Liberalisierung der politischen Kultur in der Bundesrepublik der sechziger Jahre wesentlich zu verdanken ist, Angehörige ebendieser Jahrgänge sind. Doch gibt Hodenberg selber einschränkend zu bedenken, nach 1960 spielten sowohl ältere als auch jüngere Jahrgänge, die der Gruppe 47 angehörenden Jungautoren etwa, in der Publizistik ebenfalls eine Rolle.

Skeptisch äußert sich der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase: Zur Gegenwart hin sind Generationszuschreibungen möglicherweise nicht selten durch ökonomische Interessen bestimmt und dürften, so Maase, bei den Rezipienten doch nur noch spielerische Identifikationen bewirken. Wer nimmt sich als Angehörigen der 'Generation Golf' schon so richtig ernst? Die Generation wäre also eine von vielen autobiografischen (Ein-)Ordnungskategorien in einer Zeit pluraler und wechselnder Identitäten.

Grundsolide ist Michael Wildts (auf Pierre Nora rekurrierender) begriffs- beziehungsweise rechtsgeschichtlicher Beitrag, der noch einmal in die Zeit der Französischen Revolution zurückführt. Thomas Paine ersetzte traditionale, durch Genealogien legitimierte Rechtsansprüche durch die Rechtsgleichheit jeder synchron zu denkenden Generation mit der vorhergehenden.

Der Band bietet aber erwartungsgemäß auch intergenerationale Analysen: Interessant ist Mark Rosemans Deutung der Generationenkonflikte zwischen 'jung' und 'alt' in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert im Kontext nationaler Mythen als "kollektive Imaginationen", womit Roseman auf Benedict Andersons Konzeptschlagwort von den Nationen als "imagined communities" anspielt.

Jureits und Wildts Band versammelt also vor allem Fallstudien, während die beiden von Sigrid Weigel (mit)verantworteten Bände ein wünschenswertes Maß an theoretischer Selbstreflexivität besitzen und mit ihrer Rekonstruktionsarbeit zugleich die Grenzen der Kulturwissenschaften hinter sich lassen. An der Theoriefähigkeit des 'synchronen' Generationsbegriffs sind, so ein Fazit, grundlegende Zweifel jedenfalls angebracht.


Titelbild

Generation. Zur Genealogie des Konzepts - Konzepte von Genealogie.
Herausgegeben von Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Sigrid Weigel und Stefan Willer.
Wilhelm Fink Verlag, München 2005.
342 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-10: 3770540824

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Titelbild

Ulrike Jureit / Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs.
Beiträge von Christina Benninghaus, Heinz Bude u. a.
Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2005.
354 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3936096589

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Kein Bild

Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften.
Wilhelm Fink Verlag, München 2006.
288 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3770541731

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