Polemik, Forschung und Vereinnahmung
Einige Anmerkungen zum "Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft", nebst einem ungebetenen Seitenblick auf Ernst Klees "Kulturlexikon zum Dritten Reich"
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Scheiß=Schiller!" heißt es bei Arno Schmidt. Und so mancher Leser mag auch tatsächlich zu ungeahnten Affekten neigen, legte man ihm freundlich nahe, doch einmal im "Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft", Band L (50. Jahrgang, 2006) zu blättern. Hat man es in so einem Fall sogar mit absoluten, sich unumstimmbar gebenden Schiller-Hassern zu tun, so empfiehlt sich, mit Nachdruck hinzuzufügen, dass es sich dabei um ein "Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur" handele.
Denn vielleicht hat derjenige ja noch gar nicht mitbekommen, dass das Periodikum eines der wichtigsten und renommiertesten Foren der Germanistik darstellt, in dem handverlesene Leute nicht nur über Schiller, sondern über alles Mögliche schreiben. Und wenn man in der genannten Ausgabe nachgelesen hat, wie empört sich der Berliner Literaturprofessor Peter-André Alt in seinem Beitrag "Flaschs Schiller. Eine Erwiderung" gegen eine fachliche Polemik des Kollegen und Mittelalterspezialisten Kurt Flasch zur Wehr setzt, dann mag man vielleicht sogar die verstocktesten Nörgler davon überzeugen wollen, dass einen zwischen den beiden Buchdeckeln nicht nur tote Bleiwüsten erwarten.
Sogar das Thema Schiller vermag in so einem Fall wieder zu fesseln, auch - oder gerade - wenn es um eine angebliche "manirierte Überanstrengung" des Kritisierten im Zuge einer "Charakteristik von Schillers Lyrik als Spielform theoretisch komplexer Denkmodelle" (Alt) geht. Das funktioniert in dem Fall so: Dass sich "Meister Alt" hinter einem "Drahtverhau" überladener Terminologien verstecke, wie Flasch höhnisch behauptet hat, will der Geschmähte nicht auf sich sitzen lassen - und was dabei herauskommt, ist nichts weniger als eine lebendige Diskussion im Übergangsbereich zwischen Polemik, Literaturkritik und seriöser Wissenschaft.
Ganz und gar im letzteren Fach bewegt sich Hans Richard Brittnachers lesenswerter Beitrag über "Zigeunerinnen, Eros und Schicksal in Mörikes 'Maler Nolten'". Ergebnis: Auch Mörikes Literatur tradierte gängige antiziganistische Stereotypien seiner Zeit. Damit partizipiere auch sein Roman "Maler Nolten" an der Tradition, "die der eigenen Seele entstiegenen Bilder eines ungezähmten Eros unbedenklich einer rechtlosen Ethnie am Rande der Gesellschaft zuzuweisen."
Alles aufzuzählen, was der besprochene Band bietet, führt an dieser Stelle zu weit. Hier nur soviel: Ernst A. Schmidt hat herausgefunden, dass Aschenbachs Traum in Thomas Manns Novelle "Tod in Venedig" auf die Orgienszene in Richard Beer-Hofmanns "Tod Georgs" zurückgeht. Jörg Schuster führt in Harry Graf Kesslers bemerkenswertes Tagebuch vor dem Ersten Weltkrieg ein. Und Ben Hutchinson vom Deutschen Literaturarchiv Marbach hat die "Leichtigkeit der Schwermut" bei W. G. Sebald als "poetologische Methodologie" für sich entdeckt. Probieren Sie es mal. Es ist bloß Literaturwissenschaft. But you'll like it.
Eher unappetitlich sind allerdings die üblichen Gestalten aus der Politik, die in staatstragend daherkommenden Publikationen wie dem "Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft" als Gastbeiträger auftauchen. Um akute Würgeanfälle oder auch ungebetene Tiefschlafattacken zu vermeiden, sollte man deshalb die unter der 'Vereins-Rubrik' "Deutsche Schillergesellschaft" im hinteren Teil des veritablen Wälzers abgedruckten Reden Richard von Weizsäckers (CDU), Horst Köhlers (CDU) und - sitzen Sie gut? - des bis vor Kurzem noch im berüchtigten "Studienzentrum Weikersheim" engagierten baden-württembergischen Ministerpräsidenten und Hans-Filbinger-Fans Günther H. Oettinger (CDU) besser gar nicht erst zur Kenntnis nehmen.
Derartige Vereinnahmungen durch obskure Politiker mögen aus Finanzierungsgründen für Projekte wie das Marbacher "Literaturmuseum der Moderne" (LiMo) unumgänglich sein. Wirklich lesen wollen wir den dabei entstehenden Wortmüll ("Mit großem Respekt und mit Freude sind wir heute hier", "Mekka der Literatur", "Aufbruch in eine neue Ära", "Und deswegen sind wir dankbar und auch ein bißchen stolz", "die gesamte Kulturlandschaft Baden-Württembergs er fährt eine enorme Aufwertung") deshalb noch lange nicht.
Immer wenn "Kulturlandschaften" im Munde rechtskonservativer Populisten "enorme Aufwertungen" erfahren, ist es außerordentlich heilsam, sich daran zu erinnern, wie weit derartige Konstrukte nationaler Selbstüberschätzung unter dem Feigenblatt 'Deutscher Klassik' vor gar nicht allzulanger Zeit einmal geführt haben: bis Auschwitz. In Ernst Klees "Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945" ist zum Beispiel nachzulesen, dass SS-Hauptsturmführer Robert Mulka, Adjudant des KZ-Kommandanten Rudolf Höß im größten nationalsozialistischen Vernichtungslager, per Rundschreiben zu einer "Truppenbetreuungsveranstaltung" einlud, die dort am 15. Februar 1943 im Kameradschaftsheim der Waffen-SS stattfand. Mulka bemerkt, die Veranstaltung unter dem Motto "Goethe - ernst und heiter" (sic) biete Gelegenheit, "gerade die Volksdeutschen mit den höheren Gütern deutscher Kultur vertraut zu machen".
Wenn man dann noch weiterblättert zum Artikel über den bislang keineswegs diskreditierten Kommentator der Hamburger Ausgabe der Werke Goethes, Erich Trunz, so dürfte vielleicht klarer werden, wie sehr sich auch die heutige Germanistik immer wieder neu und selbstkritisch daran erinnern sollte, inwiefern sie womöglich nationalen Machtdiskursen hinterherschreibt und -forscht. Erich Trunz trat bereits 1934 in die NSDAP ein, wurde NSDAP-Schulungsleiter in Nord-Holland, stieg unter anderem über den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Prag (1940) zum "Leiter des Amts Wissenschaft" (1942) auf und war schließlich nach 1945, als wäre nichts gewesen und dazu noch versorgt mit Lehrstühlen in Münster und zuletzt in Kiel, von 1952 bis 1972 Fachgutachter der "Deutschen Forschungsgemeinschaft".
Allein: Kritische Beiträge wie der genannte Brittnachers lassen sich für von unberufenen Seiten reklamierte nationale Selbstbeweihräucherungen kaum nutzbar machen. Solange sie noch im "Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft" stehen, lohnt sich auch seine Lektüre. Nicht zuletzt, um sich kritisch daran zu erinnern, welche große politische Relevanz die Literatur zu allen Zeiten und an allen Orten hatte und nach wie vor hat.
Anmerkung der Redaktion: Ernst Klees "Kulturlexikon zum Dritten Reich" wird in einer der kommenden Ausgaben von Literaturkritik.de noch einmal ausführlich besprochen.
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