Politische Imaginationen und ihre Realitäten

Albrecht Koschorkes Studie zur Semantik des politischen Körpers in der Geschichte Europas

Von Meike SteigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Meike Steiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieso neigen die ostelbischen Junker zum Konservatismus? Oder allgemeiner: Wie hängen Ideen mit unserem gesellschaftlichen Status zusammen? Diese Fragen haben bereits den Wissenssoziologen Karl Mannheim zu Beginn des letzten Jahrhunderts umgetrieben. Dass Gutsbesitzer aufgrund ihrer Bindung an Grund und Boden einen Hang zu tiefgehenden ontologischen Gedanken haben, die Ideen einer Gruppe also von ihrer Lebenswelt abhängen, war im beginnenden 20. Jahrhundert eine Provokation. Ging man doch im Land der Dichter und Denker davon aus, dass die Gedanken frei und eben auch unabhängig von den Bindungen der Denkenden seien. Heute wird den Ideen mit dem seit Jahren virulenten Begriff der 'Performanz' durch die Kulturwissenschaften wieder eine neue Potenz zugeschrieben. Ihre alte Dignität, frei und wahr zu sein, haben sie verloren, dafür aber die Kraft gewonnen, mehr als bloße Idee zu sein. Ideen, die unabhängig von Personen Semantiken heißen, schaffen Wirklichkeit. Damit überbieten sie die ebenfalls altgewordene Ideologie, die auch nur ein verzerrter Spiegel der Realität war.

Diesem Ansatz folgt eine Forschergruppe am Zentrum für Literaturforschung Berlin um den Literaturwissenschaftler und Leibniz-Preisträger Albrecht Koschorke mit ihrer Studie zur politischen Körperschaftsmetaphorik: Sie hat sich vorgenommen zu zeigen, wie "ein Gemeinwesen sein Selbstbild in institutionelle Strukturen umsetzt", wie also "die Wirklichkeit das auf sie angewandte Bild" nachahmt. Den Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas wird in der historischen Kernzeit der neuzeitlichen Staatenbildung von der Hinrichtung Karls I. von England 1649 über die Französische Revolution bis hin zur Deklaration des Staates als juristischer Person im Jahr 1837 durch den Göttinger Juristen Wilhelm Eduard Albrecht nachgegangen. Voraus gehen dem Hauptteil Überblicke zur politischen Körpermetaphorik in der Antike bei Livius, zur Leib-Christi-Lehre und zum juristischen Korporationsdenken im Mittelalter.

Der "Körper des Souveräns" steht seit Thomas Hobbes im Zentrum der Ikonografie und Theorie des Absolutismus. Die Gewalt der einzelnen Untertanen geht auf im mächtigen Körper des Souveräns, dies zeigt bereits das berühmte Titelkupfer zum "Leviathan". Dass der historische Absolutismus keineswegs so mächtig war, wie es Hobbes imaginiert hat, dass der Epochenbegriff des Absolutismus als "historiographische Fiktion" des 19. und 20. Jahrhunderts anzusehen ist, scheint sich als Ansicht der Geschichtswissenschaften durchzusetzen. Wegweisend hat bereits in den 1960er-Jahren der Historiker Gerhard Oestreich herausgestellt, dass die zentralstaatliche Kontrolle des sogenannten Absolutismus weithin überschätzt worden ist, denn aus gewohnheitsrechtlichen, materiellen und logistischen Gründen sei man gar nicht in der Lage gewesen, die existierenden Zwischengewalten zu kontrollieren. Koschorke macht plausibel, wie Hobbes' Theorie des Absolutismus als Reaktion auf die bestehende Desintegration der Macht zu lesen ist. Während in der Realhistorie zahlreiche intermediäre Gewalten zwischen Herrscher und Beherrschten vermittelten, wird mit den Vertragstheorien eine Unmittelbarkeit im Verhältnis der beiden konstruiert, die so nicht existierte. Wenn Koschorke allerdings von einer "Tilgung von realhistorischen Gegebenheiten" durch Hobbes' Theorie spricht, so lässt sich dies doch wohl nur metaphorisch verstehen. Hier richtet sich die Wirklichkeit des Absolutismus eben gerade nicht nach dem Bild, das deren Haupttheoretiker von ihr errichtet. Sicher wirken hier Semantiken auf die Gesellschaftsstruktur ein, jedoch mit mäßigem Erfolg.

Das Haupt des französischen Absolutismus fällt faktisch 1793 mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. Flankiert wird dieses Ereignis von einer Symbolpolitik, die den Körper des Königs seiner Sakralität entkleidet. Übrig bleibt, wie die Studie in Anlehnung an Agamben formuliert, der "nackte Körper" des Königs. Bereits Edmund Burke hat als Zeitgenosse der Revolution erkannt, dass damit ein politisches Dilemma entsteht. Fehlt eine leibhafte und damit anschauliche Verkörperung des Staates, so bleibt zugleich die Identifikation der Untertanen aus - und gesellschaftliche Desintegration setzt ein. Als neue Aufgabe der republikanischen Staatsform sieht es die Literaturwissenschaftlerin Susanne Lüdemann daher an, dass neue "Darstellungs- und Identifikationsformen" zu entwickeln seien, die eine Integration der Bürger in die Republik leisten. Schillers Dramen inszenieren solche "kollektive Fiktionen", wobei Lüdemann einschränkend bemerkt, was der Autor im "Wilhelm Tell" darstelle, sei "freilich nicht die Wirklichkeit, sondern das Ideal der Revolution". Hier fällt die Studie gegenüber ihrem Anspruch zurück, die performative Dimension und somit die wirklichkeitsbildende Funktion von Semantiken aufzuweisen. Einem traditionellen Kunstbegriff folgend errichtet die Kunst Ideale, die Realitäten geraten aus dem Blick. Hans-Ulrich Wehler hat in seinen Studien zum deutschen Nationalismus überzeugend herausgestellt, dass die - zuerst von der Germanistik des 19. Jahrhunderts beschworene - deutsche Nationalliteratur und der von ihr errichtete "nationale Mythos" nicht, wie oft dargestellt, durch die Erzeugung eines umgreifenden Nationalgefühls die Befreiungskriege motiviert und schließlich zur Reichsgründung beigetragen haben. Winkler rekonstruiert den Zusammenhang zwischen Selbstbeschreibung und Gesellschaftsstruktur des deutschen Nationalstaats umgekehrt, auch zur vorliegenden Studie: Erst als 1871 die institutionellen Strukturen geschaffen sind, kommt dem politischen Imaginären die gleichwohl wichtige Aufgabe zu, die Menschen als Bürger in den neuen Staat zu integrieren.

Die damit aufgenommene Frage, wann und wieso politische Fiktionen historisch unverzichtbar werden, stellt die Studie von Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza nicht explizit dar, gibt aber darauf nebenbei verschiedene Antworten. Tritt das politische Imaginäre während der Säkularisierung an die Stelle Gottes? Wird es notwendig, wenn im Zuge neuzeitlicher Staatsgründungen große Territorialstaaten entstehen? Ist es allgemein in der Phase der Staatsbildung relevant? Oder bedarf jede historische Zeit und jede politische Konstellation lediglich verschiedener Gestalt der Fiktionen? Insgesamt also eine historisch weit gespannte, material- und thesenreiche Studie zu Imaginationen und Realitäten des politischen Körpers in der Geschichte Europas, die aber ihr hochgestecktes (methodisches) Ziel, die performative, also wirklichkeitsschaffende Kraft von Semantiken aufzuweisen, nicht immer erreicht.


Titelbild

Albrecht Koschorke / Susanne Lüdemann / Thomas Frank / Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
414 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783596171477

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