4:0 für Schottland

Dieter Kühns Agententhriller über Christopher Marlowe

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits vor zwei Jahren ritt der blutige Dramatiker, Geheimdienstler und Skeptiker Christopher Marlowe (1564-1593) sehr lebendig und schwungvoll durch die Seiten eines schön bösen Büchleins, prügelte sich, taumelte durch Katakomben und Antiquariate, hurte, warf mit wildem Witz Bonmots um sich und verreckte mit dem Dolch im Auge. Louise Welsh präsentierte in "Tamburlaine muss sterben" ein gekonntes Stückchen Anverwandlung, und es machte auch in der Übersetzung einen Heidenspaß, dem berüchtigten Shakespeare-Vorgänger zu begegnen. Souverän, konzentriert und gekonnt inszenierte die schottische Autorin das spektakuläre Sterben des mächtigen Marlowe: mit tollem Sprachschwung, großer Geste, Mut zu theatralischer Drastik.

Jetzt erscheint - wie eine deutsche Antwort -Dieter Kühns Thriller "Geheimagent Marlowe". Der Meister historischer Konstruktionen und Rekonstruktionen widmet sich auf gut 250 Seiten ebenfalls dem Lebensende Marlowes. Kein Wunder, weiß man doch über dessen Biografie wenig. Selbst der Tod in der Schenke, der Dolch im Auge, seine Tätigkeit als Agent - sehr dürre, geheimnisvolle Fakten.

Der Künstler als Verbrecher, noch dazu in der legendären Zeit Shakespeares und Elisabeths I., das reizt nicht nur die bürgerlichen Leser, er reizt erst recht die Künstler. Es scheint so, als sei das Leben eines berühmten mörderischen Kollegen, ob er nun Gesualdo, Caravaggio oder eben Marlowe heißt, schon die halbe Miete. Natürlich ist das ein Irrtum. Gerade die extreme Qualität dieser Genies und ihr ungewöhnliches Leben bedeuten eine außergewöhnliche künstlerische Herausforderung.

Dieter Kühn hat die Idee, Marlowes letzte Monate aus Geheimdienst-Akten lebendig werden zu lassen. Ein Verhörprotokoll steht am Beginn. Der Dramatiker ist des Mordes angeklagt und wird bei dieser Gelegenheit zur Mitarbeit im Secret Service erpresst. Man schickt ihn als Spion nach Paris. Es schließen sich weitere Protokolle an, Zusatzprotokolle, Beurteilungen des Neuen, Briefe Marlowes und seiner Führungsoffiziere, unterdrückte Akten, gegenseitige Gutachten der Agenten, wieder Briefe, Verhörwiedergaben. In Paris wird Marlowe nach kurzer Zeit von der Gegenseite ebenfalls unter Druck gesetzt und zum Doppelagenten. Zurück in London, verhaftet man ihn als Verräter. Der englische Geheimdienst verhört ihn wieder, lässt ihn schließlich fallen und ermorden. Auch das erfährt man aus Protokollen und Akten, die in Geheimfächern auftauchen und von Dieter Kühn mitgeteilt werden, der sich selbst ins historische Spiel mischt - mit dem Tarnnamen "Writer".

Originell ist Kühns Idee, moderne Geheimdienstmethoden ins 16. Jahrhundert zu übertragen, und dankbar erwähnt er eingangs, ein Ex-BND-Direktor habe ihm bei der Arbeit geholfen. Auf diese Idee hätte man selbst kommen können, so unbeholfen ist der Roman ausgefallen.

Das Buch kommt in 60 Kapiteln daher, die "Handlung" wird von allerlei unterschiedlichen Geheimdienstlern dargeboten. Ihre Protokolle sind erstaunlich genau - und gleichzeitig schrecklich langatmig. Schlimm wie Stasi-Lyrik ist, was die elisabethanischen Secret-Service-Mitarbeiter Kühns an kitschig-pathetischen Passagen und privaten Obsessionen in die Akten aufnehmen. Schlimmer noch, die Figuren reden Papier. Am schlimmsten aber, Marlowe redet es auch und überhaupt äußerst dürftig. Der König der gewaltigen Rhetorik quatscht in Umgangssprache dieser Art: "Was Sie da verzapfen, ist doch aus den Fingern gesogen! Wenn ich fluche, dann fluche ich auf heimische Art. Da horchen Sie mal bei Ballymote Castle rein - da wackeln aber die Wände."

Wenn er sich zu höherem Stil aufschwingt, sind schlichtester Wortwitz und die Figur der Wiederholung bereits Höhepunkte seiner Sprachkunst. Wie bei seinen Vorgesetzten überwiegt ein unerfreulich umständliches Gerede, in das dann noch hie und da - wie in schlecht synchronisierten Filmen der 50er-Jahre - englische Sätze eingefügt werden. Inkonsequent und bemüht ist obendrein die Weitergabe von Informationen an den Leser. Oft erzählen die Figuren etwas offensichtlich nur, damit es der Leser erfährt. Selbst die Beschreibungen von Pest-London und dem Moloch Paris erheben sich nur knapp über Klischeeniveau.

Von einem "großen literarischen Spaß, einer überaus spannenden Story", wie sie der Klappentext verspricht, ist hier keine Spur - stattdessen Pappkulissen, Pappkameraden, pappdröge Sprache. Ergebnis des Marlowe-Spiels Schottland - Deutschland: 4:0.


Titelbild

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe. Roman eines Mordes.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783100415103

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