Sanftmütige Sinfonien

Peter Kurzeck schreibt in "Oktober und wer wir selbst sind" weiter an seinem großen Roman über das Jahr 1983

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keiner liest Peter Kurzeck. Diese Feststellung ist fast schon sprichwörtlich geworden. Auch in "Oktober und wer wir selbst sind" gibt sie Anlass zur Klage des autobiografischen Protagonisten. "Länger als fünf Jahre an einem Buch zu arbeiten, das kann man schwer aushalten, muß ich dann sagen. Und kein Geld, keinen Preis, kein Stipendium." Trotzdem hoffe er am Ende, "daß wenigstens einer kapiert, wie gut das Buch ist".

Zu Beginn der 80er-Jahre sah es damit für Kurzecks erste Publikationen jedoch offenbar schlecht aus. Über das zur Handlungszeit von "Oktober und wer wir selbst sind" noch nicht lange zurückliegende Erscheinen seines zweiten Werks, "Das schwarze Buch" (1982), bemerkt der fiktive Erzähler: "Ein Buch, wie es noch keins gibt, aber wie es scheint, merkt das keiner. Kein Geld."

Seit 1991, als Kurzeck den verdienten Alfred-Döblin-Preis erhielt, sind ihm immerhin einige weitere Würdigungen von Seiten des Literaturbetriebs zuteil geworden. Und dass auch die Literaturkritik mitbekommen hat, was der aus Böhmen stammende hessische Provinzchronist der kleinen Leute kann, bezeugen die bereits erschienenen Besprechungen von "Oktober und wer wir selbst sind". Ob in der "Konkret", der "FAZ", der "Literarischen Welt", dem "Tagesspiegel" oder der "Zeit": Sie klingen unisono so abgeklärt, als handelten sie von einem anerkannten Klassiker der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Doch den Bekanntheitsgrad, der einer solchen Kanonisierung entspräche, hat Kurzeck nie erreicht.

So gesehen passt er gut in das Programm des Frankfurter Stroemfeld Verlags. Während dessen erlesenen Werkausgaben von Weltliteraten wie Hölderlin und Kafka die Fama höchster philologischer Präzision vorauseilt, wird sein Hausherr, der ehemalige SDS-Vorsitzende KD Wolff, nicht müde, die endlose finanzielle Misere seines deutsch-schweizerischen Kleinbetriebs zu betonen. Auch das ironisiert Kurzeck in seinem Roman als zeitlosen Insiderscherz über die notorische verkaufstechnische Erfolglosigkeit seiner Bücher: "Wie soll der Verlag das verkraften. Und wenn es den Verlag nicht mehr gibt, hast Du keine Arbeit und was wird aus KD? Was soll aus ihm werden? Höchstens noch Landtagsabgeordneter, aber weißt Du eine Partei, die zu ihm paßt?"

Reich wird auch der Roman, in dem das nun zu lesen steht, Kurzeck und seinen Verlag nicht machen. Das liegt nicht zuletzt an der eigenwilligen Sprache von Kurzecks ineinander verschachtelten und miteinander korrespondierenden Texten: "Oktober und wer wir selbst sind" ist wieder nur ein weiteres Fragment dieses Monumentalprojekts, ein wie zufällig dazugelegtes Puzzleteil.

Darauf muss sich der Leser erst einmal einlassen. Der Autor hat sich in den Kopf gesetzt, die Trennung von seiner Freundin Sibylle zu einer Art Stunde Null seiner Erzählzeit zu machen. "Oktober und wer wir selbst sind" ist bereits der vierte Roman rund um diesen folgenschweren Bruch des Jahres 1983. Kurzeck treibt ein ruckhaftes, extrem rhythmisiertes Erinnern an alles voran, was mit dem schmerzhaften autobiografischen Einschnitt zusammenhängt. Diesmal setzt der Lebensbericht kurz vor der Trennung ein. Wie als einen Spiegel dieser Zukunft schildert der Roman die (vorläufige) Entzweiung eines befreundeten Paars voller Empathie - und blickt neben detailverliebten Kinderszenen mit der Tochter Carina in vielen Rückblenden zurück in die Erzähler-Kindheit in Staufenberg bei Gießen, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Doch welches breite Publikum begeistert schon ein Schriftsteller, der in mehreren Romanen nicht viel mehr als die Wege beschreibt, die sein Protagonist mit der vierjährigen Tochter zum Frankfurter Kindergarten und zurück geht? So klar wie die Antwort auf diese rhetorische Frage ist auch der Befund der literarischen Großartigkeit der radikalen Idee: Kurzeck ist ein poetischer Symphoniker des Alltags.

"Keiner stirbt" lautet die Losung seiner Bücher seit dem gleichnamigen Roman von 1990, und so ist auch diesmal wieder nichts Geringeres als das Rätsel der Zeit das Thema der sprachlich eigenwillig durchkomponierten Suada. Wie erlebt das Subjekt die Vergänglichkeit aller Augenblicke - und wie lassen sie sich literarisch festhalten? "Die Zeit. Als ob man sich selbst sucht. Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin? Wo geht die Zeit mit uns hin?"

Peter, von seiner kleinen Tochter Peta gerufen, ist trockener Alkoholiker. Die Lichter der Frankfurter Kneipen locken ihn, aber er kommt soweit klar mittels Kettenrauchen, Koffeinmissbrauch und der Suchtverschiebung hin zum manischen Schreiben. Wie die Penner, denen er bei seinen täglichen Gängen besonders mitfühlend begegnet, ihre Utensilien in den Plastiktüten pausenlos sortieren und nachzählen, so muss auch Peta die Zettel, auf denen er sogar noch im Gehen seine Romanideen notiert, unablässig sichten und ordnen: "Für jede einzelne Notiz eine DIN A4 Seite und dann jede Seite einzeln und alle nebeneinander der Reihe nach auf einen langen Tisch und Glasscheiben drauf, damit sie nicht verrutschen und wegflattern. Aber so einen Tisch gibt es auf der ganzen Welt nicht. Und auch keinen Platz, wo er stehen könnte. Oder tausende von Manuskriptschränkchen mit Nummern und Glastüren. Als ob man, sagte ich, während man das Buch schreibt, zum gleichen Thema noch ein zweites, ganz anderes Buch schreiben muß, aber es bleibt im Kopf - so ist das mit diesen Zetteln."

Was Kurzecks Literatur dabei von der Thomas Bernhards unterscheidet, dem großen Prosa-Arrangeur alltäglicher Wiederholungszwänge schreibender Menschen, ist die überbordende Sanftmut ihres Tons. Wenn Bernhard, in Musikervergleichen gesprochen, so etwas wie der John Zorn der österreichischen Literatur war und Arno Schmidt, der so rechthaberische Zettelkasten-Pedant, dessen Tod Kurzeck in "Ein Kirschkern im März" (2004) explizit beklagt, ein Frank Zappa aus der Heide - dann ist Kurzeck diesen Heroen der Moderne gegenüber wohl nichts weniger als ein hessischer Gustav Mahler.

Alles unwiederbringlich Vergangene soll bei ihm voller Liebe beschrieben und damit vorm auslöschenden Vergessen gerettet werden. Wie sehr Kurzeck damit der großen Totenklage der Moderne verpflichtet ist, lässt sich mit einem Satz Peter von Matts fassen, den der Zürcher Literaturwissenschaftler einmal über den "Aufstand der Literatur gegen den Ernst der Letzten Dinge" formuliert hat: "Wenn der Tod gar nie eintritt, aber zugleich immer schon eingetreten ist, werden alle Dimensionen der Person, in denen Sie sich ihrer selbst und ihres Ortes auf der gegebenen Strecke zwischen Geburt und Tod gewiß ist, scheinhaft." "Oft", heißt es in Kurzecks Roman, "ist mir, als ob ich alles nur träume. Schon länger. Mich auch."

Wer sich die Zeit nimmt, dem Protokoll dieses flüchtigen Traums zu folgen, bekommt ein ganzes Leben geschenkt. Als Buch.


Titelbild

Peter Kurzeck: Oktober und wer wir selbst sind. Roman.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
204 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783878770534

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