Ein glücklicher Tod

Euthanasie im Altenghetto: Björn Kerns "Die Erlöser AG" treibt die Debatte um Sterbehilfe auf die Spitze

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"PUBLIKUMSPREIS" steht in fetten, roten Lettern auf Björn Kerns Autorenhomepage. Darunter steht "Herzlichen Dank an die 3sat-Zuschauer!", noch darunter schließlich: "Nur 20 Stimmen fehlten zum Publikumspreis!". Soll heißen: Björn Kern, ein junger und sehr hübscher Schriftsteller aus Lörrach (Baden), war 2007 zum Wettlesen um den Bachmannpreis in Klagenfurt eingeladen. Er präsentierte Passagen aus seinem neuen Roman "Die Erlöser AG". Doch statt über Kerns Text zu sprechen, zankte sich die Jury in der anschließenden Kritikrunde um den Popsänger PeterLicht und dessen Auftritt vom Vortag. Am Ende ging Björn Kern leer aus. Der Publikumspreis ging an PeterLicht. Der 3sat-Preis auch. "Eine der wenigen Fehlleistungen der Jury", nannte der "Focus" Kerns Scheitern. Kern schrieb - wieder auf seiner Autorenhomepage - vom "Eklat von Klagenfurt". Mittlerweile hat er ihn wieder rausgelöscht, diesen "Eklat"-Satz. Nur den beinahe-"PUBLIKUMSPREIS", den hat er stehen lassen.

Geboren 1978, veröffentlichte Björn Kern bereits mit 23 seinen Debütroman "KIPPpunkt". Nachdem er selbst Zivildienst in einer Psychiatrie in Südfrankreich geleistet hatte, schrieb der Autor über einen Zivildienstleistenden in einem Altenheim in der Provence. Der Roman überzeugte in einigen Passagen mit klaren, unaufgeregten Blicken auf das Alter und den Tod. Der Rest von "KIPPpunkt" indes war schlimmster Pubertätsrotz: Hochsymbolische Raben lagen halbtot auf staubigen Landstraßen oder fielen in Putzeimer voller ebenso hochsymbolischer Salzsäure. Der grüblerische Protagonist wälzte sich mit einer - in schlechten Jungromanen leider obligatorischen - lakonischen Beinahe-Freundin durch schwitzige Laken und überladene Sexszenen ("Die Provence ist unser kleines Tal!"). Dann sprengte er (Traumsequenz!) das Werk von Daimler-Chrysler in die Luft. Und ganz zum Schluss - Achtung, Motivik! - schleuderte er schließlich der ganzen ungerechten Welt ein großes rotes STOP-Schild entgegen. Uff.

Erst vier Jahre später, 2005, erschien Kerns zweiter Roman "Einmal noch Marseille". Wieder ging es um Krankheit und Tod: Ein junger Mann begleitet seine Mutter, die an einer unaufhaltsamen Lähmung (amytrophe Lateralsklerose?) zugrunde geht. Dieses Mal verzichtete Kern auf schwülstige Motivik, pennälerhafte Gesellschaftskritik - ja, sogar regelrecht aufs Erzählen an sich, denn sprachlich geschah auf den kaum 120 Seiten nichts. Extrem unaufgeregt beschrieben und eben deshalb extrem plastisch und kühl und nah und tief, war "Einmal noch Marseille" einer der aufregendsten (nicht nur: deutschen, nicht nur: jungen, nicht nur: Familien-) Romane der letzten Jahre.

Und jetzt also "Die Erlöser AG". Wieder Alter, wieder Tod. Aber wieder aus einer ganz anderen, neuen Richtung erzählt: Als satirische Dystopie, angesiedelt dort, wo alle großen Dystopien spielen. In der not-too-distant future, in jenem Jahr, "in dem erstmals mehr Neunzigjährige die Bundesrepublik bevölkerten als Zwanzigjährige, in dem erstmals mehr Greise gefüttert würden als Babys gesäugt, in dem erstmals mehr als eine halbe Million Hundertjährige der Pflege bedürfen." 2030 also, höchstens 2050. Die Wirtschaft liegt am Boden, Berlin ist wieder zweigeteilt, der Westteil ist ein abgeschottetes Alten-Ghetto, drumherum Totenstille. Dann wird Paragraph 217 abgeschafft: "Tötung auf Verlangen" bleibt fortan straffrei.

Lebemensch Hendrik Miller, Chefarzt an der Charité und Leiter der Ärzte-Ethik-Kommission, gründet die erste Agentur für aktive Sterbehilfe. Unterstützt wird er von Paul Kungebein, einem nervösen Edeljournalisten, der nebenher seinen dementen Vater Victor pflegt. Über ein Jahr hinweg schildert Kern, wie sich die Sterbehilfe-Agentur vom Kuriosum zum gesellschaftsfähigen Branchenführer mausert. Und wie Miller, Kungebein und die Menschen um sie herum - die alkoholkranke Oberschwester Diana, der Krankenwagenfahrer Benno, eine ganze Riege relativ komplex charakterisierter Alter und Kranker - Leben, Sterben und Ethik neu austarieren müssen.

Nach dem Pathos von "KIPPpunkt" und dem kühlen, journalistischen Tonfall von "Einmal noch Marseilles" versucht sich Kern in "Die Erlöser AG" an einem bissigen, furios launischen auktorialen Erzählton, der die Misere ohne Mitleid durchleuchtet. Ein Strauß dunkler, überspitzter Bilder, bekannt aus US-Prestigeserien wie "Six Feet Under" und "Nip/Tuck": "Seit es kaum noch Jugendliche gab, gab es auch kein Musikfernsehen mehr. [...] Ruf! Mich! An! Eine Achtzigjährige präsentierte ihre Oberweite, dann erschien Werbung für Gehhilfen und Treppenlifte, [...] man konnte Nackenkissen erwerben und Erinnerungssets für Alzheimer im Alltag."

Manchmal ist das nah am Klischee. Manchmal nah am Klamauk. Oft ein Griff ins Klo. Etwa, wenn sich Hendrik Miller eine Szene aus "Eyes Wide Shut" ins Gedächtnis ruft: "Er erinnerte sich sogar an die Namen der Darsteller, Tim Cross und Nickie Kadmin, zwei längst vergessene Schauspieler, die im vergangenen Jahrtausend einige Erfolge gefeiert hatten und letztmalig durch ihren Doppelselbstmord in die Schlagzeilen geraten waren, die beiden, hieß es, hatten ihre Visage und ihre Vergesslichkeit nicht mehr ertragen."

In Klagenfurt las Kern die (ernsteren) Kapitel um den Freitod der Alzheimerpatientin Elsa Brandström: Kleine, verhuschte Szenen aus der Privatwelt einer 97-jährigen. Am Ende, nach der tödlichen Injektion, steigert sich der Text zur Stream-of-Consciousness-Agonie: "Elsa wollte keine Windeln tragen, jetzt zum Abschied, sie wollte Kinder streicheln, notfalls auch fremde, und ihre Mutter sehen, in Schlesien, nach achtzig Jahren war das auch an der Zeit, Elsa würgte, nur kam nichts, sie war leer."

Von Kritikerkneifzange Ursula März wurde Kern in Klagenfurt für solche sentimentalen Passagen kräftig abgewatscht, wegen der "Falschheit der Perspektive". Kerns Antwort: "Von Erzählperspektive habe ich keine Ahnung, von alten Menschen aber sehr viel - die sind tatsächlich so." Trotzdem schlecht: Denn Kerns Stimme ist nicht nur ahnungslos, sondern auch viel zu unentschieden. In den entscheidenden Momenten werden Paul, Hendrick oder Diana zu bloßen Statthaltern im Euthanasiediskurs. Und halbwegs spannend bleiben ihre Sprechblasendialoge nur ob des brisanten Themas.

Fabulieren, Dichten und Erzählen, damit müht sich Björn Kern auch in seinem dritten Roman noch ab. Seine eigentliche Kunst indes, das kühle Beschreiben und Dokumentieren, bleibt auf der Strecke. "Die Erlöser AG" erinnert - unschön - an das im Frühling 2007 ausgestrahlte ZDF-Fernsehspiel "Aufstand der Alten": billige Produktionswerte, einige böse Regiefehler und ein Genre - "Doku-Fiction" - das die Erdung guter Dokumentationen mit Füßen tritt, doch zugleich nicht halten kann, was der Begriff "Fiction" verspricht: Mut, Farbigkeit, Wahnwitz.

Björn Kern hat die Verve und die echte, dringliche Leidenschaft, zum großen Chronisten einer überalternden Gesellschaft zu werden, das Kranke und Hässliche in aller Komplexität aus immer neuen Richtungen zu beleuchten. Doch die mühevolle Beschreibung kann die erzählerischen Schwächen in der "Erlöser AG" nicht kaschieren. Publikumspreise hat Kern damit bestimmt nicht verdient. Allenfalls ein paar kleine Sympathiesternchen.


Titelbild

Björn Kern: Die Erlöser AG.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
269 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783406563744

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