Lenz, postmodern

Eine Begegnung mit Wolfgang Welt, dem Autor der Romansammlung "Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er saß drei Stunden im Zug fest, kurz vor Bonn. Ein so genannter "Personenschaden". Würde die Marburger Lesung mit Wolfgang Welt überhaupt noch stattfinden können? Die Organisatoren hockten bei Bier und Pommes in der "Waggonhalle", dem Veranstaltungsort in der Nähe des provinziellen Bahnhofs, und warteten beklommen auf seinen Anruf. "Liebe Fahrgäste, bitte packen Sie jetzt Ihre Sachen zusammen und verlassen Sie geordnet den Wagen" - das war so ziemlich das Letzte, was ich beim Telefonieren aus dem Hintergrund in Welts ICE-Wagen mitbekommen hatte: eine Durchsage zur Evakuierung des Zugs. Welt hatte von dem Mobiltelefon seiner Sitznachbarin aus angerufen und mitgeteilt, dass er überhaupt nicht wisse, was nun weiter passieren würde. Er werde sich noch einmal melden, wenn er irgendwo ankäme.

Warten auf Welt: Irgendwie war diese grausame Selbstmörder-Panne bei der Bundesbahn schon wieder genauso bizarr wie viele der ultralakonisch beschriebenen Alltagsszenen, die Wolfgang Welts drei Romane "Peggy Sue" (1986), "Der Tick" (2001) und "Der Tunnel am Ende des Lichts" (2006) bestimmen. Die in atemlosem Duktus geschriebenen Texte lassen sich nun erstmals zusammen in einer Taschenbuchausgabe des Suhrkamp Verlages nachlesen - dem Stil nach irgendwo zwischen Charles Bukowski und Rainald Goetz verortbar, aber dann doch ganz anders und ziemlich eigen. Eine Lektüre, die einem am Ende lange nachgeht, obwohl man sich vorher oft fragt, warum man das alles überhaupt liest. Aufhören kann man trotzdem nicht mehr, wenn man einmal angefangen hat.

"Er erzählt mir, ob ich's wissen will oder nicht, alles, was er in einem gegebenen Zeitraum [...] in seinem Ruhrgebietsleben [...] erlebt hat", verriss Diedrich Diedrichsen Welts Erstling "Peggy Sue" 1986 in der "Spex", nachdem der heute fast schon legendäre Text erstmals im Konkret Literatur Verlag erschienen war. "Was ich nicht verstehe, ist dieser Geständinszwang und welche Belohnung er dafür erwartet. Das Kompliment 'schonungslose Ehrlichkeit'? Aber was ist das wert? Zumal es so verworfen und sensationell nicht zugegangen ist, in seinem damaligen Leben".

Das sind Fragen, die sich wohl viele stellen, wenn sie in "Peggy Sue" selbstquälerische Sätze lesen wie: "Würde ich mit ihr ficken, bevor ich nach Frankfurt ging? [...] Was bildete ich mir eigentlich ein? Sie war doch offensichtlich in festen Händen. Was sollte ich dickbäuchiger abgebrochener Student, der quasi als Hilfsarbeiter schuftete, mir für Illusionen machen". Und als es dann doch einmal so weit kommt und erst einmal nicht richtig klappt, mit dem Sex: "Ich blieb wach und fragte mich, ob ich je noch mal vernünftig würde ficken können."

"Diederichsen hatte Recht", räumt Wolfgang Frömberg in seiner "Spex"-Rehabilitation Welts anlässlich der Suhrkamp-Ausgabe im Jahr 2006 ein, "die Grenze zwischen der Person und der Figur Wolfgang Welt auf dem Papier ist dünn." Welt schildert seinen Alltag zu Beginn der 80er-Jahre strikt autobiografisch. Der Autor berichtet von seiner beginnenden und mit einer Psychose jäh zu Ende gehenden Karriere als Musikjournalist für das Bochumer Stadtmagazin "Marabo", für "Sounds" und den "Musikexpress" so frei assozierend, als berichtete er sie seinem Psychoanalytiker.

"Ich schrieb wie schon in der Vergangenheit mal wieder automatisch", heißt es in einer Passage der Erstveröffentlichung "Der Tunnel am Ende des Lichts". Es ist die unvergessliche Stelle, an der sich der Erzähler Welt bereits für die TV-Serienfigur J. R. Ewing hält und die letzte Folge der Kultserie "Dallas" unbedingt an die Redaktion der "Zeit" telexen möchte: aus dem Bochumer Novotel, in dem einmal der "Zeit"-Theaterkritiker Benjamin Henrichs logierte, nach der Uraufführung von Thomas Bernhards "Weltverbesserer" (1980). "Automatisch schreiben" - das ist eine Klassifikation, die auch auf den Text passt, den man da die ganze Zeit schon liest. Diese Romane erscheinen wie in Trance heruntergetippt, hastig, von einem Getriebenen. Die Handlung rast manchmal so sehr dahin, dass der Leser selbst außer Atem gerät, während er ihr folgt.

Der Protagonist bekommt in diesem unermüdlichen Selbst-Protokoll zunächst unverhofften Aufwind, lernt Szenekönige wie den Journalisten Diedrich Diederichsen kennen und schreibt kompromisslose Verrisse wie Wolfgang Welts berühmt gewordene Schmähkritik über den eitlen Rockbarden Heinz Rudolf Kunze, in dem er den studierten Sohn eines SS-Mannes als "eine Art singenden Erhard Eppler" geradezu visionär charakterisiert, wie man in der 1997er-Heyne-Ausgabe der bis dahin entstandenen Romane nachlesen kann: "Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten."

In Welts vollkommen distanzlos geschriebener Suada aus unmittelbaren Selbstbetrachtungen wird der Leser jedoch gleichzeitig zum Voyeur. Er wird mit den intimsten Problemen eines Außenseiters konfrontiert, der sich selbst ungerührt als Loser wahrnimmt, als Nullnummer und "Universaldilettanten". Der Erzähler beschreibt seinen wachsenden Verfolgungswahn, die in schnellerer Folge wiederkehrenden schizophrenen Schübe und seine zunehmende manische Zerrüttung als ebensolche Selbstverständlichkeiten wie die anderen Banalitäten, die die stakkatohaften Sätze dieser merkwürdigen Prosa thematisieren. Er brauche "einen roten Faden", habe ihn der Suhrkamp-Lektor Müller-Schwefe einmal gemahnt, heißt es an einer Stelle im "Tunnel am Ende des Lichts" - und das Roman-Ich beruhigt sich sofort selbst, den habe es doch: "mich".

Nun ist dieser Bochumer Schriftsteller also auf dem Weg nach Marburg, und mit dreistündiger Verspätung kommt er schließlich an. Ein aufgeräumt wirkender Herr mit stoßfestem Metallköfferchen entsteigt dem Regionalzug. "Ich fühle mich gut", sagt er in seinem unüberhörbaren, lässigen Ruhrpottslang. Für einen Nachtportier des Bochumer Schauspielhauses, der seit 24 Stunden nicht geschlafen, nichts Ordentliches gegessen und den ganzen Tag in teils stehenden Zügen verbracht hat, eine erstaunliche Bermerkung. "Ich hoffe, ich kann dat Publikum gut unterhalten", sagt er. Während der kurzen Autofahrt zum Lesungsort fällt ihm ein, dass er 1968 schon einmal in Marburg war: "Auf Klassenfahrt, mit Fuffzehn. Dat Highlight war ein Besuch in der Vorlesung von Wolfgang Abendroth. Da hatte ich aber natürlich kein Wort verstanden."

Unterhalten, das kann er. Wenn man die Romane liest, ist man eher betroffen und erschüttert. Wenn man aber den Autor selbst sieht, während er lässig Bier trinkt und sie vorliest, lacht man plötzlich laut auf - obwohl man doch auch weiß, dass es der Text-Figur sehr ernst ist, wenn sie etwa beschreibt, dass sie sich für J. R. Ewing hält. Die Psychose, das ist in diesen Romanen bitterer Ernst, eine unhinterfragbare Realität. Man weiß nicht, worüber man sich während der Lesung mehr wundern soll: Welts trockene Selbstironie gegenüber den vorgetragenen Protokollen der eigenen Krankheit, oder die eingestreuten anekdotischen Ergänzungen zum Text, die bemüht sind, seine Authentizität zu verteidigen.

Als der Erzähler in einem Klavier aus der Bochumer Uni fliehen will, um den Reportern der Bild-Zeitung zu entkommen, von denen er das Gebäude umstellt wähnt, sieht er ein Graffito, das ihn an eine gleichnamige Freundin erinnert: "Doris hilft". "Ich hatte nicht darauf reagiert", heißt es im Text, den Welt in der "Waggonhalle" vorliest. "Wer weiß, was anders gelaufen wäre. Das war jetzt übermalt, aber der i-Punkt von Doris stand noch da. Es war also keine Halluzination gewesen." "Ich hatte mir dat also nicht eingebildet", unterstreicht der Autor die Textstelle noch einmal selbst in seiner Lesung, als wolle er deutlich machen, dass er sich bis heute nicht sicher sei, was damals Wahn war und was nicht.

Am Ende des Abends ist klar: So detailreich und dramatisch ist das Wahnsinnigwerden in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 wohl noch nie beschrieben worden. Welt hat die postmoderne Version von Georg Büchners "Lenz" verfasst und wird damit in die Literaturgeschichte eingehen, früher oder später. Vieles spricht außerdem dafür, dass dieser Autor mit dem, was er da in wenigen Urlaubs-Wochen heruntergeschrieben hat, noch lange nicht abgeschlossen hat. Nur mit der Musikszene möchte er nichts mehr zu tun haben: "Dat interessiert mich alles nicht mehr. Ich höre nur noch WDR 4."


Titelbild

Wolfgang Welt: Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
490 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518457764
ISBN-13: 9783518457764

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