Revolte, nicht Revolution
Claus-Steffen Mahnkopf über Theodor W. Adorno und die Kritische Theorie in Zeiten neuester Musik
Von Christoph Schmitt-Maaß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Revolution ist gerade die Einführung der Idee in die geschichtliche
Erfahrung, während die Revolte nur die Bewegung ist,
die von der Erfahrung des Einzelnen zur Idee führt.
Albert Camus: "Der Mensch in der Revolte"
Theodor W. Adornos Entwürfe zu einer Kritischen Theorie der Musik sind Fragment geblieben. Der Komponist, promovierte Musikwissenschaftler und Habermasschüler Claus-Steffen Mahnkopf hat sich der Aufgabe angenommen, die in Adornos Werk verstreuten Ansätze zu bündeln und mit der gegenwärtigen Situation avantgardistischen Komponierens zu konfrontieren. Mahnkopf verbindet in seinen aus einer breiten Kenntnis von Philosophie, Soziologie, Architektur, Literatur und Theater gespeisten Explikationen den Entwurf einer (mit und nach Adorno) ästhetischen Theorie der Musik mit kritischen Angriffen auf die Gegenwartsmusik und ihren mangelnden theoretischen Reflexionsgrad.
Ausgehend von einer tiefen Vertrautheit mit Adornos musikphilosophischen Schriften (Mahnkopf fungierte als Tagungsleiter und Zeitschriftenherausgeber in Sachen 'Adorno und Musik') entwickelt der Autor sieben Fragestellungen, die von einem messianischen Vor- und einen utopischen Schlusskapitel gerahmt werden: der Frage nach der gesellschaftlichen Autonomie von Musik, ihre gleichzeitige soziologische Präliminiertheit, ihre philosophische Anspruchshöhe, die Erkenntnisleistung der neuesten Musik, das Fehlen eines metasprachlich adäquaten Vokabulars sowie die Absenz eines kritischen Anspruchs - all das bereitet Mahnkopf in den sieben Binnenkapiteln auf.
Bei aller gedanklichen Durcharbeitung der divergierendsten Aspekte steht das Verhältnis von Theorie und Praxis beim Leipziger Kompositionsprofessor im Vordergrund: Mahnkopf fragt immer nach der Relevanz der Theorie und gewinnt vice versa aus der kompositorischen Praxis theoretische Einsichten. Bekannt als zuweilen ätzender Kritiker der Gegenwartsmusik und ihrer Institutionen (Kritik der neuen Musik, 1998), zeigt Mahnkopf auch hier wieder Lust an der Provokation, die sich aus seiner Überzeugung speist, dass Musik eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zukommt, ohne der Gesellschaft zugleich ästhetisch (etwa im Sinne von Konsumierbarkeit) verpflichtet zu sein. Genau an diesem Punkt verfällt Mahnkopf aber auch in ein Lamento über Niedergang und Verfall von Kultur, Bildung und (natürlich) Musik, das von Adorno wohlbekannt ist.
Daher verwundert es kaum, dass Mahnkopf unter Rekurs auf Adorno die musikalisch-gesellschaftliche Utopie einer Zweiten Moderne, die sich der allgegenwärtigen Postmoderne entgegenstellt, entwirft. Hierzu grenzt sich Mahnkopf von den erstarrenden Ästhetiken eines John Cage, Karlheinz Stockhausen oder Mauricio Kagels ab und entwickelt eine eigenständige Ästhetik der dauerhaften Erneuerung und Selbsthinterfragung, als deren Muster ihm das Denken der ausgelöschten jüdischen Intelligenz von vor 1933 gilt. Nicht eine Revolution der Musik, sondern eine Revolte gegen deren eingefahrene Institutionen und Paradigmen unternimmt Mahnkopf. Da erscheint die teleologische Perspektive, die sich durch Mahnkopfs Buch zieht, nur folgerichtig, auch wenn man seine Sicht von Geschichte nicht teilen mag.
Und nicht von ungefähr beruft sich Mahnkopf auch auf die maßgeblich von ihren Gegnern so benannte Dekonstruktion, namentlich auf Jacques Derrida. Wie eine Utopie der Neuesten Musik aussehen könnte, eröffnet Mahnkopf im Analogieschluss zur architektonischen Kunst von Daniel Libeskind: in Übersteigerung des Serialismus' wären Prädisposition und Revision ihre Prinzipien - das sind dann die des Komplexismus und seiner Vertreter Brian Ferneyhough (Lehrer Mahnkopfs), Klaus K. Hübler und Mahnkopf selbst. Es ist geradezu eine messianische Sendung, die Mahnkopf hier in Anspruch nimmt - nicht im Sinne einer Revolution, die eine Idee mit den Waffen des Geistes (und nicht nur mit diesen) durchzusetzen versucht, sondern im Sinne der immer währenden Revolte, der produktiven Verunsicherung.
Bei aller Anspruchshöhe erweist sich Mahnkopf - auch oder gerade - in den pamphletistischen Passagen als Stilist, gemahnt seine Sprache an die essayistischen Höhenflüge Adornos in dessen Spätschriften, auf die Mahnkopf direkt Bezug nimmt. An einigen Stellen opfert Mahnkopf die genaue Analyse der Lust an der Provokation, der Aburteilung einzelner Komponisten oder Schulen, etwa wenn er Alfred Schnittke und (mit Einschränkungen) György Kurtág in einem Atemzug mit Henryk Górecki nennt. Die Vertreter des amerikanischen Minimalismus werden gar nicht erst angesprochen - getreu der Adorno'schen Devise, wonach die Missachtung die vernichtendste Form der Kritik sei. Es sind aber eben jene streitbaren Polemiken und Zuspitzungen, die Mahnkopfs Buch auch diskussionsbedürftig machen - nicht, weil es Revolution, sondern weil es Revolte ist.