Das Schweigen im Flachs
Julia Francks Roman „Die Mittagsfrau“
Von André Schwarz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Mittagsfrau, so besagt eine sorbische Legende, erscheint an den sommerlichen Erntetagen den Menschen, die zur Mittagszeit arbeiten. Sie bringt diese um den Verstand und schneidet ihnen mit einer Sichel den Kopf ab. Retten kann man sich nur, wenn man ihr eine Stunde lang von der Verarbeitung des Flachses erzählt, dann verliert sie ihre Macht: Die Sprache als Garant für das Überleben, das Sprechen als Sinnbild für Lebendigkeit. Helene hingegen, die Protagonistin in Julia Francks neuestem, für den Deutschen Buchpreis 2007 nominierten Roman „Die Mittagsfrau“, zieht sich im Verlauf der Geschichte immer weiter in die Sprachlosigkeit zurück, mit jedem Scheitern verstummt sie ein wenig mehr.
Umso beredter ist die Story: Helene wächst mit ihrer älteren Schwester Martha in der Lausitz auf. Der Vater stirbt, kurz nachdem er schwer verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt ist, die Mutter driftet in den Wahnsinn ab, und die familieneigene Druckerei muss schließen. Die beiden Schwestern ziehen nach Berlin. Helenes Geliebter wird bei einem Unfall getötet, Martha wird morphiumabhängig. Helene heiratet einen Nazi, der sie verlässt und sie mit einem Kind sitzen lässt. Den Jungen wiederum lässt sie bei der Flucht gen Westen auf einem Bahnhof zurück.
Das klingt etwas überfrachtet? Ist es leider auch, weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen. Julia Franck ist eine begnadete Erzählerin, aber sie wirkt hier wie eine Musterschülerin, die nicht genau weiß, wann man auch mal Lücken lassen muss. Zudem schlittert sie an manchen Stellen haarscharf am Klischee vorbei. Manche Handlungsstränge geraten ihr zu ausufernd, das Personal zu blass. Deutlich wird dies vor allem in den ersten Berlin-Kapiteln, in denen so ziemlich jede Erwartung an das Bohème-Lebens der 1920er-Jahre auch prompt erfüllt wird: Geld wird zum Fenster hinaus geworfen, Kokain und Morphium quellen aus den silbernen Döschen, sexuelle Ausschweifungen allerorten – ein mustergültiger Tanz in die Apokalypse, doch ohne bleibenden Eindruck.
Doch das macht aus „Die Mittagsfrau“ noch lange keinen schlechten Roman. Ihre Klasse zeigt die Autorin eher im Verborgenen, hinter den opulenten Bildern sind es die leisen Momente, die kleinen Beobachtungen, die den Charme des Buches ausmachen. Die verschrobene Beschreibung der Mutter und ihrer bizarren Sammelleidenschaft, die stillen Momente Helenes mit Martha, die aus der Sicht des Kindes erzählt werden, die Szenen mit Helenes kleinem Sohn Peter und dessen letzte Begegnung mit seiner Mutter – alle sind sie von einer atmosphärischen Dichte und sprachlichen Qualität, die man selten findet. Und wenn die Autorin einmal Leerstellen einbaut, dann atmet man auf. Nicht dass Julia Franck keine Dialoge schreiben kann, aber ihre besten Szenen sind – zumindest in der „Mittagsfrau“ und im Gegensatz zu ihrem vorherigen Roman „Lagerfeuer“ – interessanterweise diejenigen, in denen nichts gesagt wird.
Ihre Ehe mit dem tyrannischen, grobschlächtigen Nazi Wilhelm, der ihr zu einem Ariernachweis verholfen hat und glaubt, sie danach nach Belieben behandeln zu können, erträgt Helene schweigend. Immer mehr zieht sie sich ins Innenleben zurück, baut sich eine Mauer des Verstummens gegen die Umstände der Zeit. Und – auch das ist der schriftstellerischen Stärke von Julia Franck geschuldet – so dringt das Grauen der Deportationen und der Terror der Nazis nur ganz leise in den Roman ein, ohne jedoch an Bedrohlichkeit zu verlieren. Es ist nicht primär ein Ignorieren der Täter, das hier beschrieben wird, sondern eher ein Verstummen angesichts des Unvorstellbaren.
So holzschnittartig wie Wihelm gezeichnet wird, so sehr gewinnt Helene vor allem in diesen Szenen an Tiefe. Subtil und mit feinen, unaufdringlichen Details schafft Julia Franck mit ihr einen ebenso glaubwürdigen, sympathischen wie auch gebrochenen Charakter, der nicht frei von Widersprüchen ist. Und sie umschifft die größten Klippen der Gestaltung einer solchen Figur, denn Helene gerät so weder zu einer tragischen Rosamunde-Pilcher-Heroine noch einer stummen, aber aufopferungsvollen Mutter, die in ihrer Selbstlosigkeit Eva Herman die Glückstränen ins Auge treiben würde. Und ganz nebenbei beschreibt die Autorin die Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft, begleitet die sexuelle Emanzipation der Schwestern, das Dunkle in Helenes Wesen, ohne allzu aufdringlich zu werden. Eine Mutterfigur, die in der gegenwärtigen Literatur zumindest ungewöhnlich ist. Ebenso gelungen ist der Perspektivenwechsel, den sie im Prolog und Epilog vornimmt – werden diese doch aus der Sicht Peters erzählt. Diese Rahmenhandlung ist eindrucksvoll verdichtet und sicherlich das Highlight des Buches.
Was bleibt also? Eine der Hauptdarstellerinnen des deutschen Fräuleinwunder-Hypes in der Literatur wird erwachsen – so könnte man auch sagen. Denn Julia Franck ist es, mit Abstrichen, gelungen, sich vom Flüchtigen und Ungefähren ihrer Protagonisten in „Bauchlandung“ und „Liebediener“ weg weiterzuentwickeln. Bereits in ihrer DDR-BRD-Geschichte „Lagerfeuer“ hatte sie gezeigt, dass mit ihr weiterhin zu rechnen ist. Und mit der „Mittagsfrau“ geht sie ihren Weg unbeirrt weiter, nicht aber, ohne dabei das ein oder andere Mal zu straucheln. Ein wenig mehr von der verstörenden Nähe, die „Bauchlandung“ auszeichnete, hätte den eher sterilen Szenen gut getan, etwas mehr Schärfe den männlichen Protagonisten, etwas weniger Opulenz den Lausitz-Kapiteln. Ungeachtet dieser Schwächen ist es aber dennoch ein starker Roman einer beachtenswerten jungen Autorin – man kann auf jeden Fall gespannt sein, was Julia Franck als nächstes in Angriff nimmt.
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