Übersetzen aus dem Unsichtbaren

Dieter Bänsch schreibt in "Wie lebt man ohne Verzweiflung?" über Günter Eichs Lyrik

Von Hans-Jürgen KrugRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Jürgen Krug

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Günter Eich (1907-1972) gilt noch immer als der "bedeutendste Dichter der deutschen Nachkriegszeit" (Die Zeit) - und doch ist es in den Literatur- und Medienwissenschaften um den Lyriker und Hörspielautor überraschend still geworden. Selbst zum 100. Geburtstag Anfang des Jahres gab es keine neuen Arbeiten, keine aktuelle Biografie, keine neue Werkanalyse, von einer neuen Einordnung in die deutsche Literaturgeschichte ganz zu schweigen - es blieb ganz einfach still. Eich regt in den Wortwissenschaften nicht mehr wirklich an und auf - einzig die ARD-Kulturradios widmeten sich zum Geburtstag ausgiebig dem Hörspieldichter mit einem ganzen, deutschlandweit ausgestrahlten Günter-Eich-Abend. Die Kräfteverhältnisse zwischen Radio, Buchkultur und Literaturwissenschaft scheinen sich verändert zu haben.

Umso auffälliger ist der schmale, gerade mal dreißigseitige Band "Wie lebt man ohne Verzweiflung? Über Günter Eichs Lyrik", den Dorothea Bänsch bereits 2004 als Privatdruck herausgegeben hat - und der bisher eher im Stillen rezipiert wird. Dieter Bänsch (1925-1995), seit 1972 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Philipps-Universität Marburg, hatte den Aufsatz Mitte der 1990er-Jahre für einen Suhrkamp-Materialienband über Günter Eich geschrieben. Das Projekt scheiterte, Bänsch starb kurz nach Vollendung des Beitrags - und der Aufsatz war lange wenigen nur als Manuskript zugänglich. Denn Bänsch interpretiert den seit 1991 in einer revidierten Gesamtausgabe erstmals umfassend präsenten Eich nicht mehr in den tradierten literaturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten. Das Lob etwa, Eich "habe sich an die Spitze der Moderne gesetzt, sei zum Avantgardisten geworden", ist für Bänsch zwar "kein Phrasendrusch", aber doch "blässlich literaturhistorisch".

"Blässlich literaturhistorisch"? Bei kaum einem bundesdeutschen Autor scheinen die Differenzen zwischen Werk und Wahrnehmung, Lyrik und Rezeption so eklatant zu sein wie bei Eich. Und so erscheint er in der Sekundärliteratur vor allem als ein moderner Stil- und Genrehopper: mal ist er Neuromantiker, dann Naturlyriker, Mystiker, Gesellschaftskritiker, Avantgardist und dann mit zunehmendem Alter - für viele einfach nur noch unverständlich. Eich bleibt ein Rätsel: Er schrieb Lyrik - und ließ es irgendwann wieder sein, er schrieb Hörspiele - und verlor rasch wieder die Lust daran, er wurde spätestens in den 1950er-Jahren zu populären Autor, er erhielt Literaturpreise und Auszeichnungen, wurde zum "neuen deutschen Vorzeigedichter" - und zog sich mehr und mehr zurück. Horst Ohde schrieb von "einer bemerkenswerten Weise von Gleich- und Ungleichzeitigkeit". Doch auch als Eich schon vielfach als unverständlich galt, blieben die Verehrer. Wilhelm Genazino hat es 1989 in seinem Erzählband "Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz" eindringlich festgehalten: "Ich war schon mit dem Finger auf der Taste, da meldete der Sprecher, dass der Dichter Günter Eich gestorben sei. Wenig später, auf der Straße, als mir das Bild von Günter Eich mit dem harten runden Kopf und dem weißen Stoppelbart zum letzten Mal als legendes Bild in den Kopf schoss, spürte ich den bekannten Druck hinter den Augen, der der Tränenbildung vorausgeht".

Bänsch analysiert in seinem knappen Aufsatz nicht ausführlich Eichs Lyrik, sondern nähert sich ihr an, indem er sie zunächst in neue Zusammenhänge stellt. Eichs Naturlyrik wäre ohne Oskar Loerke, Rainer Maria Rilke oder Wilhelm Lehmann nicht denkbar, und doch ähnelt Eich in seinen frühen Gedichten überraschenderweise auch Gottfried Benn oder Bertolt Brecht - man lebte schließlich in einer Zeit. Seine vermeintlich kitschigen Gedichte aus den Jahren nach 1933 verändern ihr Antlitz, werden sie mit der Heimatkunst der Jahre, zeitgenössischen Autoren wie Karl Heinrich Waggerl, Max Mell oder sogar Bertolt Brecht oder Peter Huchel verglichen. Bänsch wendet sich gegen einfache, monokausale Zuschreibungen. "Die Literaturgeschichte ist bunter als die Abfolge ihrer akademischen Ordnungsbegriffe". Eichs frühe Romantik etwa sei weder "Regressionsmode" noch "Eskapismus", sondern lyrischer "Ausdruck der Krise von Individuum und Individualismus am Ende der Weimarer Republik".

Die naturromantischen Lyrikformen sollten bei Eich nicht lange dominieren - und spätestens nach dem formprägenden Schock des Zweiten Weltkrieges setzte Eich auf das Konkrete. Sein Nachkriegsruhm gründete zunächst auf den "Gefangenschaftsgedichten" "Inventur" und "Latrine", gerade letzteres übertraf "alle Versuche anderer Autoren, die Katastrophe des Dritten Reiches zu poetisieren". Doch weder das Konkrete, noch das Religiöse oder die Gegenwart der 1950er- und 1960er-Jahre konnten Eich auf Dauer fesseln. Eichs Poesie - und Bänsch arbeitet das mit großer Klarheit heraus - war "in ihrem höchsten Sinn begriffslos betrachtende Versenkung", "Übersetzten aus der unsichtbaren, eigentlichen Sprache", "Meditation", die auch vom Leser Meditation erforderte. Meditation statt Interpretation.

Ende der 1970er Jahre - die Studentenbewegung hatte gerade seine Worte vom "Sand im Getriebe" als Slogan entdeckt - hörte Eich auf, Lyrik zu schreiben, die aufgelösten Reime verdichteten sich zu Prosa, zu "Maulwürfen" - und bis zur Schreibverweigerung war es manchmal nur noch ein kleiner Schritt. Die Lyrik wurde "überflüssig, unnütz, wirkungslos - auch sterben müssen Gedichte". Allenthalben ist Trauer dabei. Geschrieben aber hat Eich weiterhin. Und noch zuletzt hat er einen Block und einen Bleistift verlangt - und drei komplizierte chinesische Zeichen auf das Blatt geschrieben.

Wo also liegen Eichs besondere lyrische Qualitäten? Bänsch - einst selbst (wie der Rückentext erläutert) in Kriegsgefangenschaft und so Eich auf spezifische Weise verbunden - sieht sie nochmals in der Wirkung der Nachkriegsgedichte um Latrinen, Urin und Hölderlin. "Eine ganze Generation aus dem Krieg Zurückgekommener hat sich in seinen Gedichten wiedererkennen können". Bänsch belässt es nicht bei den persönlichen und kollektiven ,Berührungen' - die Zeiten sind schließlich vorbei. Aber auch literaturhistorische Kriterien erfassen Eichs "individuelle Moderne äußerster Dichte" offenbar nur unzureichend, er entzieht sich auch dem literaturhistorischen Zugriff immer wieder erfolgreich. Es ist die "auffällige Ungeschütztheit", die Eichs Lyrik ermöglicht, prägt und so einzigartig macht - und die gerade zu Verfahren des "Streichens, Aussparens, Komprimierens" führt. Die Einbeziehung von "Ungesagtem als kompositorisches Element" wird für Eichs Ästhetik konstitutiv - und manchmal entsteht daraus im Spätwerk - welch eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft - "eine ganze Aura des Schweigens". Bänsch selbst hat sie tief und faszinierend in seine kleine, irritierend-anregende literaturwissenschaftliche Meditation eingearbeitet.


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Dieter Bänsch: Wie lebt man ohne Verzweiflung? Über Günther Eichs Lyrik.
Herausgegeben von Dorothea Bänsch.
Privatdruck, Marburg 2004.
31 Seiten,

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