Die Häutungen des Blechtrommlers

Zum 80. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Günter Grass ist nicht nur einer der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsschriftsteller. Er in mehr als fünf Jahrzehnten künstlerischer Tätigkeit auch immer ein streitbarer und umstrittener Zeitgenosse gewesen.

Noch im letzten Jahr schlugen die publizistischen Wellen hoch, als Grass vor der Veröffentlichung seines autobiografischen Romans "Beim Häuten der Zwiebel" seine SS-Mitgliedschaft nach jahrzehntelangem (Ver-)Schweigen gestanden hatte. Das Denkmal des aufrichtigen Radikaldemokraten damit hat zwar einige "moralische Risse" davon getragen, doch die Reputation des Schriftstellers Grass blieb davon unbeschadet. Dieses schonungslos offene und durchaus selbstkritische Buch liest sich wie eine erzählerische Häutung des "Blechtrommlers" Grass. In nüchterner, unpathetischer Erzählweise blickt Grass zurück: auf Kindheit und Jugend, in denen er mit Hilfe von Klebebildern erstmals mit der bildenden Kunst in Berührung kam, auf seine späteren Verfehlungen als Jugendlicher, der von den "Helden von Narvik" berauscht war, freiwillig der Waffen-SS beitrat und der sich die Frage stellte, ob der Wirrnis seiner Tagträume ein wenig Todessehnsucht beigemengt war.

Günter Grass hat es nicht immer leicht gehabt im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Der frühe Erfolg der "Blechtrommel" (1959) war mehr Fluch als Segen, über viele Jahre wurde sein international anerkannter Erstling als Vergleich herangezogen, um andere Werke zu "verreißen".

Es war zwar keine Versöhnung erster Klasse, aber seit der Nobelpreisverleihung vor acht Jahren geht das deutschsprachige Feuilleton wesentlich behutsamer mit Grass um. Der Respekt vor der bedeutendsten Auszeichnung der literarischen Welt hat zum Einlenken geführt - auch im Umgang mit dem unbequemen politischen Zeitgenossen Günter Grass.

"Ja, ich liebe meinen Beruf. Er verschafft mir Gesellschaft, die vielstimmig zu Wort kommt und möglichst wortgetreu ins Manuskript finden will. Am liebsten begegne ich meinen mir vor Jahren entlaufenen oder vom Leser enteigneten Büchern, wenn ich vor Zuhörern lese, was geschrieben und ausgedruckt zur Ruhe kam", erklärte Günter Grass im Dezember 1999 in seiner Nobelpreisrede.

Wohl kaum eine andere Romanfigur aus der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur hat so große Popularität erlangt wie Günter Grass' Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel". Der kleine Trommler, der aus Protest gegen seine Umwelt sein Wachstum vor Erreichen der 1-Meter-Grenze einstellte, der mit seinen spitzen Schreien selbst Glas zum Bersten brachte (die Verfilmung von Volker Schlöndorff mit David Bennent in der Hauptrolle war ebenfalls ein Meisterstück), dieser zwergwüchsige Rebell verkörpert auch ein wenig von Günter Grass' Geisteshaltung.

Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren und besuchte nach einer Steinmetzlehre als Meisterschüler die Düsseldorfer Kunstakademie. Viele seiner Bücher hat er später mit eindrucksvollen Radierungen und Aquarellen illustriert. 1956 debütierte er mit bescheidenem Erfolg mit dem Lyrikband "Die Vorzüge der Windhühner", ehe ihm 1958 auf der Tagung der Gruppe 47 mit einer Lesung aus der noch unvollendeten "Blechtrommel" der Durchbruch gelang. Mit der meisterlichen Novelle "Katz und Maus" (1961) und dem zweiten Roman "Hundejahre" (1963) erreichte Grass - gerade 36-jährig - schon früh seinen ersten literarischen Höhepunkt.

Schon zu dieser Zeit nutzte der Autor seine Popularität, um in das aktuelle Tagesgeschehen einzugreifen. In den 1960er-Jahren unterstützte er die SPD im Wahlkampf, er war einer der Initiatoren des Verbandes Deutscher Schriftsteller, Herausgeber der Zeitschrift "L '76" (später "L '80") und leidenschaftlicher Verfechter der Brandt'schen Ostpolitik.

Sein öffentliches Engagement hat ihm freilich mehr Feinde als Freunde beschert. So auch vor 15 Jahren, als sich der Skeptiker Grass auf der Buchmesse in Frankfurt zu Wort meldete und als Folge der (nach seinem Gusto) zu schnell vollzogenen deutschen Einheit eine "zweite, unbarmherzige Trennung" beklagte.

Vor allem konservativen Kreisen war Grass stets ein Dorn im Auge. Seine Bücher wurden oftmals nicht nach dem künstlerischen Wert, sondern nach der "Gesinnung" ihres Verfassers abgeurteilt. Wenn gleich Grass nur noch mit "Im Krebsgang" (2002) an den Glanz der frühen 1960er-Jahre heranreichte, wurden die späteren Werke (ausgenommen die wirklich misslungenen Bücher "Örtlich betäubt" und "Kopfgeburten") viel zu schlecht von der Kritik aufgenommen. Die Rezensionen gerieten nicht selten zum peinlichen Feuilletonisten-Wettstreit um die originellsten Verrisse. Der anscheinend so starke Autor, der in seinem Innern allerdings ein höchst sensibler Zeitgenosse ist, zog sich nach Erscheinen seines Romans "Die Rättin" (1987), später mit Matthias Habich und Sunnyi Melles verfilmt) und der anschließenden Verrisswelle nach Indien zurück. Nach seiner Rückkehr erschien der Band "Zunge zeigen".

Vor zwölf Jahren war Grass Opfer einer öffentlichen, unter dem literarischen Deckmantel getarnten Hetzkampagne geworden. Der 21. August 1995 ist ein Datum, das er so schnell nicht vergessen wird. Es war ein Montag, der in die Geschichte einging und ein denkbar schlechtes Licht auf den deutschen Journalismus und die Literaturkritik warf. Der "Spiegel" veröffentlichte Marcel Reich-Ranickis vernichtende Kritik des gerade erschienenen Grass-Romans "Ein weites Feld". Die Kritik war schon schlimm genug, da sie nicht literarisch, sondern ideologisch motiviert war, aber den Gipfel der Geschmacklosigkeit bot die "Spiegel"-Titelseite mit einer Fotomontage, die den Frankfurter Kritiker zeigte, wie er Grass' Buch zerriss. Das Lesepublikum ließ sich von der anschließenden Verrisswelle nicht beeindrucken - das "weite Feld" wurde zu einem Bestseller.

Dem gleichermaßen empfindsamen wie impulsiven Autor Grass mangelte es an Souveränität, denn er begab sich 1997 in seinem Band "Fundsachen für Nichtleser" auf ein ebenso fragwürdiges Niveau: "Meine Kritiker / wissen nicht, wie man das macht: / Zaubern auf weißem Papier. / Meister, dürfen wir / über die Schwelle treten? / Doch selbst als Lehrlinge taugen sie wenig / und bleiben traurig / ohne Begriff."

Günter Grass hat oftmals auf die Angriffe reagiert und verbale Giftpfeile aus dem Köcher gezogen, die so schrill klingen, wie einst die Schreie des zwergwüchsigen Trommlers Oskar Matzerath in der "Blechtrommel".

Seinen Lesern hat es Grass nie leicht gemacht, literarische Moden waren nie seine Sache, seine Bücher stellten sich meistens quer zum Zeitgeist und ragten wie erratische Blöcke aus dem Wust der Fast-Food-Literatur heraus. "Erst wenn wir aufgeben, den Stein am Fuß des Berges liegen lassen, wenn wir nicht mehr Sisyphus sein wollen, erst dann wären wir verloren", heißt es in der "Rättin". Also tragen wir den Stein zu Berge und stellen uns als Leser der Grass-Lektüre, die eben auch einer Sisyphusarbeit gleichkommt.

Die ersten Feiern zum runden Geburtstag hat der Nobelpreisträger bereits hinter sich. Vom 4. bis 6. Oktober weilte er in seiner Geburtsstadt Danzig, wohnte dort der Präsentation der polnischen Ausgabe von "Beim Häuten der Zwiebel" bei und besuchte die Premiere eines Theaterstücks, das aus Motiven der "Blechtrommel" entstanden ist.

Die große Geburtstagsgala findet am 20. Oktober in der Göttinger Lokhalle statt. Die Stadt, der Steidl Verlag und der NDR haben die Veranstaltung organisiert, zu der als Ehrengäste unter anderem David Bennent (Darsteller des Oskar Matzerath), Marius Müller-Westernhagen und der amerikanische Schriftsteller John Irving erwartet werden.